DIE HÄLFTE DER STADT. Ab 21.04.2017 auf DVD - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Kultur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 07.06.2017


DIE HÄLFTE DER STADT. Ab 21.04.2017 auf DVD
Sharon Adler

Anhand der Geschichte und den Fotografien des jüdischen Gemeindefotografen Chaim Berman rekonstruiert der Dokumentarfilm von Pawel Siczek die Geschichte des kleinen polnischen Städtchens Kozienice, in dem bis zum 2. Weltkrieg Polen, Juden und Deutsche gemeinsam lebten.




Die DVD erscheint mit einem ausführlichen Booklet mit Fotografien Chaim Bermans und Texten des Regisseurs zur Entstehung des Films.

"Die größte Herausforderung der Recherchen zu "Die Hälfte der Stadt" war das schwarze Loch, vor dem ich zu Beginn stand: von den Menschen, von denen ich erzählen wollte, gab es nicht mal ein Grab, einige von ihnen waren völlig unbekannt, sie waren abgetaucht im Sog des Vergessens – ihre Gesichter und Namen waren ausradiert." (Pawel Siczek)

Wie durch ein Wunder sind die Portraits aus Chaim Bermans Atelier als filigrane Glasnegative erhalten geblieben. Ein Dorfbewohner, Saturnin Mlastek, hatte diese im feuchten Keller vorgefunden und über Jahrzehnte auf seinem trockenen Dachboden gelagert.

Die Hinterlassenschaft Bermans besteht aus fast zehntausend Portraits auf Glasnegativen, die jahrzehntelang unentdeckt blieben. Sie zeigen Menschen aus seinem Alltag: Deutsche, Juden und Polen, im Frieden und in Kriegszeiten.

Diese Glasnegative sind der Ausgangspunkt des Films, der mit ihnen das Leben des Fotografen, seiner Familie, der Nachbarschaft und der Gesellschaft seiner Zeit zu rekonstruieren versucht. Neben den Kamerafahrten über die erhaltenen Fotografien und Close-Ups der Gesichter der Menschen ließ Regisseur Pawel Siczek vor allem durch die aufwendig gestalteten Animationssequenzen von Agnieszka Kruczek und Dorota Gorski diese verlorene Welt zumindest filmisch wieder lebendig werden.

Hinter jeder der brüchig gewordenen Fotografien steht eine Geschichte um das Leben vor der Auslöschung, und in ihrer zarten Brüchigkeit erzählen sie von der fragilen Kostbarkeit und Zerbrechlichkeit des Lebens.

"Die Gesichter auf diesen Portraits – ihre Lebendigkeit, die zu mir vorrückte, als würden diese Menschen im gleichen Moment und in der derselben Straße leben. (…) Denn diese Menschen erschienen mir so nah, so alltäglich, und gleichzeitig waren sie Wesen einer anderen, nahezu vergessenen Epoche: Bürger eines Polens, das heute unwahrscheinlich erscheint – als Kosmos unterschiedlicher Sprachen, Religionen und Lebensweisen, der über Jahrhunderte den Alltag von Polen bildete und heute so unendlich fern und unwiederbringlich vergangen scheint." (Pawel Siczek)

Um dieses Polen aufzuspüren, begab sich Pawel Siczek auf Recherchereise: Der Regisseur fand heraus, dass Chaim Berman in Kozienice ein Laientheater geleitet hatte, das Stücke wie den "Dibbuk" aufführte, dass Berman die Erzählungen von Izaak Leib Perez liebte. Er befragte die Bewohnerinnen und Bewohner nach ihren Erinnerungen, er begleitete einen jungen Fotografen und seine Freundin bei deren Motivsuche im heutigen Kozienice. Und er traf den Menschen, der Chaim Berman zuletzt gesehen hatte: die Tochter von Antoni Kaczor, der die Bermans im Krieg bei sich versteckte.

Chaim Berman, 1895 in Kozienice geboren, hatte vor dem Ausbruch des 2. Weltkriegs an eine friedliche Koexistenz von Polen, Juden und Deutschen geglaubt, er weigerte sich, Polen zu verlassen, weil er, wie so viele, darauf vertraut hatte, dass es eine friedliche Lösung geben würde.

"Chaim" heißt auf Hebräisch "Leben".

Chaim Berman wurde 1942 in Treblinka ermordet. Die Suchanfrage an Yad Vashem hatte Alexander Nadaner gestellt. Angia, die Schwester seines Vaters, war die Frau von Chaim. Auch sie wurde 1942 in Treblinka ermordet, ebenso die beiden gemeinsamen Söhne, Amos, geboren 1932, und Daniel, geboren 1934.
Alexander Nadaner überlebte das Ghetto und lebt heute als Juwelier in New York City.

Nun hat Pawel Siczek die Bruchstücke des Lebens von Chaim Berman und seiner Familie mosaikartig zusammengefügt.
Ihm und seiner akribischen filmischen Recherchearbeit ist es zu verdanken, dass diese Leben nicht in Vergessenheit geraten.

