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Jüdisches Leben
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Beitrag vom 14.05.2007
Auf der Flucht – Serén, Ann-Charlott und der alltägliche Judenhass
Pieke Biermann
Die Geschichte hinter der Geschichte, die als "Fall Anne" Ende 2006 durch die Medien ging. Veröffentlicht in der Jüdischen Allgemeinen, im RBB-Inforadio über Podcast zu hören, und auf AVIVA zu lesen
Der Satz, mit dem Serén ihre Geschichte beginnt, ist ungeheuerlich in seiner Nüchternheit: "Ich bin damals neu auf eine Grundschule gekommen, und da hab ich erst nach vier Monaten gesagt, dass ich Jüdin bin, weil - ich dachte mir, jetzt wissen die ja, dass ich kein schlechter Mensch bin oder so." Die das sagt, ist heute, Jahre später, vierzehn. Serén ist nicht ihr richtiger Name, sie hat ihn sich ausgesucht, weil sie Anne nicht mehr hören mag. Als "Fall Anne" ging sie Ende 2006 republikweit durch die Medien. Sie mag gar kein Fall sein. Überhaupt kein Opfer.
Kinder haben, das ist pädagogisches Grundwissen, ein feines Gespür für Macht und Grenzen, und Überleben und Selbstfindung haben auch mit der Entfaltung von taktischem Geschick zu tun. Aber wie kommt ein Kind im Grundschulalter auf die Idee, Jüdischsein sei gleichbedeutend mit schlechter Mensch? Und in was für einem Land leben wir eigentlich, wenn sich so eine erschreckende Gleichung auch noch brutal bestätigt? "Ab da hat das angefangen: Du Scheißjüdin, du bist dreckig! Sie haben mich geschlagen und Eier gegen mein Fenster geschmissen."
Wo sind wir denn? In einem der dumpf-verstockten Provinznester, wo aus dem noch immer "fruchtbaren Schoß" wieder dieselben alten Monster kriechen? Nein. Wir sind in Berlin, der weltoffenen, liberalen Metropole. In Kreuzberg sogar, der Urhöhle für multikulturelle Lebensfreude und alles, was "anti" ist - antibürgerlich, antirassistisch, Antifa. Wer drangsaliert denn hier ein Kind als dreckige Scheißjüdin? "Es waren arabische Kinder", sagt Serén. Knirpse wie sie. Und die Lehrer? "Die haben irgendwelche Strafen gegeben. Und manche haben gesagt: Och, das passiert ja nach der Schule, damit haben wir gar nix zu tun."
Aber die Eltern? Serén hat keine. Nicht in dem Sinn jedenfalls, der solide Bindung, liebevollen Schutz und unbeschwertes Kinderleben bedeutet. Sie lebt in Heimen oder betreuten Wohngemeinschaften und zwischendurch bei ihrer Mutter, die unter psychotischen Schüben leidet. Die haben auch mit den Wunden der Schoa in ihrer Familie zu tun. Serén ist ein einsames Kind, scheu, schreckhaft, schlafgestört. Im Stich gelassen von Erwachsenen, allein unter feindseligen Gleichaltrigen. Das ändert sich erst, als sie auf die Oberschule kommt. Die ist benannt nach einer sozialengagierten jüdischen Feministin und stolz auf ihr integratives multiethnisches Engagement und liegt auch in Kreuzberg. Auch hier bilden die Kids aus muslimischen Kulturkreisen die überwältigende Mehrheit. Aber hier ist Ann-Charlott, genauso alt wie Serén, genauso braungelockt, hübsch, hellwach. Auch sie heißt in Wirklichkeit anders. "Bald waren wir so - unzertrennlich", erzählt Ann-Charlott, "entweder hab ich am Wochenende bei ihr geschlafen oder sie bei mir." Bei Ann-Charlott heißt in einer Pflegefamilie. Allein in Berlin gibt es etwa zweitausend, wenn auch nicht alle so bunt gemischt. Auch Ann-Charlott ist im viel zu zarten Alter traumatischen Erfahrungen ausgesetzt gewesen. Ihre leibliche Mutter war vierzehn, als sie sie bekam, und sechzehn, als sie sie weggab. Mit zweieinhalb kam sie in Marita Leßnys Kreuzberger Patchwork-Familie. Marita Leßny ist gelernte Erzieherin und hat zwei eigene Kinder. Und auch noch Pflegekinder? "Ja, wollte ich immer", lacht sie, "ich denke mal, ich möchte helfen, und ich kann das auch, ich kann an Kinder rankommen, die Furchtbares erlitten haben, und ihnen Stabilität und Liebe geben." Nach der Geburt ihrer Tochter bewirbt sie sich beim Jugendamt um Pflegschaften. Das könne dauern, heißt es, aber plötzlich ist da ein zweijähriges geschundenes Kerlchen, das seinen ersten Entzug im Brutkasten erlebt hat und seine gewalttätigen Eltern nicht mehr lange überlebt hätte. Alle sechs Kinder, die im Lauf der letzten dreißig Jahre zu Marita kommen, sind traumatisierte Opfer, manche so schwer, dass sie wohl lebenslänglich behindert bleiben. Marita Leßny päppelt alle wieder auf, lernt mit jedem neuen Kind dazu über Heilpädagogik und Traumapsychologie, gründet den AktivVerbund Berlin der Berliner Pflegeeltern mit, bildet neue Pflegeeltern aus, organisiert Demos gegen die Sparpolitik des Senats mit. Sie ist eine kämpferische starke Frau, die alle ihre Kinder mit unglaublicher Lebenskraft zu rüsten schafft.
