Judith Drumer, geborene Abramovich - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Juedisches Leben Writing Girls



AVIVA-BERLIN.de 3/5/5785 - Beitrag vom 26.06.2012


Judith Drumer, geborene Abramovich
Michal Fuchs

Die 29 Jahre alte Projektteilnehmerin Michal Fuchs ist eine israelische Bloggerin und Illustratorin. Auf ihrem Weg durch Worte und Bilder hindurch schickt sie ihr Alter Ego auf die Spur einer...




... Frau, die bereits seit 22 Jahren tot ist.

Fühle ich mich als Jüdin in den Straßen Berlins gejagt?
Oder ist es meine jüdische Identität, die mich verfolgt, während ich über das Berliner Kopfsteinpflaster fliehe?


Zuerst wollte ich eine Frau finden, die bereits tot ist. Ich wollte wissen, ob ich sie wieder zum Leben erwecken kann.
Dann wollte ich an Ori schreiben.
Ori Drumer war der Leiter meines Instituts am College in Jerusalem.
Für mich ist er ein Mentor und eine Inspiration, er verarbeitet die Deutsch-Israelische Geschichte in seiner eigenen Kunst.
Also schrieb ich an ihn.
Er schrieb zurück und erzählte mir von seiner Mutter, Judith.
Ich wusste nur sehr wenig über sie, er hat ein Buch (Ori- עור` "Gvanim" publishing house 1996) und auch ein Theaterstück über sie geschrieben, und doch, die Details, die er mir erzählte, waren vage und manche davon, ohne, dass er es wusste, nicht wahr. Seine Mutter Judith starb 1990 im Alter von 58 Jahren. Sie hatte ihm fast nichts aus ihrer Vergangenheit erzählt (wie so viele aus dieser Zeit es taten).
Er gab mir einen Namen, Axel, der Cousin seiner Mutter. Er sagte mir, dies sei ein guter Anfang.
Ich weiß immer noch nicht, was ich hier zu tun versuche, vielleicht geht es um Judiths Identität, in direktem Bezug zu meiner eigenen. Vielleicht geht es darum, was von der Identität einer Person übrigbleibt, wenn diese stirbt. Oder vielleicht versuche ich auch nur, Judiths Identität wieder zum Leben zu erwecken.


© Michal Fuchs "Er schrieb zurück und erzählte mir von seiner Mutter, Judith"

Ich habe meinen Blog FUCHS mit mir genommen und bin hierher gekommen. Im Blog werden viele dieser Fragen nach Identität gestellt, die um meine persönlichen Erfahrungen als kleine Füchsin kreisen, die vor zwei Jahren aus der wilden Wüste nach Berlin kam. Durch meine Zeichnungen, die ich mit Texten kombiniere, versuche ich, die Paradoxien von Situationen zu vermitteln, die ich als Jüdin, Israelin und Nichtdeutsche in Berlin erlebe, beinahe jeden Tag.

Fakten (nach Oris Angaben):
Judith Drumer (Abramovich), Ori`s Mutter, 1932 als Tochter von Johanna Noebel (Christin, die vor dem Krieg zum Judentum konvertierte) und Dov Abramovich, einem nicht-orthodoxen Juden, geboren.
Johanna und Dov ließen sich scheiden.
Johanna und Judith flohen aus Lettland nach Deutschland, wo Johanna während des Krieges und danach blieb.
Johanna heiratete einen Deutschen, der kein jüdisches Mädchen in seinem Haus haben wollte, und darum Judith nach Flensburg schickte.
1948 kam Judith nach Israel.
Sie starb vor 22 Jahren an Krebs. Sie hatte zwei Kinder, eines davon ist Ori, mein früherer Lehrer.
Ori hat seine Großmutter Johanna nie kennen gelernt.
Norma, Judiths Stiefschwester und Tochter von Johannas zweitem Ehemann, und Axel, ihr Cousin, leben immer noch in Berlin.


(Notizen an mich selbst):
Der Wandernde Jude...
("Mendele Mocher Sforim" Geschichten lesen)
Ori nach Büchern zum Wandernden Juden fragen
Ori fragen, ob ich Axel treffen kann, bevor Ori nach Berlin kommt


Gestern haben wir Axel angerufen.
Hannes, mein Freund, rief an, damit er zunächst auf Deutsch mit ihm sprechen konnte.
Seine Frau ging ans Telefon. Hannes stellte sich vor und sagte ihr, dass wir wegen Axels Cousine Judith Drumer anrufen.
Sie sagte "Wir sind nicht interessiert" und legte auf. Später, als wir erneut anrufen, werden wir verstehen, dass es ein Missverständnis war. Sie dachte, er wollte ihr etwas verkaufen.

