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Beitrag vom 16.01.2021
AVIVA-Interview- + Fotoprojekt JETZT ERST RECHT! STOP ANTISEMITISMUS: Rebecca
Rebecca Seidler, Sharon Adler
Um Erfahrungen und Forderungen jüdischer Menschen zu Antisemitismus in Deutschland sichtbar zu machen und ihnen abseits der Statistiken ein Gesicht und eine Stimme zu geben, hat Sharon Adler, Fotografin und Herausgeberin von AVIVA-Berlin das Projekt "JETZT ERST RECHT! STOP ANTISEMITISMUS!" initiiert, das von der Amadeu Antonio Stiftung gefördert wird. Eine der Teilnehmer*innen ist die 1. Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover, selbständige Unternehmensberaterin und Dozentin an der Hochschule Hannover, Dr. Rebecca Seidler. Ihr Slogan lautet: JETZT ERST RECHT! - "Übernimm Verantwortung – Werde aktiv".
AVIVA: Für das Demo-Schild gegen jeden Antisemitismus hast Du das Statement "Jetzt erst Recht! – Übernimm Verantwortung – Werde aktiv" gewählt. Warum ist es Dir wichtig, gerade diese Message zu transportieren? In welchen Bereichen sollte die Zivilgesellschaft mehr Verantwortung übernehmen?
Rebecca Seidler: Mit meinem Statement möchte ich gezielt die nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft ansprechen und auf einen Missstand aufmerksam machen: Nach massiven antisemitischen Vorfällen wie der Anschlag in Halle oder der Brandanschlag auf ein privates Wohnhaus eines älteren jüdischen Ehepaares in der Region Hannover, werden stets gebetsmühlenartig Beileidsbekundungen pressewirksam formuliert. Doch ein nachhaltiges, aktives Engagement im Kampf gegen Antisemitismus vermisse ich - sei es von politischen Akteuer_innen, von Ermittlungsbehörden, aber auch der Zivilgesellschaft. Gerne wird dann auch über Antisemitismus "der anderen" schwadroniert – der eigene bleibt dabei unreflektiert. Es frustriert mich, dass meist nur nach antisemitischen Straftaten Jüdinnen und Juden angehört werden – erst dann möchte man erfahren: "wie geht es euch überhaupt hier in Deutschland? was bewegt euch?" Doch dieses anlassbezogene Interesse an jüdischem Leben in Deutschland wirkt wie ein eingeübtes Prozedere um das schlechte Gewissen, wenn mal wieder etwas passiert ist, zu beruhigen. Ich wünsche mir, dass die Zivilgesellschaft begreift, dass jüdisches Leben hier zu Hause ist – damit dies so bleibt, muss die Zivilgesellschaft Verantwortung übernehmen und durch aktives Handeln im Alltag, wenn Antisemitismus - in welcher Form auch immer - zum Ausdruck kommt, das Schweigen brechen. Verantwortungsbewusst und aktiv werden heißt für mich: Antisemitismus nicht zu bagatellisieren, sondern hinzusehen und nicht zu schweigen.
AVIVA: Synagogen, Schulen und andere jüdische Einrichtungen in Deutschland stehen unter Polizeischutz. Und dennoch: Am 9. Oktober 2019, zu Yom Kippur, dem höchsten Feiertag im jüdischen Kalender, hat ein rechtsextremistischer, antisemitischer Attentäter einen Mordanschlag auf die Synagoge in Halle verübt und 2019 wurde das Wohnhaus eines jüdischen Ehepaars in Hemmingen (Niedersachsen) attackiert. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Eine neue Dimension von Antisemitismus? Wie sicher fühlst Du Dich in Deutschland?
