AVIVA-Berlin >
Jüdisches Leben
AVIVA-BERLIN.de 3/3/5785 -
Beitrag vom 11.06.2003
Being different
Sharon Adler
Nicola Galliner, die Leiterin des 9. Jewish Film Festivals, im Gespräch mit AVIVA über Anderssein, Hoffnungen und Ziele des Festivals
AVIVA: Das Motto des diesjährigen Festivals lautet: "Being different". Warum?
Nicola Galliner: Weil Unterschiede eher verdeckt oder vergessen werden. Anderssein sollte man akzeptieren, denn es ist auch eine Bereicherung. Wenn wir alle gleich wären, wären wir auch alle sehr langweilig. Das Anderssein kommt im Festival in verschiedenen Facetten zur Sprache. Es ist einmal das Jüdisch-Sein in einer nichtjüdischen Umwelt, das Anderssein in Israel. Im hochinteressanten Film "Ford Transit" kommt das zum Ausdruck. Wir haben zwei Filme über geistig Behinderte, beides von Amerikanern gemachte Filme, und ich denke, Amerikaner sind wesentlich entspannter im Umgang mit Behinderung als wir.
Einer der Filme, "Blessings", hat uns zum Titel des Festivals inspiriert.
Wenn man in dem Film sieht, wie diese kleine liberale Gemeinde in Jerusalem mit den Insassen des Heims für geistig Zurückgebliebene lebt, ist das entzückend!
Die wandern durch den Gottesdienst, undenkbar irgendwo anders! Aber man kann eben auch mit den Leuten auf eine menschlichere Art umgehen.
AVIVA: Sicher ist es sehr schwer, eine Auswahl für das Festival zu treffen?
Nicola Galliner: Das ist einfach immer eine furchtbare Entscheidung. Was nimmt man? Man versucht zum einen, die Länder und Themen zu variieren. Und es ist letztendlich immer eine unfaire Entscheidung. Wie man es macht, ist es unfair. Ich habe jedes Jahr viel zu viele Filme. Normalerweise wiederholen wir den Eröffnungsfilm, das haben wir dieses Mal nicht gemacht. Dann müssen sich eben alle beim Eröffnungsfilm reinquetschen und dann gibt es gleich im Anschluss den nächsten.
AVIVA: Ist seit Beginn des Jüdischen Filmfestivals schon ein Anstieg jüdischer Filme zu verzeichnen? Könnte man schon darüber nachdenken, für das kommende Jahr 10 Tage zu planen?
Nicola Galliner: Das ist eine Geldfrage. Nächstes Jahr, hoffen wir, werden wir bessere finanzielle Möglichkeiten haben.
AVIVA: Gibt es Sponsoren?
Nicola Galliner: Ganz wenige. Aber wir werden uns bemühen, für das 10jährige im kommenden Jahr dies etwas zu verstärken. Die Jüdische Volkshochschule überhaupt befindet sich in einer unangenehmen finanziellen Situation. 2003 haben wir 25% unserer Förderung durch die Jüdische Gemeinde verloren.
Ich weiß nicht, wie es mit dem gesamten Programm überhaupt weitergehen soll. Denn das sind ganz, ganz harte Einschnitte. Es ist mir unverständlich, wir bekamen 1% vom Gemeindeetat und nun bekommen wir nur noch 0,75%. Ich finde, bei 25 Millionen Euro müsste ein bisschen mehr für die Kultur übrigbleiben. Ich finde das Ganze ehrlich gesagt ziemlich skandalös.
AVIVA: Finde ich auch. Besonders, wenn man jüdisches Leben sichtbar machen will...
Nicola Galliner: Die jüdische Gemeinde lebt von öffentlichen Geldern und muss sich der Öffentlichkeit öffnen und präsentieren. Das war auch der Sinn des Jüdischen Gemeindehauses, mit einer Volkshochschule, mit einer öffentlichen Bibliothek. Die Bibliothek hat 50% der Gelder für die Neuanschaffung neuer Bücher gestrichen bekommen - unglaublich. Denn das ist die größte Judaica-Bibliothek Deutschlands und etwas, worauf wir sehr stolz sein können.
AVIVA: Sie sind ursprünglich Fotografin und haben bei Lette gelernt. Fotografieren Sie heute noch?
Nicola Galliner: Nein, es ist einfach nur noch die Liebe zum Bild, zum Film geblieben. Deshalb ist auch das Filmfestival mein Lieblingskind unter den Veranstaltungen in der Volkshochschule.
AVIVA: Welche Hoffnungen und Ziele setzen Sie in das Festival?
Nicola Galliner: Ich hoffe, dass wir es überhaupt weiterführen können.
