Puppe. Ein Film mit Corinna Harfouch und Jella Haase. Kinostart: 21. Februar 2013 - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Kultur



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 21.02.2013


Puppe. Ein Film mit Corinna Harfouch und Jella Haase. Kinostart: 21. Februar 2013
Julia Lorenz

In einer radikal modernisierten "Heidi"-Geschichte kämpft eine traumatisierte junge Frau im alpinen Niemandsland mit den Erinnerungen an ihre Vergangenheit auf der Straße. Zwischen Hühnern und...




...Haushaltspflichten sollen sie und andere Jugendliche die Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnen – doch die verstörten, unzugänglichen Mädchen verweigern die Anpassung an die Almidylle.

Auf dem Weg in ein Haus in der felsigen Einöde wird dem Auto, in dem Erzieherin Geena (Corinna Harfouch) die sechzehnjährige Anna (Anke Retzlaff) in ihr neues Zuhause transportiert, der Weg durch eine Herde Schafe versperrt. Hirte Leon (Michael Neuenschwandner) treibt seine Herde durch Geenas Territorium – jenseits der Begrenzung seines Gebiets. Anna möchte wissen, wo diese Grenze eigentlich liege. "Da wo es nicht weitergeht, da ist die Grenze", erwidert die Erzieherin.

Ein Satz, der ebenso gut die Situation der jungen Protagonistin beschreiben könnte: Nachdem Psychiatrie und Jugendamt versagt haben, soll Straßenkind Anna in der Abgeschiedenheit der Berge einen Neuanfang wagen. Geena, ambitioniert und unkonventionell, hält nicht viel von Zwangsmaßnahmen und Strafen. Stattdessen fordert sie klare Regeln und körperliche Arbeit auf dem Berghof: Inmitten der ländlichen, kargen Umgebung sollen junge Menschen mit einer schwierigen Vergangenheit Abstand zu ihren Problemen gewinnen und durch die Arbeit auf der Alm ein Gefühl für Verantwortung, Empathie und Kollegialität entwickeln.

Geena will Perspektiven bieten, doch ihre Schützlinge haben Schwierigkeiten, das Angebot anzunehmen - zu groß ist die Verunsicherung, zu tief die seelischen Verletzungen, die das Erlebte bei den jungen Frauen hinterlassen hat. Dennoch scheint der Idealismus der Erzieherin keine Grenzen zu kennen. "Mach es wie die Sonne. Jeder Tag ist ein neuer Tag", rät sie ihren Schützlingen. Ein ärgerlich rührseliger Moment in einem Plot, der sich sonst angenehm unsentimental präsentiert.

Unmittelbar nach ihrer Ankunft macht Anna Bekanntschaft mit der zwölfjährigen Emma (Stella Holzapfel), die vor ihrem Vater geflohen ist, und Magenta (Sara Fazilat), genannt Maggie. Obwohl dieser bei Fehlschlagen der Resozialisation die Jugendhaft droht, geht sie mit einem Messer auf Lehrerin Julie (Anne Haug) los und wird durch ihr latent aggressives Verhalten schnell zur Antipathieträgerin. Im deutlichen Widerspruch zu ihrer Gewaltbereitschaft stehen ihr bisweilen liebevolles Verhältnis zur kleinen Emma und ihre erst freundschaftlichen, dann romantischen Gefühle für Anna, die nach einer herben Zurückweisung in Hass umschlagen.