Rebecca Seidler: Polizeischutz kenne ich wie die meisten Jüdinnen und Juden in Deutschland schon, seitdem ich ein Kind bin und jüdische Einrichtungen besuche – daran gewöhnt man sich, leider. In den letzten Jahren wird Antisemitismus jedoch nach meiner Wahrnehmung salonfähiger, was zu extremen antisemitischen Gewaltverbrechen führen kann - so wie in Halle oder in der Region Hannover. Dazu kommt, die jüdische Gemeinschaft ist klein. Antisemitische Angriffe – für die meisten nur eine Nachricht – sind für Juden und Jüdinnen oft das Erlebnis einer Bekannten, eines Freundes oder eines Gemeindemitgliedes. Zudem war Antisemitismus niemals weg – ihn gab es vor der Shoah und auch danach. Was sich jedoch bei mir verändert hat, ist das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden im gemeinsamen Kampf gegen Antisemitismus. Sicherlich gibt es einzelne Polizeibeamt_innen, zu denen ich durch die jahrelange Zusammenarbeit auch eine Vertrauensbasis habe – doch das sind wenige. Aus diesem Grund haben viele jüdische Einrichtungen und Gemeinden auch eigene Sicherheitskräfte, die aus der jüdischen Community kommen und besonders geschult sind. Diese Tatsache zeigt, dass Sicherheitsbehörden den Antisemitismus in ihren eigenen Reihen offensiv angehen müssen – was zur Erhöhung des Sicherheitsgefühls in der jüdischen Gemeinschaft beitragen würde.
AVIVA: Am 21.12.2020 wurde der Attentäter von Halle zu lebenslanger Haft mit Sicherheitsverwahrung verurteilt. Was ist Deine Meinung dazu, bist Du zufrieden mit dem Urteil oder blieben Deiner Meinung nach Aspekte unberücksichtigt?
Rebecca Seidler: Grundsätzlich bin ich mit dem Urteil und auch dem Prozessverlauf zufrieden, wenngleich mich ein Aspekt nachhaltig irritiert. Ich habe kein Verständnis dafür, warum die Bewegungen und Aktivitäten des Attentäters in den Sozialen Medien nur so niedrigschwellig beleuchtet und untersucht wurden – hier scheint es mir, fehlte es an fachlicher Kompetenz bei den Ermittlungsbehörden. Ich bin mir sicher, man hätte sich hier externe Expertise hinzuziehen können, um die Dimensionen seines Agierens vollumfänglich aufzeigen zu können, um folglich auch weitere Mitwisser_innen oder Akteur_innen aus diesen rechtsextremen Kreisen ermitteln zu können. Mir erscheint die These, er sei ein Einzeltäter gewesen, nicht vorstellbar – es müssen Menschen von seiner Gesinnung und auch seinen Gewaltphantasien gewusst haben und hier sind wir wieder bei meinem anfänglichen Statement: Übernimm Verantwortung und werde aktiv – d.h. eben auch: Zusammenhänge erkennen und offenlegen (wollen), um nachhaltig etwas im Kampf gegen Antisemitismus beizutragen.
AVIVA: Anders als auf den prozessbegleitenden Dokumentations- und Rechercheplattformen Belltower.News, NSU Watch, und democ.de gab es während der Dauer des Prozesses nur marginal eine konstante Berichterstattung durch die (öffentlich-rechtlichen wie verlagsunabhängigen) Medien. Hättest Du hier mehr erwartet?
Rebecca Seidler: Ja, eindeutig. Die oben genannten Plattformen haben zum Glück sehr eindrücklich, kritisch und empathisch den Betroffenen gegenüber berichtet – etwas, was ich in anderen Medien vermisst habe. Wenn dort berichtet wurde, stand zudem meist der Attentäter im Fokus – das wiederum halte ich für fatal.
Es sollten die Opfer und deren Namen bekannt werden, sie müssen Gehör und Aufmerksamkeit erhalten. Sie haben überlebt. Doch sie müssen nun mit einem Trauma leben, was sie immer begleiten wird. Hier wäre es das Mindeste, ihnen Empathie entgegenzubringen und ihr Leiden und Überleben in den Fokus der Berichterstattungen zu stellen. Aber die Überlebenden können sich sicher sein: in den Jüdischen Gemeinden, so auch in meiner Gemeinde in Hannover, stehen sie im Zentrum unserer Gedanken und Gebete - nicht nur an Jom Kippur.
AVIVA: Aktuell während der Covid-19-Pandemie kursieren auf den sogenannten "Hygienedemos" der "Querdenker" altbekannte antijüdische Verschwörungstheorien und die Bagatellisierung und Leugnung der Shoa, darunter Bilder von Menschen in KZ-Kleidung oder von Anne Frank und Sophie Scholl. Im Zeitraum vom 17. März bis 17. Juni 2020 wurden dem Bundesverband RIAS 123 Kundgebungen und Demonstrationen bekannt, bei denen es zu antisemitischen Äußerungen kam.
Welche Klischees werden bedient und was hat Dich an diesen Bildern am meisten geschockt oder verletzt?
