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Beitrag vom 11.12.2011
Sarahs Schlüssel. Ab 15. Dezember 2011 im Kino
Sharon Adler, Margret Müller
Der Film nach dem gleichnamigen Roman von Tatiana de Rosnay zeichnet aus der Sicht eines zehnjährigen Mädchens die dunkelste Zeit in der Geschichte der Juden in Frankreich nach. Siebenundsechzig ...
... Jahre später wird diese bewegende Geschichte wieder lebendig. Aufgerollt wird sie durch die Recherche einer in Paris lebenden amerikanischen Journalistin, die auf das Schicksal einer jüdischen Familie stößt, nicht wissend, dass diese auch mit ihr persönlich verknüpft ist.
Anders als die Regisseurin Rose Bosch, die die Vorkommnisse um den Rafle du Vélodrome d´Hiver (Rafle du Vel´ d´Hiv´) in den Mittelpunkt ihres Films stellte, ging Tatiana de Rosnay und nun der Regisseur Gilles Paquet-Brenner mit "Sarahs Schlüssel" noch einen Schritt weiter. Dieser Film macht deutlich, dass Erinnerung, Trauer und Trauma ewig und unwiederbringlich bestehen bleiben.
Am 16. Juli 1942 wird die zehnjährige Sarah mit ihren Eltern von der französischen Polizei deportiert. Ihren vierjährigen Bruder kann sie gerade noch in einem Wandschrank der Wohnung verstecken, und den Schlüssel mitnehmen, überzeugt, rasch zurückzukehren. Doch Sarahs Weg soll anders verlaufen. Schockierend detailliert beschreibt der Film den Leidensweg des Mädchens, das zunächst mit 13.000 anderen Jüdinnen und Juden (darunter 4000 Kinder) in der Radsporthalle Vélodrome d´Hiver eingesperrt, später ins Durchgangslager Drancy in der Nähe von Paris gebracht und wie alle anderen Kinder unbarmherzig von ihren Eltern getrennt wird. Während die Grausamkeit der so jäh zerbrochenen Kindheit kein Ende nehmen will, ist Sarah (und die Zuschauerin) von der Last des Schlüssels getrieben, einen Weg aus den Fängen der Nazis zurück zur Pariser Wohnung und Befreiung des kleinen Bruders zu finden.
Im zweiten Erzählstrang erhält in Paris lebende - ebenfalls fiktive - Journalistin Julia Jarmond im Jahr 2002 den Auftrag, einen Artikel über die Zusammentreibung der Juden im Vélodrome d´Hiver 1942 zu schreiben. Die Recherche nach der dunklen und oft verschwiegenen Seite französischer Vergangenheit unter dem Vichy-Regime soll ihr Leben auf den Kopf stellen. Das Thema ist für die Franzosen immer noch problematisch, so bekannte sich die französische Regierung erst 1995 mit Jacques Chirac öffentlich zur Verantwortung für die Verbrechen der Vichy-Regierung und damit für die Deportation der Juden durch die französische Polizei.
Mit der Erkenntnis, dass die Familie ihres Mannes 1942 in die Wohnung Sarahs vertriebener Familie zog, wird aus den Nachforschungen eine ganz persönliche Suche nach Sarahs Geschichte, die bald Julias Denken und Handeln beherrscht, neben der die Midlife-Crisis ihres Mannes und die bröckelnde Ehe nicht mehr mithalten kann. Auf ihrer schonungslosen Suche nach der Wahrheit um die Verschleppung der Pariser Juden reißt Julia zudem die Wunde des jahrelang gehüteten Geheimnisses ihrer angeheirateten Familie auf, die von der Vertreibung der Juden profitierte.
Durch die Annäherung durch zwei fiktive Erzählstränge der Vertreibung der Pariser Juden, ist es der Zuschauerin möglich, sowohl mit Sarah in die Grausamkeit der Geschehnisse einzutauchen, als diese auch mit Julia aus historischer Sicht zu recherchieren und wichtige Fragen nach Schuld, Verantwortung und schmerzhafter Aufarbeitung aufzuwerfen. Die konsequente Aufrechterhaltung beider Ebenen wird so eine thrillerähnliche Sogwirkung ausgeübt. Immer wieder ergeben sich dabei tragische Parallelen. Sarah ist verantwortlich für das Leben ihres kleinen Bruders und Julia für das noch Ungeborene in ihrem Bauch, während ihr Mann sie zwingen will, die Schwangerschaft abzubrechen. Sarah, der aus dem Zwischenlager Drancy die Flucht gelingt, trägt ihr Leben lang schwer an der Last des Schlüssels, Julia wird mit der nicht schwindenden Schuld der Familie ihres Mannes konfrontiert. Während die eine aber im Schweigen Frieden sucht, kann die andere nicht zur Ruhe kommen, bis alles ausgesprochen ist.