Was ist jüdische Identität?

  • Was waren zu dieser Zeit die Konsequenzen daraus, zum Judentum zu konvertieren?
  • Warum hat Johanna das getan? Hat sie es bereut?
  • Hat es sie ihr Leben lang verfolgt? Oder ihre Tochter?
  • Was fühlte Judith, als sie 48 nach Israel kam?


    © Michal Fuchs "Fakten (nach Oris Angaben)"

    Judith Abramovich ist vor 22 Jahren gestorben.
    Sie hat ihre Geheimnisse teilweise mit ins Grab genommen. Vielleicht sind sie noch immer dort und zersetzen sich in Frieden.

    Menschen erinnern sich an die Toten, indem sie subjektive Erinnerungsstücke oder Geschichten benutzen, die (ob nun bewusst, oder nicht) unwahr sein können.
    Ist es das, was von den Toten übrigbleibt?
    Was sie erzählt haben oder was jemand anderes über sie erzählt? Selbst dann, wenn es Lügen oder nur Halbwahrheiten sind?
    Die Toten sind tot, sie würden nichts Neues entdecken oder erzählen. Und selbst dann ist es einfacher, Fakten zu verdrehen, die Toten können sich nicht verteidigen, es wird zum einem einseitigen Verfahren.

    Ist die Wahrheit in diesen Fällen so wichtig? Wenn subjektive Fakten zur absoluten Wahrheit werden?

    Wenn ich diese Geschichte nicht hervor hole, wird Judith Abramovichs Identität (zusammen mit der ihres Sohnes) vielleicht dort begraben bleiben, neben den verwesten Geheimnissen, in weiße Laken gewickelt.

    Wichtige Fragen an Axel, Judith Abramovichs Cousin:
    Was war der Grund dafür, dass Judiths Mutter Johanna konvertierte?
    Wo haben sich Johanna und Judith während des Krieges versteckt?
    Was hat Judith schließlich dazu bewegt, nach Israel zu gehen, und warum nur 1948?


    Wir haben ein Treffen mit Axel vereinbart.
    Wir werden ihn am Sonntagmorgen in seinem Schrebergarten treffen.


    Kapitel 2

    Nach jüdischer Religion ist jedes Kind einer jüdischen oder einer konvertierten Mutter jüdisch.

    Nach dem israelischen Rückkehrgesetz ist jedes Kind einer jüdischen oder einer konvertierten Mutter oder jedes Kind, das nach der Definition der Nazis jüdisch ist, jüdisch.

    Nach den Nürnberger Gesetzen klassifizierten die Nazis Menschen als Juden, wenn diese drei oder vier jüdische Großeltern hatten. Eine Person mit nur einem jüdischen Großelternteil war ein "Mischling zweiten Grades", eine Kreuzung "gemischten Blutes", und ein Mensch mit zwei jüdischen Großeltern war ein "Mischling ersten Grades".

    Meine Email an Ori (Informationen aus dem Interview mit Axel):

    Johanna Noebel (Abramovich, Heidrich):
    Deine Großmutter, Judiths Mutter und die Schwester von Charlotte (Axels Mutter).

    Johanna hatte drei Kinder:
    Judith Drumer (Abramovich), gestorben 1990. Vater: Dov Abramovich
    Ruth E (Abramovich), lebt noch und steht in gutem Kontakt zu Ori. Vater: Dov Abramovich.
    Norma H, lebt noch. Vater: Otto Heidrich.

    Johanna ist nicht zum Judentum konvertiert wie Axel uns sagte, sie wurde in Altenburg in Deutschland geboren and traf dort Dov Abramovich, ein säkularen Juden, der gekommen war, um für den Bosch-Konzern zu arbeiten. Sie heirateten, zogen nach Riga (Lettland) und bekamen Ruth (ich weiß nicht, wann sie geboren wurde) und Judith (etwa 1934).


    © Michal Fuchs "Mischling (a crossbreed, of "mixed blood"

    Irgendwann vor 1938 ließen Dov Abramovich und Johanna sich scheiden und 1938 emigrierten Dov und Ruth, die ältere Tochter, nach Israel.
    Judith und Joanna blieben bis 1943 in Riga.

