AVIVA-Berlin >
Kultur
AVIVA-BERLIN.de im November 2024 -
Beitrag vom 17.08.2012
Holy Motors - ein Film von Leos Carax. Kinostart 30. August 2012
Kristina Tencic
Ein Film so bunt wie das Leben. Mit Holy Motors reizt der französische Filmemacher ("Die Liebenden von Pont Neuf") die imaginäre Welt der Leinwand aus, indem er einen geheimnisvollen Mann dabei...
... begleitet, wie er einen ganz "normalen" Arbeitstag in einer weißen Limousine durch den Pariser Stadtmoloch bestreitet.
Der Vorhang hebt sich, die Kamera zeigt ein Kinopublikum und folgt einem Mann (Leos Carax) durch einen geheimen Tunnel von seinem Wohnraum bis hin zu einem Kinosaal. Dort sieht frau einen Familienvater (Denis Lavant), der sich morgens zur Arbeit verabschiedet und von einer elegant ergrauten Chauffeurin (Edith Scob) in einer Luxus-Limousine abgeholt wird. Während der Fahrt in das Herz der Stadt an der Seine beobachtet frau Monsieur Oscar dabei, wie er sich umzieht und schminkt, bis die Chauffeurin ihm die Tür unter einer Brücke aufhält und eine Bettlerin aus dem Wagen steigt. Eine halbe Stunde später biegt sich der gleiche Mann in einer Action-Videospiel-Produktion als sei er aus Gummi, danach folgt frau dem wieder gleichen Mann als Blumenfressendes und Zigarettenrauchendes Rumpelstilzchen-Monster, das ein Supermodel (Eva Mendes) in seine Höhle entführt. Gleich danach legt der sich stetig Verwandelnde eine an große russische Romane erinnernde dramatische Sterbeszene hin und trällert nach Feierabend noch schnell ein romantisches Duett mit Kylie Minogue: "who are we when we were who we were back then?".
Regisseur Leos Carax sucht auch in seinem neuen Film das Ungewöhnliche, das Experimentelle, das wenig mit gewöhnlichen Actiondramen und dafür umso mehr mit imaginärer Abenteuerlust zu tun hat. Denn hier handelt es sich um einen im wahrsten Sinne verrückten Film, der um des Filmens, Sehens und Entdeckens willen gedreht wurde. Er sucht nicht nach Erklärungen sondern nimmt uns mit auf eine Reise, eine Reise, wie wir sie alle fast tagtäglich durch die vielen verschiedenen Rollen und Facetten unserer Selbst unternehmen.
Zu seinem filmischen Bilderbuch à la Alice im Wunderland inspiriert wurde Leos Carax einerseits durch die sich im Straßenbild von Paris häufenden Limousinen. Diese "Holy Motors", betrachtet er als Sinnbild für das Ende einer Ära, da solch sperrige Monstermaschinen doch eigentlich längst der Vergangenheit angehören. Andererseits bediente sich der Regisseur für seinen ersten Autorenfilm seit dem 1999 wenig beachteten "Pola X" bei einem in den Zwischenjahren entstandenen Kurzfilm "Merde". Hieraus stammt etwa die Figur des Monsieur Merde, des grünen Wichtelmännchen, der in der französischen Tradition mittelalterlicher Clowns steht. Nicht zuletzt hat Leos Carax den Film jedoch speziell auf den Komiker Denis Lavant zugeschneidert, dem er ganze elf Rollen zukommen ließ und ohne dessen Teilnahme er das Filmprojekt erklärtermaßen hätte scheitern lassen. Doch auch Edith Scob kommt in "Holy Motors" erneut zum Zuge, nachdem sie 1991 bei den Aufnahmen zu Carax weltbekanntem "Die Liebenden von Pont Neuf" zwar neben Juliette Binoche vor der Kamera stand, jedoch im Nachhinein dem Schnitt zum Opfer fiel.
2012 stellte Carax in Cannes seinen, wie er in der Pressekonferenz erläuterte, "privaten Film" vor, den er jedoch der Öffentlichkeit nicht vorenthalten möchte. Carax´ schräge Person und sein love it or hate it movie provozierten dort sehr gespaltene Meinungen. Er wurde anfangs als starker Anwärter der Goldenen Palme gehandelt, wurde jedoch zuletzt mit keinem einzigen Preis bedacht – hat aber dennoch viel von sich reden lassen. Gefeiert wurde neben dem Auftritt von Eva Mendes und Kylie Minogue, die den eigens für diesen Film geschriebenen Song live interpretierte, auch eine fantastische Akkordeonszene.
Es ist indes nicht schwer nachzuvollziehen, warum Carax für seinen eigenwilligen Film Schwierigkeiten bei der Finanzierung hatte. Zuletzt sicherte Arte und die deutsch-französische Zusammenarbeit die Realisierung seiner kinematografischen Idee. Ganz im Sinne des französischen Autorenfilms und Godards scheint der Regisseur verkünden zu wollen: Der Film ist tot, es lebe der Film! und kreiert ein Werk um der Schönheit der Geste willen – und nicht um die der ZuschauerInnenzahlen.
AVIVA-Tipp: Eine Augenweide ist "Holy Motors" von Leos Carax, eine Hommage an das Lichtspieltheater, wie die KinogängerInnen es erst kürzlich in dem auch aus Frankreich stammenden Stummfilm "The Artist" erfahren durften. Bei Carax liegt die Schönheit, wie es auch in einer eingängigen Filmszene zu vernehmen ist, im Auge der BetrachterInnen. Durch das Kaleidoskop seines Films entdeckt frau ein Monster mit unzähligen Tentakeln, das am Ende noch die Fiktion selbst verschlingt und sich nicht mit einem zögerlichen "was wäre wenn" zufrieden gibt.
Zum Regisseur: Leos Carax wurde 1960 in Suresnes, Frankreich, geboren. Als er im August 2012 in Locarno einen "Ehren-Leopard" für sein Lebenswerk erhielt, erinnerte er sich daran, wie er als kleiner Junge zum Film kam: Er wünschte sich nichts sehnlicher als zu Reisen und entdeckte dann, dass jeder Film ihn mit auf eine Reise nimmt und er nur ins Kino zu gehen brauchte. Das merkt frau/man seinen Filmen auch an, die stets unangepasst und eigenwillig die Grenzen des Möglichen austesten: 1991 durch "Die Liebenden von Pont Neuf" weltberühmt geworden (der damals als teuerster Film Frankreichs galt), hat es dennoch über 20 Jahre gedauert, bis ein neuer Spielfilm, nämlich sein jetziger, annähernd diesem Erfolg gleichkommt. Zwischenzeitlich floppte 1999 "Pola X" und aus seiner Idee für "Merde" wurde letztlich ein Kurzfilm, eingebettet in "Tokyo!". Carax lebt und arbeitet in Paris.
(Quellen: Die Welt, The Guardian)
Holy Motors
Frankreich, Deutschland 2012
Arsenal Filmverleih
Regie und Drehbuch: Leos Carax
DarstellerInnen: Denis Lavant, Edith Scob, Eva Mendes, Kylie Minogue u.a.
Spielzeit: 115 Minuten
Kinostart: 30. August 2012
www.holy-motors.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Paris, je t´aime
I`m not a f**king princess
10 Jahre Kylie
The Artist
Pauline Paris - Le Grand Jeu