RAFLE DU VÉLODROME D´HIVER - Historischer Hintergrund
Die Kinder von Paris behandelt die Verbrechen des Tages, der später als "Schwarzer Donnerstag" bekannt wurde. Ziel der von langer Hand geplanten polizeilichen Großrazzia war die Verhaftung jener ca. 28.000 immigrierten JüdInnen, die, bereits aus anderen europäischen Ländern immigriert, ohne französischen Pass in Paris und den umgebenden Gemeinden lebten. Koordiniert von Ministerpräsident Pierre Laval und unter dem Befehl des Pariser Polizeipräfekten Jean Leguay verhafteten französische Polizisten 13.152 jüdische Frauen, Männer und Kinder in den frühen Morgenstunden des 16. Juli 1942. Rechtzeitig gewarnt, konnten knapp 15.000 weitere Menschen der Verhaftung entgehen.
Alleinstehende oder kinderlose Männer und Frauen gelangten sofort in das Transitlager Drancy. Der Rest, etwa 7.000 Menschen, unter ihnen 4.051 Kinder, außerdem Schwangere und alte Menschen, wurde übergangsweise im Vélodrome d`hiver eingesperrt - einem Radrennstadion im 15. Arrondissement nahe des Eiffelturms. Hier wurden sie fünf Tage nahezu ohne Nahrung und Trinkwasser bei großer Hitze und unter katastrophalen sanitären Zuständen festgehalten. Etwa einhundert der eingeschlossenen Menschen begingen Selbstmord, auf Flüchtende wurde geschossen. Am 20. Juli wurden die restlichen Gefangenen schließlich in die Lager Beaune-La-Rolande und Pithiviers verbracht und von dort in die deutschen Vernichtungslager im Osten deportiert. Nur 25 der über 13.000 am 16. Juli verhafteten Jüdinnen und Juden überlebten das Kriegsende. Keines der über 4.000 Kinder war darunter.
Nach Kriegsende wurde die "Rafle du Vel`d`Hiv`" in Frankreich lange Zeit tabuisiert. Nur ungern wurde man an die Kollaboration mit den deutschen Besatzern erinnert. Erst am 16. Juli 1995 formulierte der damalige Staatspräsident Jaques Chirac erstmals ein Schuldbekenntnis. Er sagte, dass "diese dunklen Stunden für immer die Geschichte Frankreichs beschmutzen […] An jenem Tag beging Frankreich, Heimat der Menschenrechte, einen nicht wieder gutzumachenden Schaden und lieferte seine Schützlinge an ihre Henker aus".
An der Stelle, wo bis 1959 das Radstadion (Velodrom) stand, wurde im Jahre 1994 eine Gedenkplakette zur Erinnerung an die "Rafle du Vél d´Hiv" eingeweiht. Gestaltet wurde das Denkmal vom Architekten Mario Azagury und dem polnischen Bildhauer Walter Spitzer, der zu den Überlebenden von Auschwitz gehört.
Gilles Paquet-Brenner war der erste Regisseur, der in der Holocaust Gedenkstätte in Paris drehen durfte: "Ja, die Gedenkstätte war nie zuvor in einem Spielfilm zu sehen. (...) Der Mann, den sie (Kirstin) dort trifft, fasst seine Aufgabe so zusammen: "Man muss Zahlen und Statistiken verlassen, um diesen Leben ein Gesicht und Realität zu verleihen." Diese Worte definieren meine grundlegenden Ziele für diesen Film.
AVIVA-Tipp: "Sarahs Schlüssel" ist ein Film, der zu Tränen rührt, einer, der in seiner Direktheit sprachlos macht. Das Leid aus der Sicht eines kleinen Mädchens steht stellvertretend für die Millionen ermordeten Juden, ganz besonders aber die für ermordeten jüdischen Kinder. Dieser Film setzt ihnen ein Denkmal.
