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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 22.11.2011


Vanessa Stern - La Dernière Crise. Frauen am Rande der Komik
Lisa Scheibner

Vanessa Stern, Schauspielerin, hat sich die Krise zur Freundin gemacht. Seit sie das "Krisenzentrum für weibliche Komik" gegründet hat, lädt sie regelmäßig Frauen in ihre Abendshow in die ...




... Sophiensaele ein, um "Komik" live aus geschlechtsspezifischer Sicht zu untersuchen.

Das Publikum ist von Anfang an bester Laune, die Kantine der Sophiensaele bis auf einen Platz gefüllt. Doch selbst dieser könnte bei Vanessa Stern eine Krise hervorrufen: "Da. Leerer Platz." Sie blickt die ZuschauerInnen wissend an, das Scheitern lauert hinter jedem Stuhlbein. Das Motto des Abends: "Schöne Scheiße".

Ausbeutung und Geld waren einige der vorherigen Themen von Vanessa Sterns Performancereihe "La Dernière Crise", eine Richtung zeichnet sich ab: Die private Krise hat politische Dimensionen und umgekehrt. 2010 hat die Schauspielerin das "Krisenzentrum für weibliche Komik" gegründet, das in interdisziplinären Workshops "Werkzeuge des Komischen und der Krise" untersucht, wie die "(Nerven)säge", oder die "Wachstumsschraube". Mit der Gender AG des globalisierungskritischen Netzwerks attac veranstaltet Stern außerdem "komödiantische Interventionen".
Herzstück des Zentrums ist jedoch die Abendshow, in die Vanessa Stern alle zwei Monate unterschiedlichste Frauen einlädt, um gemeinsam an der Komik zu forschen die jeder Krise innewohnt und die nur darauf wartet, als weibliches "kulturelles Kapital" entdeckt zu werden.

"Heulen kann schließlich jede."

Heute vorsichtshalber mit hohen Gummistiefeln ausgerüstet, führt Vanessa Stern durch den Abend, schlüpft für die Moderation in verschiedene Rollen und steuert selbst die eine oder andere Performance bei.
Die kleine Bühne vor provisorisch mit weißer Plane abgehängter Wand zeugt vom Understatement der ganzen Veranstaltung, Perfektion ist ausdrücklich unerwünscht. Schon der Schriftzug mit dem Motto des Abends, den Vanessa Stern mit dunkler Farbe pinselt, passt nicht auf die vorgesehene Fläche. Ohne Improvisation läuft hier gar nichts, soviel ist sicher.

Die "Schöne Scheiße" ist Teil der Krise, das wird dem Publikum bald klar. Sie ist das, was daneben geht oder zu Gold gemacht wird. Diese ganz spezielle Selbsterfahrung ist unvermeidlich, es geht um Momente, die frau oft lieber vergessen würde. Aber nur solange, bis sie die ungenutzten Möglichkeiten darin erkennt!
Erster großer Höhepunkt des Abends ist Lioudmila Voropais wissenschaftlicher Vortrag "Zur Semiologie der Scheiße als ästhetische Kategorie", der anhaltende Heiterkeit erzeugt. Lacan hatte mal wieder Recht und große "Geschäfte" auf dem Kunstmarkt, so Voropai, werden mit ganz ähnlichen Motivationen gemacht wie kindliche ur-kreative (Ver-)Äußerungen auf dem Töpfchen. Wie man aus Scheiße Gold macht, wusste schließlich auch Piero Manzoni, als er 1961 seine Ausscheidungen in Dosen verpackte und mit Gold aufwiegen ließ.

Artist´s Shit revisited

Nach so viel Theorie gibt es dann Musik vom Trio "Le Sorelle Blu", das über den Abend verteilt "Seemannslieder der schrägeren Sorte" spielt. Melancholie liegt in der Luft. Steht der Schiffsuntergang kurz bevor oder liegt es daran, dass Lieder vom Meer immer etwas düsterer sind? Die Jungs, die so bald nicht wiederkommen, die drei Mann auf des Totenmanns Kiste - was haben die Frauen im Friesennerz mit all den Kerlen vor? Schwärmerische Mädchen am Hafen von Piräus sind sie keinesfalls. Auf Trompete, Baritonsaxofon, an der Percussion und singend vermischen die eigenwilligen Seefrauen munter altbekannte Songs, die sie mit einer guten Portion Ironie performen. Die Genres fließen ineinander, der Humor blitzt durch und am Ende gibt es natürlich eine Zugabe.

