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Beitrag vom 11.03.2013
Mitternachtskinder. Ein Film von Deepa Mehta. Kinostart: 28. März 2013
Julia Lorenz
Opulente Bilder statt "Satanischer Verse": Deepa Mehta, Spezialistin für Filme mit politischer Brisanz, transportiert die Sprengkraft von Salman Rushdies Indien-Epos mit Witz und Leidenschaft...
...auf die Kinoleinwand.
Es war ein wahrhaft guter Deal für die Regisseurin aus Amritsar. Als sie Salman Rushdie bei einem gemeinsamen Abendessen nach den Rechten an seinem Roman "Mitternachtskinder" fragte, erwiderte er, dass diese bei ihm lägen. Die Filmemacherin beschloss, das Vorhaben in Angriff zu nehmen: Für einen Dollar kaufte Deepa Mehta die Option auf jene Geschichte, für die der Autor sowohl weltweite Aufmerksamkeit als auch starke Kritik seitens des Regimes auf sich zog. Ein gewagtes Vorhaben, denn lange Zeit galt das Werk als unverfilmbar: Rushdie, den Ulrich Enzensberger 1983 im SPIEGEL als "Blechtrommler aus Bombay" bezeichnete, rekonstruiert in "Mitternachtskinder" nicht weniger als die wechselvolle Geschichte seines Heimatlandes Indien im zwanzigsten Jahrhundert - von der Kolonialzeit über die Unabhängigkeit im Jahre 1947 bis hin zum Bürgerkrieg.
Zwischen Bettlaken und Umstürzen
Die Erzählung beginnt - auf Papier und Zelluloid - lange vor der Geburt ihres Protagonisten zur Zeit des British Empire: Der liberale junge Arzt Dr. Aadam Aziz (Rajat Kapoor) lernt seine Patientin Naseem (Shabana Azmi) hinter einem Schutzwall aus Stoff kennen. Da ihr traditionsbewusster Vater nicht möchte, dass seine Tochter den Blicken eines fremden Mannes ausgesetzt ist, muss Dr. Aziz seine Diagnosen durch ein Loch in einem Bettlaken stellen, das ihren Anblick zum Schutz der Ehre verdecken soll. Trotz des beschwerlichen ersten Kontakts heiraten sie und das Paar bekommt drei Kinder.
In den frühen 1940er Jahren fiebert Indien seiner Unabhängigkeit entgegen, fürchtet jedoch auch die Konsequenzen der Teilung des Landes. Inmitten der aufgeladenen Stimmung wird Aadam Zeuge der Ermordung des Politikers Mian Abdullah. Dessen Verbündeter, der progressive Dichter Nadir Khan (Zaib Shaik), findet im Hause der Familie Aziz Zuflucht und verliebt sich dort in Mumtaz (Shahana Goswami), eine der drei Töchter des Hauses. Eine Militärinvention beendet die Romanze: Nadir muss fliehen und Mumtaz, die sich sehnlichst Kinder wünscht, folgt dem reichen Geschäftsmann Ahmed Sinai (Ronit Roy), ihrem zweiten Ehemann, nach Bombay.
Richtiges Leben im falschen
Schlag Mitternacht, am 15. August 1947 wird ihr gemeinsamer Sohn Saleem geboren - in jener Stunde, in der Indien seine Unabhängigkeit erklärt. Zur selben Zeit kommt auch Shiva, der uneheliche Sohn einer armen Hindu, im Zimmer nebenan zur Welt. Krankenschwester Mary (Seema Biswas), die ihrem subversiven Geliebten im revolutionären Kampf eine gute Gefährtin sein will, spielt daraufhin Schicksal: Einer sehr freien Interpretation seiner Worte "Die Reichen sollen arm sein, und die Armen reich" folgend, vertauscht sie die beiden Babys - und verdammt Shiva somit zu einer Existenz in Armut.
Saleem hingegen wächst in einer wohlhabenden Familie auf, sieht sich jedoch dem permanenten Druck ausgesetzt, den sein ehrgeiziger Vater auf ihn ausübt. Von ihm, dem "Wunderkind", das zeitgleich mit dem nun unabhängigen Indien geboren wurde, wird Großes erwartet. Trotz unterschiedlichster Schicksale ist beiden Jungen eines in die Wiege gelegt: Wie alle Mitternachtskinder besitzen Saleem und Shiva magische Fähigkeiten und sind somit ständig verbunden - sowohl miteinander, als auch mit dem unruhigen Schicksal ihres Landes.
Obwohl in Romanvorlage und Verfilmung männliche Schlüsselfiguren zu dominieren scheinen, besetzen weder Rushdie noch Mehta, die Indien bereits mit ihrer "Elemente-Trilogie" aus weiblicher Perspektive erkundete, die Frauen der Geschichte als Statistinnen oder dekoratives Beiwerk. Vielmehr treten sie als starke und eigenwillige Persönlichkeiten in Erscheinung, die wahlweise Faszination ausüben, Trost spenden, zerstörerische Kräfte freisetzen oder - wie im Fall der Krankenschwester Mary - den Lauf der Dinge im Stillen grundlegend verändern können.