Annas Geschichte konstruiert sich nach und nach aus Flashbacks, die sich alptraumgleich wiederholen oder abrupt abbrechen, um in unerwarteten Momenten wieder aufzublitzen. Der Kontrast zwischen den Erinnerungsfetzen und der gegenwärtigen Situation des ehemaligen Straßenkinds ist ein stilistisches Spiel mit Extremen: Der Kargheit und Stille der Alpenlandschaft werden die Gedanken Annas an ihre Zeit auf den Straßen Duisburgs mit ihrer besten Freundin Leila (Jella Haase) entgegengesetzt – Bilder eines Lebens zwischen Baracken und Schmutz, Brutalität und Existenzangst. Regisseur Sebastian Kutzli gelingt es, durch die Konfrontation von meditativer Ruhe und sozialer Härte die Orientierungslosigkeit seiner jungen Protagonistinnen zu visualisieren. Umgeben von der idyllischen Alpenlandschaft wirken vor allem Anna und Maggie mit ihren Piercings, ihrer Feindseligkeit und Wut so deplatziert, wie sie sich fühlen – allein und unerwünscht, an wahrscheinlich jedem Ort der Welt.

Die Zusammenführung der beiden Zeitebenen am Ende wirkt jedoch arg konstruiert und unglaubwürdig. Das ist schade und unnötig, da "Puppe" sonst ohne Plattitüden auskommt: Die Charaktere sind dynamisch und glaubwürdig, die Gründe für ihre Angst, ihren Hass und ihre Verletzlichkeit schweben – in Halbsätzen angesprochen, aber nie vollständig erklärt - wie ein Damoklesschwert über dem Geschehen.

Die titelgebende Puppe ist dabei einerseits ein Gegenstand aus Annas traumatischen Erinnerungen, andererseits eine Anspielung auf das Bild, das die (Männer-)Welt in der Realität der jungen Frauen von ihnen hat: Sie alle sind schöne, schmerzfreie Puppen, die achtlos behandelt, benutzt und schließlich auf dem Boden vergessen werden können.

AVIVA-Tipp: Ein Heimatfilm also. Wer bereits beim Wort "Alpen" das cineastische Interesse verloren hat, sollte sich auf "Puppe" dennoch einlassen: Gipfelaufnahmen, Bergwiesen und Almidylle funktionieren in Kombination mit dem großartigen Schauspielensemble bemerkenswert gut und kitschfrei als Gegenpart zu den Abgründen, die sich in den Biografien der Protagonistinnen auftun. Wäre nur zum Schluss nicht der Thrillerautor mit Regisseur Kutzli durchgegangen!

Zum Regisseur: Sebastian Kutzli wurde 1969 in Hamburg geboren und absolvierte von 1997 bis 2004 sein Studium an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. 2006 war er als Regieassistent am Dreh des Films "Der Rote Kakadu" mit Jessica Schwarz und Max Riemelt beteiligt. Als selbstständiger Regisseur drehte Kutzli diverse Kurzfilme ("Dreiland" (1998), "Alles Zombies" (2001), "Kalte Haut" (2005), bevor er mit "Puppe" seinen Debutspielfilm präsentierte. Darüber hinaus gründete er 1998 die Filmzeitschrift Revolver mit Regiefreund Benjamin Heisenberg.


Puppe
Deutschland/Schweiz, 2012
Regie: Sebastian Kutzli
DarstellerInnen: Corinna Harfouch, Anke Retzlaff, Sara Fazilat, Christoph Gaugler, Jella Haase, Anne Haug, Charlotte Thompson, Stella Holzapfel, Michael Neuenschwandner
Buch: Marie Amsler
Kamera: Stephan Vorbrugg
Schnitt: Wolfgang Weigl
Redaktion: Claudia Gladziejewski, Jochen Kölsch, Monika Lobkowicz, Andreas Schreitmüller
Musik: Gert Wilden Jr.
Produzenten: Fritjof Hohagen, Clarens Grollmann
Co-ProduzentInnen: Karin Koch, Tunje Berns, Alexander Loskant, Stephan O. Hansch
Szenenbild: Maximilian Lange
Filmlänge: 90 Minuten
Eine ENIGMA FILM Produktion in Koproduktion mit DSCHOINT VENTSCHR in Kooperation mit dem BAYRISCHEN RUNDFUNK und ARTE
Verleih: W-film Distribution

Kinostart: 21.02.2013

Der Film im Netz: www.puppe.wfilm.de

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Beitrag vom 21.02.2013

Julia Lorenz