Rebecca Seidler: Was wir seit Frühjahr auf den Straßen sehen können, ist ein gefährlicher Zusammenschluss von Gruppierungen, die sonst nichts miteinander zu tun haben, die sich aber nun in kruden Verschwörungserzählungen vereinen, welche meist als kleinsten gemeinsamen Nenner die Judenfeindschaft in sich tragen. Häufig ist die Täter-Opfer-Umkehr erkennbar, mit der hier gespielt wird – auf der einen Seite die "Ungeimpften" als heutige Opfer – pervertiert in Formulierungen, man fühle sich wie Anne Frank oder durch das Tragen von gelben "Judensternen" – auf der anderen Seite die "jüdischen Strippenzieher hinter der Pandemie", die Täter. Für mich sind diese Formen der Bagatellisierung und Leugnung der Shoah und das Transportieren von antisemitischen Verschwörungserzählungen nur noch schwer auszuhalten. Hier vermisse ich ebenfalls einen lauteren Widerspruch der Mehrheitsgesellschaft – es gibt ihn zwar, aber nach meinem Empfinden noch zu leise und zu wenig.
AVIVA: Im Kontext von Antisemitismus bezeichnet "Othering" das Ausgrenzen von Jüdinnen_Juden als "Außenseiter_innen", als "nicht-dazugehörig". Wo bist Du schon selbst– real oder im virtuellen Raum - antisemitischen Klischeebildern oder Antisemitismus begegnet?
Rebecca Seidler: Ich bin nun seit über 15 Jahren Bildungsreferentin im Kampf gegen Antisemitismus – im Rahmen dessen setze ich mich auch aktiv für den interreligiösen Dialog ein, um jüdisches Leben sichbar(er) zu machen. Schon oft wurde ich bei solchen Begegnungen mit antisemitischen Klischeebildern konfrontiert – von "ach, so normal sehen Juden aus?" über "Wann fahren Sie mal wieder in Ihre Heimat (Israel)?" bis "Was Ihr Ministerpräsident mit den Palästinensern macht, ist genauso schlimm wie damals die Deutschen mit den Juden". Oft höre ich auch, wenn ich mich zu Antisemitismus in Deutschland äußere: "Dann fahren Sie doch dorthin, wo sie herkommen (nach Israel)". Ich könnte noch viele Erfahrungen zu diesem Thema nennen – aber letztlich bleibt meistens eines: Jüdinnen und Juden können nicht jüdisch und deutsch zugleich sein – mit diesem Gedanken tun sich sehr viele schwer. Und gerade als liberale Jüdin werde ich häufig auch in orthodox-jüdische Klischees gepresst – "wie Sie tragen gar keine Perücke? Sind Sie dann überhaupt richtig jüdisch?"
Dies rührt sicherlich auch aus den tradierten Bildern in deutschen Schulbüchern her – hier dienen meist ultraorthodoxe, männliche Juden als Vorzeigebild eines Juden – das dies nichts mit der Lebensrealität von Jüdinnen und Juden in Deutschland zu tun hat, muss ich denke ich nicht erklären. Dass der Spiegel vergangenes Jahr seine Herbstausgabe damit titulierte "Jüdisches Leben in Deutschland – das Fremde von nebenan" und darunter zwei ultraorthodoxe Männer abbildete, zeigt diese Problematik noch mal sehr deutlich auf. Wenn ich Interviews gebe und Pressefotografen dann von mir ein Foto machen möchten – aber bitte mit einer Menora in der Hand, damit es "irgendwie jüdisch" aussieht, könnte ich nur noch lachen oder weinen. Es muss in die Köpfe rein: ja, wir Jüdinnen und Juden sind Menschen und sehen eben manchmal auch schrecklich langweilig und alltäglich aus – ganz ohne jüdische Folklore.
AVIVA: Hast Du nach Halle oder anderen, gegen Dich persönlich gerichteten antisemitischen Angriffen Solidarität oder Empathie von nicht-jüdischen Freund_innen erfahren? Wo vermisst Du Solidarität? Wo sollten/müssen wir als Jüd_innen mehr Solidarität einfordern?