Krisen "komisch zu bearbeiten" ist einer der Grundpfeiler von Vanessa Sterns Projekt: Der hochgewachsenen Amerikanerin Manon Kahle etwa ist während eines gar nicht romantischen Austauschsemesters in "Oh lala Paris" das Lachen vergangen. Im eiskalten Kämmerlein unterm Dachgiebel hat auch der malerische Blick aus dem Fenster nur begrenzt geholfen. "I`m fine!" kreischt sie verzweifelt ihren Eltern am Telefon entgegen und verflucht die obligatorische amerikanische gute Laune.
Dann hat Vanessa Stern selbst ihren Auftritt als leibhaftiger Schiss, in ausgestopfte Strumpfhosen eingezwängt, mit graubraunem Schleim im Gesicht. Sie kommt, schaut, und geht wieder, charmant feuchte Fußspuren hinterlassend. Der Schiss bleibt stumm, es hätte schlimmer kommen können.
Zum Schluss wird es noch einmal gruselig: Valerie Oberhof, angetan mit einer Perücke, die wie Amy Winehouse` gelöster Beehive aussieht, versucht fiesen Trennungsschmerz mit Telefonstreichen bei der Polizei zu bekämpfen und träumt als Ornithologin davon, ein Fink zu sein. Das Lachen nimmt gefährliche Dimensionen an, wer weiß, wozu diese Frau fähig ist!

Butterbrot mit Schnittlauch

Zwei bezopfte Damen haben schon seit Beginn der Show Butterbrote geschmiert (auch vegan erhältlich!), der Reinerlös dessen ist alles, was die Künstlerinnen heute Abend verdienen. "Da können die sich dann ein Snickers kaufen oder so", kommentiert Stern. Willkommen in der vielgelobten freien Berliner Kulturszene, Ausbeutung de Luxe.

Vanessa Stern hat es sich zur Aufgabe gemacht, "geschlechtsspezifische Zugänge zur Komik" zu erforschen, denn die Krise der weiblichen Komik ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, so viel steht fest. Doch das Schöne an der Scheiße ist, dass Komik dort beginnt, wo es nicht mehr weitergeht und frau dann richtig auf die Kacke hauen kann. Vanessa Stern und ihre Gästinnen wagen das Unvollkommene, das konsequenterweise das Risiko des Scheiterns birgt: Nicht alle Performances machen auf die gleiche Weise Spaß. Und genau das ist das Interessante daran, denn hier wird der Entstehungsprozess der Komik selbst untersucht, und den kann frau auch dann besonders gut beobachten, wenn diese mal nicht zündet. Das Publikum jedenfalls umarmt die unterhaltsamen Katastrophen bereitwillig, rumgeheult wird woanders. Jetzt gibt es erstmal Butterbrot.

Zur Künstlerin: Vanessa Stern, geboren 1976 in Graz, Österreich, schloss 2001 ihr Schauspielstudium an der Universität der Künste in Berlin ab. Sie war einige Jahre am Kölner Schauspielhaus engagiert und wurde 2005 als Beste Nachwuchsschauspielerin Nordrhein-Westfalens ausgezeichnet. Seit 2007 arbeitet sie als freischaffende Theater- und Filmschauspielerin in Berlin, engagiert sich unter anderem beim globalisierungskritischen Netzwerk attac und gründete als Stipendiatin der Graduiertenschule der Universität der Künste Berlin das "Krisenzentrum für weibliche Komik", das die Basis ihrer Performance-Reihe "La dernière Crise" ist, die sie seit April 2011 im Theaterdiscounter und nun in den Sophiensaelen veranstaltet.
Mehr Infos unter: www.heulenkannjede.de

AVIVA-Tipp: Vanessa Stern präsentiert in ihrer Spätabendshow alle zwei Monate Performerinnen, die zu einem bestimmten Thema auf ganz unterschiedliche Art mit Krise und Komik spielen. "La Dernière Crise" ist eine Plattform für konstruktive Katastrophenforschung, denn die Krise ist voll ungenutzter Potentiale, und das Private hat durchaus politische Dimensionen. Vanessa Stern experimentiert auf radikal-ehrliche Art mit der Darstellung von Komik, das Publikum wird zur Komplizin, es wird durch Höhen und Tiefen der Performances mitgeschleift und amüsiert sich ausgiebig. Das Lachen am Rande des Nervenzusammenbruchs verhandelt Wahrheiten, die ans Licht geholt werden wollen und die die verschiedenen Krisenspezialistinnen live analysieren. Dabei entsteht ein selbstbewusst unperfekter Abend, der jedes Mal ganz anders ist.

Vanessa Stern - "La Dernière Crise. Frauen am Rande der Komik"
Nächster Aufführungstermin: 19. Januar 2012, 21 Uhr
Veranstaltungsort:
Sophiensaele, Kantine
Sophienstraße 18
10178 Berlin
Eintritt: 10/5 Euro
Karten unter: Tel.: 030 – 283 52 66 oder online: www.sophiensaele.com/karten
Weitere Infos:
www.sophiensaele.com

Trailer "La Dernière Crise"



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Beitrag vom 22.11.2011

AVIVA-Redaktion