AVIVA-Berlin >
Kultur
AVIVA-BERLIN.de im November 2024 -
Beitrag vom 27.11.2012
Marina Abramovic: The Artist Is Present - ein Film von Matthew Akers. Ab 17. April 2013 auf DVD, Blu-ray und VoD
Britta Meyer
Was daran ist Kunst, wenn eine Frau mitten im Museum of Modern Art in New York den ganzen Tag auf einem Stuhl sitzt? Von März bis Mai 2010 war die serbische Performancekünstlerin in den Räumen...
... des MoMA anzutreffen – ist das jetzt Kunst, oder kann das weg?
Die Frau trägt ein langes, scharlachrotes Kleid, die Haare in einem Zopf, das Gesicht nackt und ungeschminkt. Sie ist das einsame Zentrum der Aufmerksamkeit, bis jemand sich zu ihr ins Scheinwerferlicht wagt und auf den Stuhl ihr gegenüber setzt, dann hebt sie den Kopf und sieht die Person direkt an. Sie wird von einer Person, der Hauptperson, zum reinen Spiegel ihres Gegenübers. Etwas geschieht mit all diesen Menschen, ihre Gesichter verändern sich, wenn sie in Marina Abramovics erschöpfte Augen schauen - sie lächeln, sie nicken, die meisten weinen. Sie werden diese Begegnung nicht vergessen. Abramovic ist da. Anwesend. Mit all ihrem Sein. Sieht jedeN an, jedes Mal neu konzentriert, um jedem Menschen, der zu ihr kommt, die gleiche, volle Aufmerksamkeit zu widmen. JedeR, die oder der auf dem zweiten Stuhl Platz nimmt, bekommt ihre ganze und ungeteilte Person.
MuseumsbesucherInnen verbringen im Schnitt nur wenige Augenblicke vor jedem Kunstwerk – bei MeisterInnenwerken wie der Mona Lisa sind es um die 30 Sekunden. Vor Abramovic verharren manche für Stunden. Sie sehen zu, wie Leute sich zu ihr setzen, warten den ganzen Tag darauf, selbst an die Reihe zu kommen, nachdem sie die ganze Nacht vor den Museumstüren Schlange gestanden hatten. Abends muss die Security einzelne BesucherInnen regelrecht hinaus scheuchen – heftig diskutierend, warum es nicht noch weitergehen kann, nur noch ein paar Minuten? 1.565 Menschen sitzen nach und nach vor Abramovic und sehen ihr ins Gesicht, darunter auch Björk, Tilda Swinton und Sharon Stone.
Etwa 750.000 BesucherInnen haben die mehrere Stockwerke umfassende Ausstellung besichtigt, die eine Auswahl ihrer früheren Werke zeigte, darunter Bilder und Videoinstallationen, aber auch Live-Acts, von 41 jungen KünstlerInnen nachgestellt, die Abramovic zu diesem Zweck extra ausgebildet hatte – indem sie bei ihr zuhause und auf ihrem Grundstück trainieren, fasten und lernen mussten, sich vollkommen auf ihr Sein im Jetzt zu konzentrieren.
Am Ende des Tages sinkt Abramovic unter ihrem Tisch zusammen und krümmt sich vor Schmerzen. Nach siebeneinhalb Stunden Reglosigkeit protestiert jeder Muskel. Sechs Tage in der Woche tut sie sich diese Tortur an, drei Monate lang, insgesamt 721 Stunden. Die "Großmutter der Performancekunst", wie sie sich selbst auch nennt, hat schon live psychoaktive Drogen genommen, um in ihren Darstellungen gesellschaftliche Verhandlungen weiblicher Geisteskrankheit hinterfragen zu können. Sie hat sich im Laufe ihrer Karriere vor dem Publikum selbst ausgepeitscht, mit Rasierklingen geschnitten, hat gebrüllt, sich mit ihren PartnerInnen geprügelt, hat Orgasmen gehabt und ist zu Fuß die halbe Strecke der Chinesischen Mauer entlang gelaufen, aber selbst für sie ist die Erfahrung in der MoMA grenzwertig: "The hardest thing is to do something which is close to nothing, because it´s demanding all of you."