Rebecca Seidler: Ich habe auch selbst schon einiges an antisemitischen Angriffen und Anfeindungen erlebt, aber zum einen habe ich meinen jüdischen Freundeskreis, dem ich auch nicht erklären muss, was mich bewegt – das gibt mir starken Rückhalt. Und ich habe auch einige wenige, aber dafür sehr enge nicht-jüdische Freund_innen, die mich ebenso unterstützen und mir Empathie und Solidarität zeigen. Zuweilen vermisse ich in konkreten Situationen, in denen es z.B. zu antisemitischen Äußerungen kommt, Solidarität – da wird sich häufig darauf verlassen, dass ich ja schon etwas sagen werde, schließlich bin ich ja auch betroffen, nicht die anderen. Hier würde ich mich gerne mehr Mut und Rückendeckung von den Anwesenden wünschen – also auch hier wieder ein Rückschluss zu meinem Statement: auch wenn du nicht persönlich betroffen bist, übernimm Verantwortung und setze dich aktiv ein: erhebe deine Stimme!
AVIVA: Was sind Deine persönlichen Strategien gegen Antisemitismus, was wären Deine Empfehlungen an Politik und Zivilgesellschaft? Wo ist Deiner Meinung nach die Zivilgesellschaft gefragt, wenn es darum geht, für Demokratie und gegen Antisemitismus einzustehen?
Rebecca Seidler: Im Laufe meiner Tätigkeiten im Kampf gegen Antisemitismus habe ich drei Strategien entwickelt, die für mich hilfreich sind: Erstens Hartnäckigkeit. Zweitens Verbündete suchen. Drittens Humor. Ich möchte es kurz erklären. Ich habe oft erfahren, dass wenn ich auf antisemitische Äußerungen und Vorfälle aufmerksam mache, dieser meist abgewehrt und negiert wird. Antisemitismus soll es nicht geben, also gibt es ihn nicht. Hier ist es wichtig, sachlich und argumentativ stringent zu bleiben – d.h. sich nicht durch eigene Emotionen abbringen zu lassen, sondern hartnäckig zu bleiben, bis das Problem bei allen Beteiligten verstanden und gemeinsam gelöst wurde. Die zweite Strategie von mir ist sich im Kampf gegen Antisemitismus Verbündete zu suchen, denn zusammen ist man weniger allein. Und als dritte Strategie hilft mir Humor. Wenn man sich wie ich aktiv und engagiert gegen Antisemitismus einsetzt, wird man zwangsweise mit vielen Emotionen konfrontiert – mit Wut, Trauer, Sprachlosigkeit und manchmal auch Angst. Umso erleichternder ist es, wenn man über skurrile Anekdoten, die einem widerfahren, auch mit Verbündeten gemeinsam lachen kann – Mein Mann und ich wurden beispielsweise mal von einem christlichen Ehepaar, das zu Besuch in der Synagoge war, gefragt, ob sie uns mal anfassen dürften, da sie noch nie Juden berührt haben. Ich glaube, ich muss nicht weiter ausführen, welch humorvolle Wortgefechte zwischen meinem Mann und mir hierdurch ausgelöst wurden.
AVIVA: Stichwort Antisemitismus an Schulen: Wie beurteilst Du es in dem Kontext, dass die Mutter des Halle-Attentäters Lehrerin ist und an der Grundschule in Helbra (Sachsen) Deutsch, Sachkunde und Ethikunterrichtet? (Nach dem Attentat sagte sie gegenüber Spiegel TV: "Er hat nichts gegen Juden in dem Sinne. Er hat was gegen die Leute, die hinter der finanziellen Macht stehen – wer hat das nicht?")
Rebecca Seidler: An diesem Beispiel wird ein reales Problem sehr deutlich, worauf ich schon seit vielen Jahren hinweise: die mangelnde Ausbildung von Lehrkräften zum Thema Antisemitismus. Bei meinen vielen Schulklassenbesuchen waren meist nicht die Schülerinnen und Schüler in ihren Äußerungen problematisch, sondern die Lehrkräfte. Die Auseinandersetzung mit Antisemitismus und auch die Unterrichtung in konkrete Handlungsmöglichkeiten in der Präventions- und Interventionsarbeit mit Antisemitismus muss fester Bestandteil der Lehramtsausbildung sein. Nur so kann dieses Thema in der Schule bearbeitet und aufgefangen werden. Wenn das nicht zeitnah geschieht, müssen wir realisieren, dass Lehrkräfte wie die Mutter des Halle-Attentäters ihre kruden Gedanken weitervermitteln und somit das Problem verstärken.