    (Fragen an mich selbst):
    Wann heiratete Johanna Dov?
    Wann und warum ließen sie sich scheiden?
    In welchem Jahr ist die Familie nach Riga gezogen? Sind sie vor den Nazis aus Deutschland geflohen?


    Riga wurde im Juli 1941 von den Nazis besetzt, während Johanna und Judith dort waren. Dov war bereits vor 1938 mit Ruth nach Israel gereist.
    Am 25. Oktober 1941 wurden alle Jüdinnen und Juden ins Rigaer Ghetto gebracht und am 30. November sowie am 8. und am 9. Dezember erschossen die Nazis um die 27.500 lettische Jüdinnen und Juden aus dem Ghetto an zuvor ausgehobenen Gruben im nahen Wald von Rumbula.
    Ori sagte, dass Johanna in Riga von der Gestapo verhört wurde. Die Geschichte ihres Bruders Werner war es, die ihr half, mit der Gestapo über das Leben ihrer Tochter zu verhandeln. Er war zu Beginn des Krieges getötet worden, als die deutschen Truppen nach Frankreich gekommen waren.
    Außerdem war Judith eine Mischling ersten Grades, keine "ganze" Jüdin.
    Und doch…
    Reichte es aus, nur eine Mischling ersten Grades zu sein, um ihr Leben vor dem Massaker von Rumbula zu bewahren?

    Grob geschätzt müsste Judith zu dieser Zeit etwa sieben Jahre alt gewesen sein, musste sie ihre Identität geheim halten?
    Stammte Dov ursprünglich aus Riga? Wenn ja, dann mussten die Leute gewusst haben, dass er und seine Tochter jüdisch waren.

    In 1943 nahmen sie einen Koffer und den Hund und flüchteten zu Johannas Schwester Charlotte und ihrem Sohn Axel nach Pritzwalk in Deutschland.

    Ist Johanna deshalb mit Judith nach Pritzwalk geflohen, weil Judiths Identität entdeckt worden war?

    Während dieser Zeit, so sagte Axel, verbarg Johanna Judiths jüdische Identität. Sie änderte Judiths Familiennamen von Abramovich zu Noebel, ihrem eigenen Mädchennamen.

    Judith war auch Mitglied im BDM (Bund Deutscher Mädels). In der neuen deutschen Kleinstadt waren die Leute niemals misstrauisch wegen Judiths Identität. Vielleicht, weil ihr Großvater, Johannas Vater, in der Nazipartei war, oder vielleicht, weil Charlotte die Besitzerin des (einzigen?) Gemüseladens der Stadt war. Charlotte selbst wusste das Geheimnis und verbarg es vor allen anderen. Axel, ihr Sohn, wusste es damals nicht.

    In Pritzwalk lernte Johanna Otto Heidrich, einen Wehrmachtssoldaten, kennen. Sie heirateten und bekamen ein Kind, Norma.

    Nach dem Krieg, 1946, ging die Familie aus Angst vor den Russen nach Flensburg (in Westdeutschland) – vielleicht besonders deshalb, weil Ottos Vater ein Wehrmachtssoldat gewesen war.

    Axel erzählte auch, dass Otto Judith oft mit einem Gürtel verprügelte, dass er nicht ganz zurechnungsfähig gewesen sei.
    Darum bat Dov darum, seine Tochter zu sich nach Israel nehmen zu können.

    Im Jahr 1948 zog Judith um und lebte mit Dov und ihrer Schwester Ruth zusammen in Israel (die Engländer erlaubten nur Kindern unter zwölf Jahren, ihren Eltern nach Israel zu folgen. Judith war vierzehn, aber sie haben es geschafft, sie jünger aussehen zu lassen).

    Johanna and Otto (with Norma? or before she was born?) moved to Berlin a few months before Judith left for Israel.


    © Michal Fuchs "Im Jahr 1948 wanderte Judith aus, um mit Dov und Ruth, ihrer Schwester, in Israel zu leben"

    Johanna starb 1954 in Berlin, ohne jemals in Israel gewesen zu sein.
    Judith hatte zwei Kinder in Israel, Ori und seine Schwester, und starb 1990, im Alter von etwa 56 Jahren, an Krebs.
    Norma will gar keinen Kontakt zu Axel, weil dieser schlecht von ihrem Vater Otto spricht.