Auch kann die Evolution der Stellung der Frau exemplarisch an der Familienchronik nachvollzogen werden: Während sich Aadam Aziz bei Widerspruch noch mit einem gebieterischen "Schweig still, Frau!" Gehör verschaffen kann, wagt seine Tochter in der nächsten Generation bereits den Aufstand gegen ihren Mann, als dieser den gemeinsamen Sohn verbannen will. Dieser wiederum ist später gar bereit, das uneheliche Kind seiner Geliebten als sein eigenes aufzuziehen, statt Ehre und Treue über das Wohl seiner Frau zu stellen.
Märchenstunde in Krisenzeiten
Autor Rushdie hat bereits vor mehr als dreißig Jahren sehr richtig erkannt, dass der Geschichte Indiens - zwischen Unterdrückung und Blutvergießen, Hoffnung und irrsinnigem Wachstum - nicht mit einem herkömmlichen Historienroman beizukommen ist. Sein Magischer Realismus, der schon die Geschichte Lateinamerikas durch "Hundert Jahre Einsamkeit" begleitete, und sein subtiler, schwarzer Humor sind von Deepa Mehta so authentisch wie nur möglich auf die Leinwand transportiert worden: Die Erzählerstimme Saleem Sinais aus dem Off, im englischen Original von Salman Rushdie höchstpersönlich gesprochen, begleitet das Geschehen und zitiert geschickt Romanstellen, die mit feiner Ironie die Bedeutungsschwere des dramatischen Geschehens abfedern.
Zwar findet auch die fantastische Komponente der Romanvorlage Einzug in den Film, wird aber angenehm unaufgeregt und ohne Blockbuster-typische Effekthascherei inszeniert. Die übernatürlichen Phänomene werden so mit der gleichen Selbstverständlichkeit in die Handlung integriert, mit der sie sich auch im Buch neben die nahezu unglaublichen historischen Entwicklungen einreihen.
Auch sonst macht der Film von seinem Recht auf Ausschweifung und Maßlosigkeit wenig Gebrauch: Gewalt ist auch bei Deepa Mehta Gewalt, Liebende dürfen sich begehren und beweinen - dennoch werden große emotionale Momente sparsam eingesetzt. Somit bleiben die ZuschauerInnen bei allen Schicksalsschlägen, Irrungen und Wirrungen nicht völlig übersättigt zurück - wohl aber begeistert von einer Romanadaption, die nicht den Geltungsdrang der Regisseurin befriedigen, sondern der Vorlage gerecht werden will.
AVIVA-Tipp: Bei aller Opulenz und Farbenpracht hat die Literaturverfilmung mit den Bollywood’schen Tanz- und Herzschmerz-Exzessen nicht viel gemein. Mit viel Feingefühl für den Ton des Romans nähert sich die Regisseurin der Saga, ohne dem illusorischen Anspruch zu verfallen, sie in aller Detailfülle und Vielschichtigkeit erfassen zu können. Deepa Mehta ist dem anspruchsvollen Projekt mit dem nötigen Respekt, aber ohne verbissene Ambitionen begegnet und hat Rushdies literarischen Bilderrausch endlich dahin gebracht, wo er hingehört: Auf die Leinwand.
Zur Regisseurin: Deepa Mehta wurde 1950 in Amritsar/ Indien geboren und emigrierte nach ihrem Philosophie-Abschluss in Delhi im Jahre 1973 nach Kanada. Bereits früh widmete sie sich sozialkritischen Themen: In ihrem Spielfilmdebut "Sam & Me" aus dem Jahre 1991 thematisierte sie die Beziehung eines jungen Moslems zu einem älteren Juden. Auch mit ihrer Elemente-Trilogie ("Fire" (1996), "Earth" (1998), "Water" (2005) erregte die Regisseurin Aufmerksamkeit: Aufgrund der Darstellung einer lesbischen Frauenbeziehung in "Fire", das im heutigen Indien spielt, und anderen kontroversen Aspekten gilt Mehta als die "Stimme von New India". Sie hat eine gemeinsame Tochter mit Regisseur und Produzent Paul Saltzman, mit dem sie zehn Jahre lang verheiratet war.
Infos zu Deepa Mehta und ihrer gemeinsam mit dem Produzenten David Hamilton im Jahr 1996 gegründeter Produktionsfirma finden Sie unter: www.hamiltonmehta.com
Mitternachtskinder
Kanada 2012
Regie: Deepa Mehta
DarstellerInnen: Satya Bhabha, Shahana Goswami, Shabana Azmi, Rajat Kapoor, Seema Biswas, Ronit Roy, Siddharth, Darsheel Safary, Anita Majumdar, Shikha Talsania, Rahul Bose, Zaib Shaikh, Samrat Chakrabarti u.a.
Buch: Salman Rushdie nach seinem Roman "Midnight´s Children" Kamera: Giles Nuttgens
Schnitt: Colin Monie
Produzent: David Hamilton
Co-ProduzentInnen: Elizabeth Karlsen und Stephen Woolley
Creative Producer & Produktionsdesign: Dilip Mehta
Musik: Nitin Sawhney
Kostüme: Dolly Ahluwalia
Hochzeitskostüme: Ritu Kumar
Filmlänge: 148 Minuten
Verleih: Concorde Filmverleih GmbH
Produziert von Hamilton-Mehta Midnight Productions Inc. in Zusammenarbeit mit Number 9 Midnight Films
Kinostart: 28. März 2013
Der Film im Netz
www.mitternachtskinder-derfilm.de
und auf
www.facebook.com
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