Hier wird aus Ann-Charlott ein selbstbewusstes Mädchen. Sie lässt sich nichts bieten, wenn ihrer Meinung nach etwas nicht richtig ist. Und was sie jetzt erlebt, ist nicht richtig. Serén ist schnell bekannt als "die Jüdin aus der Grundschule". Sie hat einen auffälligen, hebräischen Vornamen, den die arabischen Kids sofort erkennen. Und schon kommen wieder, "so Sprüche, hier riecht´s nach dreckigen Juden und sowas!" empört sich Ann-Charlotte und wirft sich dazwischen, wann immer sie es mitkriegt.
Im Frühjahr 2006 rutscht Seréns Mutter wieder in eine Psychose, und Serén und Ann-Charlott beschließen: Serén muss da raus und am besten mit zu Marita. Die ganze Familie bespricht das, alle finden es toll, und Serén und Ann-Charlott setzen es beim Jugendamt durch. Denn eigentlich darf es nur drei Pflegekinder pro Familie geben, Serén ist das vierte. Im Mai zieht sie ein und blüht auf. Auch wenn das antisemitische Gepöbel weitergeht. Marita Leßny spricht das in der Schule an. "Aber die haben das so´n bisschen abgetan: ´Ach, die meinen das nicht so ernst.´"
Und dann kommt der Sommer und mit ihm der Krieg im Libanon. Der erhitzt die Gemüter überall auf der Welt, er traumatisiert auch viele arabische Kids in Berlin-Kreuzberg, denn viele von ihnen haben dort Familienangehörige oder waren selbst zu Besuch da. Nach den Sommerferien wird es sehr ernst für Serén. "Du hast mein Land bombardiert", wird sie angeschrien, "alle Juden sollen sich aufhängen!" Marita thematisiert das bei Elternabenden. Nichts passiert. Im September wird Serén von einem arabischen Mädchen geschlagen. Ann-Charlott und Serén gehen zur Sozialpädagogin, die Täterin wird zwei Tage vom Unterricht suspendiert. "Dann ging es Schlag auf Schlag", sagt Marita, die das alles später minutiös protokolliert, "zwei Tage später stehen fünfzehn, zwanzig schulfremde arabische Kinder und Jugendliche vor der Schule und schreien: ´Wer ist hier die Jüdin?´"
Wie nennt man das, wenn nicht Pogromstimmung? "Wir sind auch gewarnt worden", erzählt Ann-Charlott, "aber man glaubt doch erstmal nicht, dass es passiert. Das war so ein Schock, zu merken: Da ist ja wirklich! Die warten wirklich da, um uns zu schlagen." Flaschen fliegen, die Mädchen retten sich in einen Hausflur. Jetzt endlich erzählt Serén, dass sie sowas schon in der Grundschule erlebt und immer wieder gehört hat, das sei doch normal in Kreuzberg. Marita Leßny, die mit Judentum bis dato keine besondere Berührung hatte, begreift sofort. Sie geht zur Polizei und erstattet Anzeige. Auch die Beamten vom Abschnitt begreifen sofort und schalten den Staatsschutz ein, der bei politisch motivierter Kriminalität ermittelt. Serén und Ann-Charlott bekommen Polizeischutz. Zehn Tage vergehen mit Konferenzen und Gesprächen zwischen Schulleitung, Polizei, Sozialpädagogen und Eltern, auch denen des schlagenden Mädchens. Die Lage scheint sich zu beruhigen. Marita begleitet Serén und Ann-Charlott ein paar Tage lang und bittet in Läden und Cafés auf dem Schulweg darum, den Mädchen Schutz zu gewähren, falls etwas passieren sollte. Die Ruhe hält nur eine Woche. Dann klingelt nachmittags das Telefon, es ist Ann-Charlott: "Mama, komm schnell!" Marita ruft die Schulleitung an und rast los. Vor der Schule haben sich arabische Mädchen versammelt, Serén als dreckige Jüdin beschimpft, die sich aufhängen solle, und sie getreten und geschlagen, und Ann-Charlott geboxt und angeschrieen, sie solle sich schämen, mit einer Jüdin befreundet zu sein. Die beiden haben Zuflucht in einem Lokal gefunden. Die Konrektorin kommt aus der Schule, erkennt eine der Täterinnen und nennt der Polizei ihren Namen. Marita Leßny ist fix und fertig. Am selben Tag ist zufällig ein RTL-Fernsehteam beim AktivVerbund, dessen