    Wusste Otto von Judiths jüdischer Identität? Ist Judith nach Deutschland zurückgekehrt, um ihre Mutter zu besuchen? Ist es möglich, dass Judith ihre Kinder belogen hat, und ihnen erzählte, ihre Mutter sei konvertiert, um ihnen ein sicheres Leben als "echte" Juden in Israel zu ermöglichen?

    Axel sagte, dass er sich über Deinen Anruf freuen würde, ich erzählte ihm ein wenig von Dir. Er sagte, dass er ein paar Mal versucht hatte, Deinen Vater zu erreichen, aber es gab keine Verbindung. Falls Du ihn anrufen willst, lass es mich wissen und ich schicke Dir seine Nummer.

    Oris Antwortmail an mich (meine grobe Übersetzung aus dem Hebräischen):

    Michal.
    Ich wusste, dass es gute Gründe gab, Dich zu bitten, mir die Geschichte nicht am Telefon zu erzählen, das Meiste davon war mir nicht bekannt.

    Man hat mir andere Dinge erzählt, natürlich keine Details, obwohl ich wusste, dass der zweite Ehemann ein Nazi war, aber nicht mehr als das. Nichts über die verschiedenen Städte, die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend und so weiter, sie hat mir gar nichts erzählt und natürlich wusste ich nichts von den Schlägen ihres Vaters, dies ist ein Missbrauch, oder davon, dass die Mutter ihr Kind hergeben musste, ein weiterer Missbrauch. Es war sehr hart für mich, das zu erfahren und ich weine nun schon eine Weile, vielleicht wegen des Unglücks meiner Mutter, weil sie niemals jemandem etwas erzählt hat, und vielleicht auch nicht.

    Ohne wirklich etwas zu wissen, hatte ich seit vielen Jahren eine tiefere Verbindung zu Nazis vermutet, aber jetzt, da die Geschichte deutlicher wird, merke ich, dass ich tatsächlich immer geargwöhnt habe, dass meine Großmutter nicht jüdisch war. In meinem Inneren hat es nie einen Sinn ergeben und ich habe nie den Geschichten geglaubt, die sagten, sie sei jüdisch gewesen. Es spielt keine Rolle für mich, was zählt, ist, dass ich 46 Jahre lang mit einer Lüge gelebt habe.


    Ich warte darauf, dass Ori nach Berlin kommt.

    Kapitel 3

    Diese meine jüdische Identität wird immer ungenauer.
    Judith war jüdisch genug, dass sie ihre Identität vor den Nazis verbergen musste, aber nicht jüdisch genug, um nicht dem BDM beizutreten, sie war jüdisch genug, um nach Israel zu gehen, aber wenn ihre Mutter nicht konvertiert ist, dann war sie nicht jüdisch genug, um jüdisch zu sein.


    © Michal Fuchs "Diese meine jüdische Identität wird immer ungenauer"

    Was, wenn Oris Mutter (oder Großmutter) über die Konvertierung gelogen hat, was ist er dann? Er hat sein halbes Leben in dem Glauben gelebt, er sei jüdisch, seine Umgebung und sein Land behandelte ihn als Juden, vielleicht reicht das?

    Er schrieb mir, dass, abgesehen davon, dass er eine Lüge gelebt hat, die Frage der jüdischen Identität für ihn keine Rolle spielt. Hätte etwas Vergleichbares für mich eine Rolle gespielt?

    Obwohl ich nicht religiös bin oder an irgend eine Gottheit glaube – wenn mich jemand fragen würde, "Bist du jüdisch?", wäre meine mechanische, trockene Antwort immer Ja. Warum ist diese Sache für mich so schwer abzustreifen? Vielleicht ist es wegen der Geschichte, die uns verfolgt, uns auf den Fersen ist, auf unseren Schultern landet, nur wenn es ihr gerade passt, so schwer zu tragen.

    Und doch,
    Wir werden geboren und dann sterben wir. Die Jahre vergehen immer schneller. Warum sollte ich jedes Mal, wenn ich am Ende des Tages, auf meinem blauen Sofa, mit meinem deutschen Freund, einen Film schaue, sechs Millionen Menschen auf meinen Schultern schleppen?


    © Michal Fuchs "Untitled"

    Vielleicht, weil ich Israel verlassen habe, vielleicht deshalb, du zu etwas dazugehören willst, nachdem du Grenzen, Familie und FreundInnen hinter dir gelassen hast. Du brauchst eine Zugehörigkeit zu etwas.