AVIVA: Unter Kindern und Jugendlichen wird das Wort "Jude" auf Schulhöfen oder in Sozialen Netzwerken ganz offen als Schimpfwort benutzt. Zudem kommt es unter Schüler*innen immer wieder zur Gewaltbereitschaft mit antisemitischem Hintergrund. Warum, denkst Du, kommt es sogar schon unter Kindern und Jugendlichen zu antisemitischen Denken und Gewaltbereitschaft?
Rebecca Seidler: Kinder werden nicht als Antisemiten geboren. Dies bedeutet, dass Kinder, die sich antisemitisch äußern oder gar später eine antisemitische Gewalttat ausüben, wurden im Laufe ihres Lebens durch ihr soziales und familiäres Umfeld entsprechend geprägt. Der Sozialpsychologe Norbert Elias spricht hier auch von der "emotionalen Landkarte", die unbewusst über Generation weitergegeben wird. Um diese über Generationen weitergetragenen antisemitischen Denkmuster zu durchbrechen, bedarf es einer verstärkten Selbstreflexion und Auseinandersetzung mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Ich erachte es daher als unerlässlich, bereits im Kindergartenalter Themen wie soziales Miteinander, Diskriminierung und Vorurteile altersgerecht zu bearbeiten, um sie entsprechend für den Eintritt in die Schule zu rüsten. Es ist nicht relevant, im Kindergartenalter Buchstaben zu lernen, sondern vielmehr muss die Förderung von sozialen und emotionalen Kompetenzen im Vordergrund stehen. Und diese Förderung muss kontinuierlich in der Schule ein fester Bestandteil des Bildungsprozesses sein. Damit Erzieher_innen und Lehrkräfte dies entsprechend anbieten können, ist jedoch auch ein Ausbau in der jeweiligen Ausbildung erforderlich.
Sharon Adler: Du bist die Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde in Hannover und seit vielen Jahren setzt Du dich für den interreligiösen und gesellschaftlichen Dialog ein. Du engagierst Dich in verschiedenen Projekten zu antisemitismuskritischer Bildungsarbeit für mehr Toleranz. Warum ist die Vermittlung von interreligiösen Kompetenzen Deiner Meinung nach so wichtig?
Rebecca Seidler: Durch meine Tätigkeiten wird mir immer wieder bewusst, wie wenig Menschen von der Kultur und Religion des anderen wissen. Manch einer betont auch, dass diese Hintergründe "egal" seien, da es auf den Menschen selbst ankomme. Diese Perspektive hinkt jedoch nach meinem Verständnis. Denn Kultur und Religion prägt den Menschen maßgeblich, es ist nicht getrennt voneinander zu betrachten, sondern ergibt oftmals eine Einheit im Menschen selbst. Nehmen wir mich als Beispiel: ich bin durch mein Judentum geprägt, meine Familiengeschichte ist ohne Berücksichtigung der jüdischen Geschichte nicht zu verstehen, mein Denken und Handeln ist gestützt auf den Werten, die ich durch meine jüdische Familie und somit durch jüdische Erziehung und Bildung erfahren habe. Es ist nicht möglich mich getrennt von meiner jüdischen Kultur und Religion kennenzulernen, sondern ich bin wie ich bin – auch eben durch mein Judentum. Ich persönlich bin immer sehr neugierig auf religiöse und kulturelle Prägungen von Menschen, damit ich sie als Mensch ganzheitlich erfassen kann. Die Vermittlung interreligiöser Kompetenz kann somit dazu beitragen, mein Gegenüber als Menschen wahrzunehmen, wertzuschätzen – mit all den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu meiner eigenen Person.
AVIVA: Du bist Diskutantin im Jüdischen Quartett, eine Veranstaltung der Amadeu Antonio Stiftung im Rahmen der Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus. Was reizt Dich an diesem Talk-Format zu den unterschiedlichsten aktuellen Themen aus jüdischer Sicht?
Rebecca Seidler: Das Talk-Format bietet vier jüdischen Frauen die Möglichkeit, sich aus unterschiedlichen Standpunkten heraus mit innerjüdischen und gesellschaftlichen Themen auseinanderzusetzen und zu diskutieren und diesen Austausch öffentlich zu führen. Die jüdische Multiperspektivität findet hier seinen Platz und das finde ich persönlich sehr spannend und es macht mir viel Spaß mit den anderen drei jüdischen Frauen zu schauen, wo sind unsere Wahrnehmungen ähnlich und worin unterscheiden sie sich – es gibt eben nicht "die" eine jüdische Sicht. Doch in den bisherigen medialen Angeboten wird diese gerne generalisiert und pauschalisiert – hiermit brechen wir. Wir geben jeder jüdischen Frau dort eine eigene Positionierungsmöglichkeit und das veranschaulicht auch die Diversität innerhalb der jüdischen Community. Zudem bietet es die Chance Themen aus einem jüdischen Selbstverständnis heraus zu beleuchtet, so divers dieses auch ist.