"Ich suchte die wenigen schriftlichen Dokumente zusammen: Tagebücher von Lehrern, Aufzeichnungen der überlebenden jüdischen Bürger, die Chronik des evangelischen Pfarrers, diverse Briefe, Dokumente von kirchlichen und staatlichen Stellen, lokal veröffentlichte Erinnerungen alter polnischer Einwohner, Arbeiten lokaler Historiker – ich durchforstete die regionalen Museen, Bibliotheken und Archive."

AVIVA-Tipp: In wunderschön, collagenartig komponierten Bildern und Animationen von Agnieszka Kruczek und Dorota Gorski erzählt "DIE HÄLFTE DER STADT" die Geschichte des Chaim Berman, dessen intensive Fotografien den Verlust um die Auslöschung jüdischen Lebens in Polen einmal mehr deutlich machen.

Zum Autor: Pawel Siczek wurde 1977 in Warschau geboren. Er verbrachte seine Kindheit und Jugend in Libyen und der Schweiz. Er studierte Dokumentarfilm und Fernsehpublizistik, Schwerpunkt Regie, an der Hochschule für Fernsehen und Film München und arbeitet heute als freier Autor und Regisseur.
Bisherige Dokumentarfilme (Auswahl): Die Hälfte der Stadt, 2015, 85 Minuten, Fußgängerzone, 2010, 59 Minuten, Bassiona Amorosa, 2008, 98 Minuten

DIE HÄLFTE DER STADT
Ein Film von Pawel Siczek
Deutschland 2015
Regie und Drehbuch: Pawel Siczek
Kamera: Daniel Samer
Montage: Ulrike Tortora
Production Design Animation: Agnieszka Kruczek und Dorota Gorski
Komponist: Roman Bunka
Produzentinnen: Nicole Leykauf und Grit Wißkirchen
Ausstattung/Extras:
Booklet mit Fotografien Bermans und Animationsskizzen sowie Texten zum Film
Sprachen: Audiodeskription, Polnisch. Untertitel: Deutsch, Deutsch für Hörgeschädigte
Laufzeit:86 min
Label: Real Fiction
Indigo-Bestell-Nr.:DV 136838
EAN:4015698009170
FSK: ab 12 Jahren
Preis: 17,90 €
DVD-Start: 21.04.2017

Welturaufführung 28.4.2015 im POLIN Museum, Warschau
Deutschlandpremiere 8. Mai 2015 Dok.Fest München

Mehr Infos und der Trailer unter:
www.realfictionfilme.de und auf www.facebook.com/diehaelftederstadt
DVD bestellen unter: www.goodmovies.de

Die Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW) zeichnete "Die Hälfte der Stadt" als besten Dokumentarfilm des Monats September 2015 ("Prädikat besonders wertvoll") aus.
Mehr Infos und die Jury-Begründung finden Sie unter:
www.fbw-filmbewertung.com

Mehr zur Recherche unter:
www.bosch-stiftung.de

Mehr Informationen und Literatur zu Chaim Berman unter:

Martin Urynowicz, "Chaim Berman´s Life and Death. From the History of Rescuing the Jews", in "Kto w takich czasach przechowuje Zydów?" Polacy niosacy pomoc ludnosci zydowskiej w okresie okupacji niemieckiej ("Who would keep the Jews in times like these?...Poles who saved the Jews under the German Occupation"), ed. Aleksandra Namyslo (Warsaw: IPN, 2009)


Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Luca Crippa und Maurizio Onnis - Wilhelm Brasse. Der Fotograf von Auschwitz
Die erste Biographie über das Leben des Fotografen und KZ-Häftlings Wilhelm Brasse, der gezwungen wurde, für den Erkennungsdienst der SS zu arbeiten. Seine an die 50.000 Fotos dokumentieren das Leben und Sterben in Auschwitz. (2015)

Aber das Leben geht weiter. Ein Dokumentarfilm von Karin Kaper und Dirk Szuszies. Ab 1. Dezember 2012 auf DVD
In der sensibel aufbereiteten Dokumentation wird das Thema "Flucht und Vertreibung" auf sehr persönliche Art anhand dreier Generationen von Frauen beleuchtet. Die Regisseurin setzt mit ihrem Film ein Zeichen der Annäherung an die deutsch-polnische Geschichte und sowohl individuelle als auch kollektive Schicksale. (2011)

Klassentreffen - Spotkanie Klasowe
Zehn Frauen, die heute in Israel, Österreich oder Polen leben, erzählen ihre Lebensgeschichten und erinnern sich an ihre polnische Heimatstadt Lodz. Sie berichten von ihrer Schulzeit, von jüdisch-deutsch-polnischen Identitäten und die Zeit der nationalsozialistischen Okkupation. (2010)

Chasia Bornstein-Bielicka - Mein Weg als Widerstandskämpferin
Die Autorin erzählt von ihrer Tätigkeit als jüdische Widerstandskämpferin in den Jahren 1941 bis 1945 im besetzten Polen, von der täglichen Lebensgefahr, in der sie schwebte, da sie als Polin getarnt auf der "arischen" Seite lebte, von ihrem selbstlosen Einsatz für die JüdInnen im Ghetto und schließlich von ihrer Arbeit als Verbindungsmädchen zu jüdischen PartisanInnen im Wald. (2009)

Quellen: FBW-Pressetext, Real Fiction, AVIVA-Berlin


Kultur

Beitrag vom 07.06.2017

Sharon Adler