Sprecherin ist als "Besonderer Mensch mit Herz" ausgezeichnet worden. Die Fernsehleute kriegen mit, was passiert ist. Und so kommt die Sache in die Öffentlichkeit. Der RBB wird aufmerksam und hängt sich Anfang November rein. Von der Schule noch immer kein Signal der Solidarität, im Gegenteil. "Ich hatte bei all meinen Versuchen das Gefühl, die Schule ist vor allem besorgt, dass sie in der Presse ein schlechtes Bild abgibt", sagt Marita Leßny. Die Bedrohungen gehen weiter, auch durch arabische Mütter. Am 22. November steht morgens in der "Bild"-Zeitung und läuft abends im RBB-Fernsehen, dass in Kreuzberg eine jüdische Schülerin antisemitischen Angriffen ausgesetzt ist. Das alarmiert die Jüdische Gemeinde. Gideon Joffe lädt sofort beide Mädchen zum Tag der offenen Tür der Jüdischen Oberschule drei Tage später ein. Marita Leßny ist hin- und hergerissen, es gibt Familienrat: Ist ein Schulwechsel nicht Kapitulation? Andererseits - was, wenn den Mädchen mehr passiert als Tritte, Schläge, Spucke und Beleidigungen? Die Jüdische Gemeinde bietet an, einen großen Teil der Kosten zu übernehmen. Serén und Ann-Charlott wollen unbedingt auf die JOS. So wie immer mehr jüdische Kinder und Jugendliche in Berlin. Die JOS hat inzwischen pro Klassenstufe einen solchen Fall. Seit dem 1. Dezember nehmen Serén und Ann-Charlott täglich den Weg von Kreuzberg nach Mitte in Kauf, um in eine Schule zu gehen, die von Berliner Polizei und israelischer Security sicher gemacht werden muss. Seitdem hören sie die Schulglocke wieder ohne die Angst: "Was passiert in der Pause? Wem muss ich aus dem Weg gehen?" Sie haben wieder Platz zum Lernen.
Damit könnte eine unerträgliche Geschichte ein, wenn auch bitter schmeckendes, Happyend nehmen. Aber das darf sie nicht. Am 5. Dezember erklärt die linke Berliner Tageszeitung "taz" die Vorfälle an der Kreuzberger Schule zum "Zickenkrieg", der medial "zum antisemitischen Übergriff hochgespielt" werde. Die Konrektorin behauptet im Interview, es sei nur um "eine Eifersuchtsgeschichte" gegangen und "längst in der Schule bearbeitet". So als habe es nie Polizeischutz gegeben und keine Ermittlungen, die zu insgesamt neun Jugendstrafverfahren führen werden. Termine, nebenbei, zu denen immer auch Serén und Ann-Charlott kommen und als Opferzeuginnen aussagen müssen und bei denen sie wieder angezischt und schikaniert werden - von den Eltern der kleinen Täter. Für die Konrektorin sind die wahren Opfer die arabische Schülerin, die als kopftuchtragendes Klischee missbraucht werde, und die Schule, die erst von Medien überfallen werde und dann zwei Schülerinnen entzogen kriege, die ihrerseits von der Jüdischen Gemeinde instrumentalisiert werden. Und dann sagt sie einen Satz, der ungeheuerlich ist in seiner Nonchalance: "Natürlich hat der Konflikt eine antisemitische Komponente, aber..." Was ist eine antisemitische Komponente? Und was daran natürlich? Gehört zu allem, was "anti" ist und in Kreuzberg seine Heimat hat, neuerdings auch Antisemitismus? Und hat der vielleicht verhindert, dass die Konrektorin die beiden akut gefährdeten Mädchen schützt und bestärkt und sich bei ihnen entschuldigt? Zum Beispiel dafür, dass die Schulleitung ja offenbar verschlafen hat, sich mit kluger Prävention vorzubereiten auf die Rückkehr der Schüler nach dem Sommer, in dem gebombt und gestorben wurde, im Libanon und auch in Israel?
Dieser Artikel ist unter dem Titel "Auf der Flucht" in der Jüdischen Allgemeine Nr.19/2007 vom 10. Mai 2007 und im RBB-Inforadio unter dem Titel "Serén, Ann-Charlott und der alltägliche Judenhass" am 5.Mai 2007 erschienen.
"Auf der Flucht" ist auch als Podcast und im Internet unter www.inforadio.de, Suchfunktion: "Recht und Ordnung" zu hören.