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Beitrag vom 14.08.2013
Feuchtgebiete. David Wnendts Verfilmung des Bestsellers von Charlotte Roche. Kinostart: 22. August 2013
Judith Wolff
Die anvisierte Klobrille macht der "worst toilet in Scotland" aus "Trainspotting" Konkurrenz. Auch in der gleichnamigen Adaption von "Feuchtgebiete" lässt sich Helen genüsslich nieder, um sich..
... gewissenhaft auf dem Oval herumzureiben. Reine Forschungssache – deduktive Beweisführung gegen die geltenden Hygienekonventionen.
Auch ohne den 2008 veröffentlichten "Skandalroman" von Charlotte Roche gelesen zu haben, wird fast jedeR eine Erwartungshaltung an die nun auf der Leinwand zu sehende Verfilmung haben. Zu allgegenwärtig war die aufgeladene Diskussion um das Debüt der Moderatorin und Autorin, das als erstes deutschsprachiges Buch wochenlang die internationalen Verkaufsliste von "Amazon" anführte und sich in Deutschland über 2,5 Millionen mal verkaufte. Billige Provokation, geschicktes Aufspüren moderner Tabus oder großer feministischer Wurf? "Feuchtgebiete" war und ist ein Phänomen, das nun nicht nur filmisch, sondern auch mit der Auflage zum Film des Dumont Buchverlags ein Revival erfährt.
"Hobbys: Ficken und Avocadobäume züchten"
Bald schon ist es vorbei mit Helens Feldforschung – zumindest wird sie örtlich eingeschränkt: durch zu hastiges Rasieren zieht sich die von Carla Juri wundervoll gespielte Achtzehnjährige eine mehr als unangenehme Analfissur zu, die sie zu einer Operation und zu einem anschließenden Krankenhausaufenthalt zwingt. Aus dem Krankenbett heraus führt Helen die ZuschauerInnen in ihr Leben ein, das neben experimentellem Ausleben sexueller Phantasien, dem Erforschen der Körperlichkeit und dem Züchten einer eigenen kleinen Avocadobaumfamilie vor allem durch den Wunsch nach einer echten intakten Familie bestimmt ist.
Kampf um eine heile Welt
Dabei taucht der Film immer tiefer in die Kindheit und den familiären Hintergrund der Protagonistin ab: zu der Trennung ihrer Eltern, ihrer von Depressionen geplagten, suizidalen Mutter und zu Helens Vater, der indes ein ausgelassenes Leben mit einer deutlich jüngeren Freundin führt. Hinter der vordergründigen Geschichte über Körpersekrete, Helens inniger Beziehung zu diesen und ihrem sich entfaltenden Flirt mit dem Pfleger Robin (Christoph Letowski) wird so ein familiäres Drama sichtbar. Diesem möchte Helen ein "Happy End" verpassen: die Sorge um die gemeinsame Tochter soll die Eltern wiedervereinen. Auf diese Weise will Helen ihre zerbrochene Welt kitten und emotionale Anerkennung und Liebe erfahren auch wenn die Rückblicke deutlich machen, dass es nie eine "heile Welt" gab.
Im Zwiespalt
Der Film wirkt auf den ersten Blick poppig und vor allem lustig. Die Leichtigkeit wird nach und nach aber von den delirischen Ausflügen in Helens Erinnerung und ihre beklemmende Familiengeschichte gedämpft. Sowohl Filmmusik (Enis Rotthoff) als auch Kameraführung (Jakub Bejnarowicz) und Schnitt (Andreas Wodraschke) schaffen mit Tempiwechseln und multiplen Perspektiven immer wieder emotionale Momente, Stimmungswechsel und humorvolle Gegensätze. Zeitweilig gelingt es dem Film so, die ZuschauerInnen in das Geschehen zu ziehen, und doch gibt es Momente, in denen der Balanceakt, der Übergang zwischen Komik und Tragik, nicht gelingt.
Genitalien und Körpersäfte
Die Diskussion um Roches Roman erhob Geschlechtsorgane, Körperöffnungen und -ausscheidungen sowie allerlei sexuelle Praktiken zu (heimlichen) Hauptfiguren. Im Film werden nun diese Körperlichkeiten bebildert. Männliche wie weibliche Genitalien und jedes erdenkliche Körpersekret bei einer Jugendfreigabe ab sechzehn Jahren? Weniger wäre angesichts der Bedeutung des Sexuellen und Körperlichen in "Feuchtgebiete" nicht akzeptabel gewesen - mehr in einer für den Mainstream angelegten Produktion wahrscheinlich auch nicht. Das Gleichgewicht zwischen "Sex sells" und der Thematik "Sexualität" bleibt dabei erhalten. Der Film traut sich, mit Körperidealen und Normen des Zeigbaren zu spielen – auch wenn die blauen Flecken auf Helens Beinen, die in Großaufnahme zu sehenden Pickelchen, Härchen und Körperflüssigkeiten nicht an die Wucht der Buchvorlage herankommen. In dieser wurden bekanntlich Schönheitskonventionen bis über die Ekelgrenze hinaus auf den Boden der Tatsachen gebrachte.
Schwierige Annäherung an die Vorlage
Nun bleibt der erste Referenzpunkt einer Verfilmung ihre Vorlage - gerade wenn es sich dabei um einen Roman handelt, der so für Furore gesorgt hat. Roche, die selber weder am Drehbuch noch am Set mitwirkte, gibt sich in Interviews zufrieden mit dem Ergebnis, findet weder Klamauk noch Klischeehaftes. Die teils doch stark paraphrasierten Figuren wie Robins zickige, eifersüchtige Ex oder der halbgöttische Chefarzt, sowie das völlig im Dunklen bleibende Spiel mit religiöser Symbolik stoßen der Autorin demnach nicht auf.