    Meine Therapeutin sagte, dass jedes Mal, wenn wir ein starkes Gefühl, einen Glauben oder eine Meinung "ablegen", welches uns vor langer Zeit eingegeben wurde, ein Teil von uns stirbt. Vielleicht habe ich deshalb in letzter Zeit so große Angst vor dem Tod, das Ende scheint im Moment so nahe zu sein. Vielleicht sterben gerade Teile von mir und es schmerzt, und mein Fleisch wird langsam sichtbar, dieses Fleisch, das genau so aussieht, wie das aller anderen.

    Deshalb will ich die Vergangenheit nicht leben, auch wenn ich mich an sie erinnern und aus ihr lernen will.

    Vielleicht hat Drummers Mutter ihrem Sohn deshalb nichts von ihrer Vergangenheit und seiner Zukunft erzählt, vielleicht wollte sie nicht, dass seine Schultern schmerzen, vielleicht ist sie so gestorben und vielleicht ist diese Geschichte darum so traurig.

    Ich warte immer noch darauf, dass Ori nach Berlin kommt.


    © Michal Fuchs "Warum ist diese Sache für mich so schwer abzustreifen?"

    Zwei kurze Geschichten:

    Geschichte Nr. 1

    Vor einigen Tagen sah ich im U-Bahnhof einen glatzköpfigen Mann, in einer schwarzen Uniform, hohen glänzenden Stiefeln, einer schwarzen Militärmütze und einem kleinen Anstecker mit dem Wehrmachtssymbol darauf. Er hatte einen großen schwarzen Hund mit Maulkorb (מחסום פה) dabei.

    Ich ging dicht an ihm vorbei. Er sah mich nicht und ich starrte ihn an, bis schwarze Flecken vor meinen Augen tanzten. Mir war schwindelig. Dann trafen sich unsere Blicke. Ich hatte furchtbare Angst. Ich hielt ein Buch auf Hebräisch in der Hand. Ich ging schneller, auf die andere Seite des sehr leeren Bahnhofs. Ich schaute in seine Richtung und wartete darauf, dass er herüber kam, aber er kam nicht.

    In der Bahn saß ich dort, wo ich ihn sehen konnte.
    Ich starrte ihn offen an.
    Ich dachte darüber nach, was ich zu ihm sagen könnte.



    © Michal Fuchs

    Geschichte Nr. 2

    Als ich heute mit meinem Fahrrad die Straße hinunter fuhr, geriet ich zu schnell vor ein Auto. Es war mein Fehler, aber kein besonders schlimmer.

    Der Fahrer wurde sehr wütend und brüllte etwas auf Deutsch. Ich sah mich nicht nach ihm um. Ich fuhr weiter und fühlte mich ein bisschen schlecht, aber nicht zu sehr, denn es war alles nicht so schlimm. Der Fahrer drosselte seine Geschwindigkeit, fuhr direkt neben mich und brüllte mich immer weiter an. Ich wurde immer wütender, bis ich, ohne in seine Richtung zu schauen, auf Hebräisch "Tamshich linsoa, ya Nazi" (Fahr weiter, du Nazi) rief. Der Fahrer wurde still, blieb einige Sekunden stehen und fuhr dann weiter.

    Nur sah ich plötzlich, dass der Fahrer kein Mann, sondern eine Frau, und dass sie sehr alt war.



    © Michal Fuchs

    Michal ist eine 29 Jahre alte Israelin. Sie ist Künstlerin, Grafikdesignerin und Illustratorin. 2009 schloss sie ihr Studium in Digital Art am Musrara College in Jerusalem ab. 2010 zog sie nach Berlin, arbeitet zur Zeit in ihrem Atelier in Kreuzberg an Installationsprojekten und führt einen illustrierten, autobiographischen Blog.

    Blog: fuchsalach.blogspot.de

    Website: michalfuchs.com



    Lesen Sie auch die englische Version dieses Artikels.

    Das Projekt "Jüdische Frauengeschichte(n) in Berlin - Writing Girls - Journalismus in den Neuen Medien" wurde ermöglich durch eine Kooperation der Stiftung ZURÜCKGEBEN, Stiftung zur Förderung jüdischer Frauen in Kunst und Wissenschaft



    und der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ)



    Weitere Informationen finden Sie unter:

    www.stiftung-zurueckgeben.de

    www.stiftung-evz.de


    Jüdisches Leben > Writing Girls

    Beitrag vom 26.06.2012

    AVIVA-Redaktion