Auch wenn die Anzahl der Jüdischen Gemeinde-Mitglieder in den letzten Jahren gestiegen ist - wir haben heute knapp 11.500 Gemeindemitglieder. Man rechnet insgesamt mit vielleicht 15.000 Juden in Berlin, das ist ein ganz kleiner Teil der Bevölkerung. Aber das Interesse an denen ist sehr groß. Mit dem Medium Film kann man in jüdische Lebensweisen reingehen und sie nach Berlin holen. Man kann mal schnell von seinem Kinosessel aus nach Paris gucken, oder nach Amerika, oder Israel. Es ist einfach wunderbar.
Ein Ziel des Festivals ist es, auf Reisen zu gehen.
Toll wären Dokumentarfilme über interessante Leute. Wenn man erst den Film von einem Menschen sieht und dann der Mensch selber kommt, merkt man, wie begrenzt ein Film eigentlich ist. Weil er immer nur eine Facette zeigen kann. Eine der interessantesten Personen die wir jemals hatten, war Alice Shalvi aus Jerusalem, die in ihrem Leben mehr gemacht hat, als manch andere in der doppelten Zeit. Erst mal hat sie 6 Kinder, was auch nicht ohne ist. Dann ist sie Professorin für englische Literatur. In Israel hat sie die englische Abteilung der Universität und eine Experimentalschule für religiöse Medien geleitet, und jetzt, im hohen Alter, leitet sie die Jerusalemer Abteilung einer amerikanischen Rabbiner-Ausbildungsstätte. Sie hat das Women´s Network in Jerusalem gegründet und sich sehr für die Rechte der Frau eingesetzt. Sie geht auf die 80 zu und hat die Energie einer 40jährigen. Jedenfalls war es ein unglaublicher Moment, als sie auf die Bühne kam und das ganze Kino aufstand und klatschte. Ich denke, das war auch für sie sehr schön, weil sie eigentlich gar nicht nach Berlin kommen wollte. Ich wollte aber den Film nur mit ihr nehmen. So musste die Filmemacherin sie überzeugen. Sie war nach ihrer Emigration nach England nie wieder in Deutschland. Ich finde es sehr schön, wenn man Leute nach Berlin bringen kann, die sonst nicht kommen würden, denn viele Leute haben immer noch Hemmungen. Wenn man erlebt hat, wie hier alles zerschlagen wurde, tut es diesen Leuten gut, zu sehen, dass auch wieder etwas nachwächst.
Ein anderes Ziel des Festivals ist es, Filme, die man sonst hier nie sehen würde, nach Berlin zu bringen. Und deshalb werden die Ausländer absolut bevorzugt bei uns.
Wir wollen junge Filmemacher fördern, so Tamy Ben Tor, eine 25 Jahre alte Israelin mit dem 10-Minuten Meisterwerk "Women talking about Adolf Hitler".
Ich kann nur sagen, wenn sie jetzt so anfängt, hat sie eine grandiose Zukunft vor sich!
Man versucht auch, für die Filme einen Verleih zu finden. Das ist schon einige Male geglückt. Mit unserer Hilfe wurde z.B. der Film "Zug des Lebens"verkauft, weil wir ihn damals vor einigen Jahren das erste Mal gezeigt haben. Im Spiegel wurde er auf einer ganzen Seite gelobt, das hat den Film verkauft. "Zug des Lebens" war ein Film, der sehr kontrovers diskutiert worden ist, was ich auch verstehen kann. Ich denke, man muss den Mut zum Risiko haben. Auch dieses Jahr zeigen wir Filme, die nicht jedem gefallen werden. Das wäre auch nicht Sinn des Festivals. Man kann ruhig andere Sachen zeigen, als erwartet werden. Hauptanliegen ist ja, Filme zu zeigen, die NICHT auf der Berlinale zu sehen sind.
Manchmal nehmen wir auch Filme, die nicht fertig sind. Letztes Jahr war das der zu drei Vierteln fertige Film "Diwan" ein wunderbarer Dokumentarfilm aus den USA, ich glaube, er ist kürzlich fertig geworden. Eine Amerikanerin kam mal mit einem wunderschönen Film über einen jüdischen Sportler.
Gleich nach der Aufführung hat sie dem Publikum gesagt, sie brauche noch ein paar Tausend Dollar für die letzten Titel, und sofort sprang jemand im Publikum auf und überreichte ihr einen Scheck! Absolut toll. Ganz wichtig für mich: Junge Leute. Ich finde es sehr spannend, wenn man Werke präsentiert, denen man am Anfang mit auf die Beine helfen kann.
Lesen Sie weiter...