Der Film geht mit ihr zurück zu ihren Anfängen in den 1970er Jahren, als sie gemeinsam mit ihrem langjährigen (Kunst)Partner Ulay das Publikum mit radikalen Aufführungen schockierte. "She is never NOT performing", so Regisseur und Kameramann Matthew Akers, der ihr zehn Monate lang fast überall hin folgte. Er lässt sie von ihren Eltern erzählen, den HeldInnen des PartisanInnenkampfes im Zweiten Weltkrieg, von der symbiotischen zwölfjährigen Beziehung zu ihrem künstlerischen Gegenstück Ulay und dem rasanten Aufschwung, den ihre Kunst nach der schmerzlichen Trennung von ihm erfuhr. Akers begleitet Abramovic durch die Vorbereitungen für die Ausstellung, das Training der NachwuchskünstlerInnen, durch Lampenfieber und Krankheit hindurch, endlich bis auf den Stuhl unter dem Scheinwerfer und danach nach Hause. Er spricht mit Ulay, mit dem Kurator des MoMA Klaus Biesenbach, mit FreundInnen und KollegInnen über sie und setzt nach und nach das Bild einer Frau zusammen, die niemals Kompromisse eingegangen ist – egal, wie sehr es wehtat.
Zum Regisseur: Matthew Akers wurde 1975 in Dallas, Texas geboren, führte bei zahlreichen TV-Produktionen und, neben anderen, bei den Spielfilmen "Lemon" (2011) und "Going Blind" (2010) die Kamera und produzierte die Serie "Circus". "Marina Abramovic: The Artist Is Present" ist der erste Dokumentationsfilm, bei dem er eigenständig Regie führte.
Zur Künstlerin und Hauptdarstellerin: Marina Abramovic geboren 1946 in Belgrad, studierte an der Akademie der Bildenden Künste in Belgrad Malerei. Seit 1973 installiert sie Performances, die oft kontrovers diskutiert werden, da sie immer wieder Körperlichkeit in Form von Nacktheit, Schmerz und physische wie psychische Grenzerfahrungen zum Inhalt haben. Sie zeigte ihre Kunst in Museen auf der ganzen Welt und wurde für ihre Arbeit vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst (2008), einem Ehrendoktorinnentitel der Schönen Künste des Williams College in Williamstown, Massachusetts (2011) und dem Berliner Bären (2012).
Auszeichnungen
"Marina Abramovic: The Artist Is Present" gewann auf der Berlinale 2012 den Panorama Publikumspreis für Dokumentarfilme, den Publikumspreis für den Besten Film des Sarajevo Film Festivals 2012 und war der Offizielle Wettbewerbsbeitrag beim Sundance Film Festival 2012.
AVIVA-Tipp: Ja, das ist Kunst. Der Film zeigt die Wärme und Präsenz Abramovics als genauso absolut und verletzlich, wie ihre Performances und lässt eineN die Menschen beneiden, die 2010 in New York Gelegenheit hatten, für eine Weile auf diesem Stuhl zu sitzen.
Marina Abramovic: The Artist Is Present
USA, 2012
Verleih: NFP marketing & distribution
Regie und Kamera: Matthew Akers
Produktion: Jeff Dupre und Maro Chermayeff
Musik: Nathan Halpern
Schnitt: E. Donna Shepherd
Ausführende ProduzentInnen: Stanley Buchthal, Maja Hoffman und David Koh
Produzentinnen für HBO: Nancy Abraham und Sheila Nevins
Format: PAL
Sprache: Englisch (Dolby Digital 5.1)
Untertitel: Deutsch
Region: Region 2
Bildseitenformat: 16:9 - 1.77:1
Spieldauer: 102 Minuten
18,99,- Euro
DVD-Start: 17. April 2013
www.filmweltverleih.de
Weitere Informationen finden Sie unter:
marinafilm.com
www.moma.org
www.musicboxfilms.de
www.ardmediathek.de
mayan.org
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
62. Berlinale vom 9. bis zum 19. Februar 2012, TEDDY AWARDs am 17. Februar 2012
Die Dada Baroness