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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 16.08.2007


Am Ende kommen Touristen
Annegret Oehme

Ein ungewöhnlicher Film von Regisseur Robert Thalheim über das gewöhnliche Dilemma der Menschen im Umgang mit der Geschichte der Nationalsozialistischen Diktatur




Das Licht im Kino geht aus. Man hört das Rattern eines Zuges.

Nein, die ersten Assoziationen sind falsch. Aber nicht ungewollt. Die erste Filmszene zeigt, wie ein gewöhnlicher Personenzug in den Bahnhof von Oswiecim einfährt. Unter den Aussteigenden findet sich ein blonder, junger Mann, in Pulli und Jeans, der sich suchend umblickt. Sven.

Eigentlich wollte Sven seinen Zivildienst in Amsterdam machen, aber die einzige freie Stelle bot eine Begegnungsstätte in Polen, genauer: in Oswiecim. In der Stadt, deren deutscher Name Auschwitz eng mit den Verbrechen der NS-Diktatur verknüpft ist, soll er sich um den eigenwilligen KZ-Überlebenden Krzeminski kümmern und bei der Betreuung von Jugendgruppen helfen. Schnell wird ihm klar, dass die Arbeit gar nicht so einfach ist. In einem Ort, der von seiner traurigen Geschichte bestimmt wird, ist nichts einfach oder normal.

Mit dem Eintauchen in diese Geschichte beginnt für Sven die Suche nach seinem eigenen Weg und einer eigenen Meinung.
Dabei hilft ihm auch die junge polnische Fremdenführerin Ania. Dass es für sie ganz normal ist, an einem solch "geschichtsträchtigen Ort" zu wohnen, will Sven zunächst nicht glauben. Und tatsächlich: wenn sich auch alle mit der Situation arrangiert zu haben scheinen, wollen doch die meisten weg. Außer Krzeminski. Er glaubt, noch eine Aufgabe zu haben und erzählt weiter von den erschütternden Erfahrungen in der NS-Zeit. Aber nicht immer mit dem "gewünschten Erfolg", wie der Kommentar einer Zuhörerin zeigt: "Ich hatte das Gefühl, dass sein Vortrag an Wirkung verloren hat".

Und immer wieder hört Sven den Satz "Ich finde das gut, was Sie hier machen." Ja, was macht er denn da? Er wechselt Glühlampen oder greift einem übereifrigen Pädagogen unter die Arme. Dieser lässt Schulklassen mit Edding auf farbige Kärtchen schreiben, was sie denn so gefühlt haben, bei der Führung übers Gelände. Außerdem belehrt er alle, dass sie sich an einem "sensiblen Ort" befänden. Was ist denn ein "sensibler Ort"? Einer, an dem gegenüber von Wachtürmen ein Gemüsehändler seine Ware feil bietet? Nein? In Auschwitz ist das so. Trotz Sensibilität... Immer wieder lässt der Regisseur die Bilder wirken, um diese scheinbare Unvereinbarkeit auszudrücken. Irgendwie scheint das Leben in Oswiecim 1945 stehen geblieben zu sein und doch geht es weiter.
Der ganze Film steckt voller Widersprüche und Plattitüden.
Kritisch werden die Absichten aufgedeckt, mit denen mancherorts "Gedenken" geschieht. Wenn im Film der deutsche Chemiekonzern einen Gedenkstein errichtet, dann der positiven Publicity wegen und nicht, um an die Opfer zu erinnern.
Am Ende ist Sven das alles zu viel und er will aufgeben. Doch allmählich merkt er, worum es wirklich geht...

Das Filmteam erlebte schon bei den Vorbereitungen, wie schwierig die Situation vor Ort ist. Die Drehgenehmigung wurde mit dem Hinweis "Wir sitzen hier auf einem Pulverfass" verweigert. Das Drehen auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers wurde auch Steven Spielberg nicht erlaubt.

Zum Regisseur: Für den Berliner Filmhochschulabsolventen Robert Thalheim war das Thema des Films kein unbekanntes. Er selbst hat seinen Zivildienst in einer Begegnungsstätte in Auschwitz geleistet und diese merkwürdige Form des Tourismus selbst immer wieder erlebt. Auch die Figur des Krzeminski entstammt der Realität. Zu Thalheims Zeit gab es im Ort noch drei Auschwitzüberlebende, die geblieben sind, um auch den folgenden Generationen von den dort verübten Verbrechen zu berichten.

Mit Alexander Fehling ist die Hauptrolle wunderbar besetzt. Robert Thalheim wünschte sich gezielt ein noch unbekanntes Gesicht, das nicht schon mit bestimmten Filmen assoziiert wird. Die Rolle des Sven, den Fehling sehr realistisch und völlig unkünstlich darstellt, nimmt man ihm ohne Zweifel ab. Der junge Schauspieler ist derzeit in Peter Steins "Wallenstein" Marathon in Berlin zu sehen.

AVIVA-Tipp: Dieser Film, der als deutscher Beitrag auf dem Festival in Cannes zu sehen war, setzt sich gezielt mit der Realität des "Holocausttourismus" auseinander. Er will keine Kritik an den Gedenkstätten sein, sondern möchte die Motive und Erwartungen der BesucherInnen hinterfragen. Auf den Punkt bringt dies besonders eine Szene, in der Krzeminski sagt, man solle den Leuten "Schindlers Liste" zeigen, denn der Film würde mehr Eindruck machen als sein Vortrag. Prädikat: pädagogischer als manche Geschichtsstunde.

Am Ende kommen Touristen
Deutschland 2007
Regie und Drehbuch: Robert Thalheim
DarstellerInnen: Alexander Fehling, Ryszard Ronczewski, Barbara Wysocka, Piotr Rogucki
FBW: Besonders wertvoll
85 Minuten
DVD-Infos:
Ab 22. Februar 2008 auf DVD im Handel
(Warner Home Video Germany)
Bildformat: 16:9 Tonformat/Sprache: Dolby Digital 5.1 - Deutsch
Untertitel für Hörgeschädigte: Deutsch Altersfreigabe: O. a.
DVD-Specials: Audiokommentar von Regisseur Robert Thalheim, Featurette: Reisetagebuch Jerusalem (Nov./Dez. 2007), Kurzfilm: Dachau bei München

Weitere Informationen zum Film unter: www.amendekommentouristen.de


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Beitrag vom 16.08.2007

AVIVA-Redaktion