Dr. Rebecca Seidler, M.A. ist Sozialpädagogin, selbständige Unternehmensberaterin, Mediatorin und Coach sowie Dozentin an der Hochschule Hannover. Beauftragte für Antisemitismus und Sicherheit des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden von Niedersachsen K.d.ö.R. und 1. Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover K.d.ö.R. Sie ist Gründungsmitglied vom Bundesverband RIAS e.V. sowie Mitglied im Expert_innenkreis "Offensive gegen Antisemitismus" der Landeshauptstadt Hannover. Gegen Antisemitismus engagiert sie sich außerdem in diversen Projekten sowie auch im wissenschaftlichen Umfeld. Sie hat im Jahr 2000 den Verein "Jung und Jüdisch" und 2007 die liberal-jüdische Kindertagesstätte Tamar in Hannover mitgegründet und 2012 das Buch "Frühkindliche jüdische Erziehung: eine progressive Perspektive - ein Beitrag zur interreligiösen und interkulturellen Pädagogik" veröffentlicht, erschienen im LIT Verlag ( > www.lit-verlag.de).
Rebecca Seidler ist seit 25 Jahren aktives Gemeindemitglied der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover. Bis heute sind dort ihre Tätigkeitsschwerpunkte die die Kinder- und Jugendarbeit, Öffentlichkeits- und Dialogarbeit sowie Beratung und Unterstützung für Betroffene von Antisemitismus.
Seit 2020 ist sie eine der Diskutantinnen im Jüdischen Quartett, eine von Anetta Kahane initiierte Veranstaltung der Amadeu Antonio Stiftung im Rahmen der Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus. In dem regelmäßig stattfindenden Talk-Format "Das jüdische Quartett" melden sich vier Jüdinnen zu den unterschiedlichsten aktuellen Themen zu Wort: von Literatur und Kultur, Religion bis hin zu Fragen von Gesellschaft, Politik und Privatem.
Die Frauen im Jüdischen Quartett sind:
Gastgeberin Anetta Kahane (Gründerin und Vorsitzende des Vorstands der Amadeu Antonio Stiftung, Autorin),
Dr. Rebecca Seidler (1. Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover)
Dalia Grinfeld (Assistant Director European Affairs der Anti-Defamation League und Mitgründerin des jüdisch-queeren LGBTQI* Vereins Keshet Deutschland),
Laura Cazés (Referentin für Verbandsentwicklung bei der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, ZWST)
Moderation: Sharon Adler, (Gründerin und Herausgeberin von AVIVA-Berlin, Vorstand Stiftung ZURÜCKGEBEN)
"Das jüdische Quartett": Mehr Infos, aktuelle Termine und die Links zu den bisherigen Folgen unter: www.amadeu-antonio-stiftung.de/das-juedische-quartett
Mehr Infos zu Rebecca Seidler und der der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover: ljgh.de
Mehr Infos zu Rebecca Seidler auf ihrer Unternehmenswebsite kommunikat Dr. Seidler: www.kommunikat-seidler.de
JETZT ERST RECHT!
Um die Erfahrungen, Perspektiven und Forderungen von jüdischen Menschen in Deutschland sichtbar zu machen und ihnen abseits der Statistiken ein Gesicht und eine Stimme zu geben, hat die jüdische Fotografin und Journalistin, Herausgeberin von AVIVA-Berlin Sharon Adler das Projekt JETZT ERST RECHT! initiiert.
Gefördert wurde das Interview- + Fotoprojekt von der Amadeu Antonio Stiftung.
Copyright: Gestaltet wurde das Signet JETZT ERST RECHT! von der Künstlerin Shlomit Lehavi. Alle Rechte vorbehalten. Nutzung ausschließlich nach vorheriger schriftlicher Anfrage und Genehmigung durch AVIVA-Berlin.
(Copyright Foto von Rebecca Seidler: Rebecca Seidler)