Trotz der Absolution der Schöpferin Roche, drängen sich Fragen in Bezug auf die Adaption des Originals auf, die natürlich immer eine Interpretation erfordert. Diese Deutung ist im Film vor allem durch die Ausarbeitung der Person Helen und ihrer Familiengeschichte bestimmt. Hierdurch solle, so Regisseur und Produzent, dem angeblich unverfilmbaren Stoff ein menschliches Zentrum gegeben werden. Auf diese Weise werden Aspekte beleuchtet, die im Buch zwar angelegt aber nur angedeutet sind. So beispielsweise die Rolle der Mutter - nicht nur Helens Mutter, sondern auch das Muttersein und dessen Wirkung auf die eigene weibliche Identität grundsätzlich. Auch die Film-Helen hat sich trotz Kinderwunsch sterilisieren lassen, um die Kette der unglücklichen weiblichen Erstgeborenen in ihrer Familie zu durchbrechen. Diese Entscheidung und die zu ihr führenden Ereignisse prägen die entfaltete Dynamik stark.
Psychologisierung oder Identifikation?
Stand die Protagonistin in Roches Roman noch stellvertretend für jede Frau, die das Verhältnis zwischen sexuellen Trieben und gesellschaftlichen Normen – ja Tabus - ausloten muss, könnte die Rezeption des Filmes dahingehen, Helens ausgeprägten Drang zur (eigenen) Körperlichkeit auf ihren konfliktbelasteten Hintergrund abzuwälzen und ihr so eine Außenseiterinnenrolle zuzuschieben, die konträr zur Jederfrau steht.
Carla Juri antwortet auf die Frage nach der zentralen Botschaft von "Feuchtgebiete", es gehe darum, dass Andersartigkeit nicht "absichtlich" sei und dass "Rebellion aus der Not" komme. Was aber heißt hier anders sein? Ist es nicht gerade die Stärke von Roches Roman, aufzuzeigen, dass das, was als "anders", "abnormal" oder gar "pervers" gilt, fast jede Frau betrifft? Die Hauptfigur im Film wirkt oft wie eine gegen Regeln rebellierende Punkerin. Dabei kann leicht vergessen werden, dass "Feuchtgebiete" aufzeigte, dass wir wohl alle gegen die vielleicht nicht expliziten aber dadurch nicht weniger stark wirkenden Konventionen der Weiblichkeit verstoßen. Gerade dies war für viele LeserInnen das Befreiende und Zentrale des Romans.
AVIVA-Tipp: Anschauen und selber werten. Ob die Verfilmung einem gesellschaftlich wertvollen Beitrag zu (weiblicher) Sexualität und Körperlichkeit in eine "Coming of Age" - Geschichte wandelt oder die dramaturgischen Schwerpunkte den Zugang zu Helen und ihren Feuchtgebieten erleichtern, muss jedeR selbst entscheiden. Ein (Wieder-)Lesen des Romans bietet sich hierfür an.
Zum Regisseur: David Wnendt, 1977 geboren, wuchs in Islamabad, Miami, Brüssel und im Rheinland auf. Er studierte BWL und Publizistik in Berlin, arbeitete für Theater und Fernsehproduktionen als Beleuchter, Cutter, Regie- und Produktionsassistent und absolvierte ein Filmstudium in Prag. 2004 nahm er sein Regiestudium an der Hochschule für Film und Fernsehen "Konrad Wolf" in Potsdam-Babelsberg auf. Wnendt wurde 2006 für seinen Kurzfilm "California Dreams" auf dem Internationalen Kurzfilmfestival interfilm Berlin ausgezeichnet. Zuletzt realisierte der Regisseur seinen vielbeachteten und mehrfach ausgezeichneten Abschlussfilm "Kriegerin", für den er auch das Drehbuch schrieb.
Zur Hauptdarstellerin: Carla Juri, 1985 im Tessin geboren, erhielt nach Schweizer Auszeichnungen für ihre Leistungen in Haupt- und Nebenrollen ("180°", "Dällebach Kari") während der Berlinale 2013 den "European Shooting Star Award". Nun ist die viersprachige, in Los Angeles und London ausgebildete Schauspielerin erstmals als Hauptdarstellerin in einem deutschen Kinoproduktion zu sehen.
Feuchtgebiete
Deutschland 2013
Regie: David Wnendt
Produktion: Peter Rommel, Rommel Film in Koproduktion mit dem ZDF
DarstellerInnen: Carla Juri, Christoph Letkowski, Meret Becker, Axel Milberg, Marlen Kruse, Peri Baumeister, Edgar Selge, Harry Baer
Drehbuch: Claus Falkenberg David Wnendt nach dem Roman von Charlotte Roche
Kamera: Jakub Bejnarowicz
Szenenbild: Jenny Roesler
Kostümbild: Elke von Sivers
Maske: Monika Münnich, Johanna Hinsch
Ton: Paul Rischer
Musik: Enis Rotthoff
Schnitt: Andreas Wodraschke
Filmlänge: 109 Minuten
Verleih: Majestic
Kinostart: 22. August 2013
www.feuchtgebiete-film.de
Charlotte Roche
Feuchtgebiete. Filmausgabe mit Abbildungen und Interview
240 Seiten, Klappenbroschur
Dumont Buchverlag, erschienen 25.07.2013
12,00 Euro
ISBN 978-3-8321-9731-5
www.dumont-buchverlag.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Charlotte Roche - Feuchtgebiete
Kriegerin - ein Film von David Wnendt mit Alina Levshin und Jella Haase
Sigrun Casper (Hrsg.) - Außenseiter
Catherine Millet: Das sexuelle Leben der Catherine M.
(Quelle: Majestic Filmverleih)