Sarahs Schlüssel
Originaltitel: Elle s´appelait Sarah
nach dem Bestseller-Roman von Tatiana De Rosnay
Frankreich 2010
DarstellerInnen:
Kristin Scott Thomas: Julia Jarmond
Mélusine Mayance: Sarah
Niels Arestrup: Jules Dufaure
Frédéric Pierrot: Bertrand Tezac
Michel Duchaussoy: Edouard Tezac
Dominique Frot: Genneviève Dufaure
Gisèle Casadesus: Mamé
Aidan Quinn: William Rainsferd
Natasha Mashkevich: Frau Starzynski
Arben Bajraktaraj: Herr Starzynski
Sarah Ber: Rachel
Karina Hin: Zoe Tezac
George Birt: Richard Rainsferd
Charlotte Poutrel: Sarah als junge Frau
Stab
Regie: Gilles Paquet-Brenner
Drehbuch: Serge Joncour und Gilles Paquet-Brenner
Produziert von Stéphane Marsil / Hugo Productions
Kamera: Pascal Ridao (AFC)
Schnitt: Hervé Schneid (ACE)
Camino Filmverleih
Altersfreigabe Film: FSK 12, Altersfreigabe Trailer: FSK 6
Länge: 104 Minuten
Kinostart: 15. Dezember 2011
www.sarahsschluessel-film.de
Sarahs Schlüssel ist eine Koproduktion von Hugo Productions - Studio 37 - TF1 Droits Audiovisuels - France 2 Cinéma unter Mitwirkung von Canal+, TPS Star, France Télévisions - gefördert mit den Mitteln der MFG und CNC.
Tatiana de Rosnays Bestseller Elle s´appelait Sarah ist weltweit bereits in über 15 Sprachen übersetzt und in Deutschland 2007 als gebundene Ausgabe bei Bloomsbury erschienen. In Deutschland wurden von dem Roman mehr als 85.000 Exemplare verkauft, in Frankreich inzwischen über eine halbe Million und international über 2,5 Millionen. In den USA hat Sarah´s Key die Auflagenmillion längst überschritten und steht seit weit über einem Jahr auf der Bestsellerliste der New York Times.
Le Voisin, ihr letztes Buch, erschien gerade in Frankreich bei Editions Héloïse d´Ormesso, ihr vorletztes, Boomerang liegt schon auf Deutsch vor: BUMERANG (Berlin Verlag, 2011.
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
"Die Kinder von Paris", ein Film von Rose Bosch
La Rafle
"Tatjana de Rosnay - Sarahs Schlüssel"
"Simone Veil - Und dennoch leben. Die Autobiographie der großen Europäerin"
"Wunderkinder"
"Irène Némirovsky - Die Hunde und die Wölfe"
Filme zum Thema
MONSIEUR KLEIN ("Monsieur Klein", 1976) von Joseph Losey, kam in der DDR ins Kino und lief in der BRD im Fernsehen. Viele Szenen wurden an Originalschauplätzen gedreht. Der Film erhielt 1977 je einen César in den Kategorien Bester Film und Beste Regie.
LA RAFLE ("Die Kinder von Paris", 2010) von Roselyne Bosch, produziert von Ilan Goldman.
LES EFANTS DU VEL D´HIV (1992), Dokumentarfilm von Maurice Frydland.
LES GUICHETS DU LOUVRE ("Die Verfolgten", 1974, Berlinale) Regie: Michel Mitrani.
Bücher zum Thema
Goldenberg, Daniel, Wachman, Gabriel: Evadé du Vél´d´Hiv. Paris: Calmann-Lévy, 2006
Lévy, Claude, Tillard, Paul: La Grande rafle du Vel d´Hiv (16 juillet 1942). Paris: Robert Laffont, 1967 dt: Der schwarze Donnerstag.
Kollaboration und Endlösung in Frankreich. Olten: Walter, 1968
Muller, Annette: La petite fille du Vel d´Hiv. Du camp d´internement de Beaune-la-Rolande (1942) à la maison d´enfants du Mans (1947). Paris: Editions Cercil, 2010
Rajsfus, Maurice: Jeudi noir. Paris: L´Harmattan, 1988
Rosnay, Tatiana de: Elle s´appelait Sarah (Sarah´s Key). Paris: Éditions Héloïse d´Ormesson, 2007 (HC)
SARAHS SCHLÃœSSEL. Berlin: Bloomsbury, 2007 (HC) und Berlin: Berlin Verlag, 2008 (TB)
(Quelle: Camino Filmverleih)