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Beitrag vom 09.11.2009
Filmreihe zur Erinnerung an den Holocaust im November 2009
AVIVA-Redaktion
Unter dem Titel "Welchen der Steine du hebst…" findet vom 18 November bis zum 5. Dezember 2009 ein filmisches Gedenken und ein internationales Symposium an der Humboldt-Universität statt.
Das Kulturwissenschaftliche Institut und das Kollegium Jüdische Studien der Humboldt-Universität zu Berlin präsentieren in Kooperation mit dem Hackesche Höfe Kino eine Filmreihe mit 27 Kurz-, Spiel- und Dokumentarfilmen aus zahlreichen Ländern. Die Produktionen bieten ein außergewöhnliches Spektrum der filmischen Verarbeitung des Holocaust.
Der Titel der Veranstaltung ist dem Gedicht "Welchen der Steine du hebst" (1955) von Paul Celan entliehen und verweist auf die Schwierigkeit, sich mit dem Holocaust zu befassen: Denn Steine zu heben bedeutet, wie Celan schreibt, diejenigen zu "entblößen, die des Schutzes der Steine bedürfen".
In den letzten 60 Jahren entstanden zahlreiche Filme, die sich auf sehr unterschiedliche Weise dem Thema nähern und teilweise ein Millionenpublikum erreichen. "Wir möchten nicht nur ein besonderes Spektrum von Holocaust-Filmen zeigen, sondern den Blick darauf richten, inwieweit diese Filme unsere Vorstellung von der Vergangenheit prägen und dadurch mitbestimmen, was in den nachfolgenden Generationen vom Holocaust (noch) erinnert wird. Zumal die Bedeutung und Wirkung dieser filmisch vermittelten Bilder wächst, je seltener auf Erzählungen der Überlebendengeneration zurückgegriffen werden kann", so die Projektleiterin und Berliner Kulturwissenschaftlerin Claudia Bruns.
Eine weitere Besonderheit der Veranstaltung besteht darin, sich auch mit den "Leerstellen" der Erinnerung auseinanderzusetzen. Die Ermordung der europäischen Juden steht im Mittelpunkt fast aller Filme. Doch werden im Rahmen von Filmreihe und Symposium bewusst auch Opfergruppen thematisiert, die in der populären Erinnerungskultur kaum Beachtung fanden. Die fehlende Erinnerung an die Verfolgung und Ermordung von Roma und Sinti wird ebenso aufgegriffen wie die marginalisierte Erinnerung an die Ermordung von Homosexuellen, Schwarzen und anderen Gruppen, die allzu lange (und zum Teil bis heute) auf eine offizielle Anerkennung gehofft haben.
"Der 70. Jahrestag des Kriegsbeginns ist für die Stiftung EVZ ein besonderer Anlass zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust und die systematische Deportation von Zwangsarbeitern", betont Günter Saathoff, Vorstand der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ), die Hauptförderer der Veranstaltung ist. Die Stiftung EVZ unterstützt die Filmreihe und das Symposium, um eine Diskussion darüber anzuregen, inwieweit Filme unser historisches Gedächtnis und Geschichtsverständnis prägen.
Der Eröffnungsfilm "Der Passagier – Welcome to Germany" (GB/CH/BRD 1988/1989) wirft viele zentrale Fragen auf, die im Laufe der Veranstaltung immer wieder auftauchen. In seinem Werk erzählt der Regisseur Thomas Brasch die Entstehungsgeschichte zweier Filme: Der erste ist ein mit jüdischen KZ-Häftlingen als DarstellerInnen produzierter anti-semitischer Propagandafilm, der zweite entsteht vierzig Jahre später und möchte die Dreharbeiten von damals wiedergeben. "Der Passagier" handelt dabei von der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit, Vergangenes wiederaufleben zu lassen, aber auch von der über ästhetische Fragen hinausgehenden Verantwortung von FilmemacherInnen.
Im Anschluss an die Vorführung moderiert der Filmredakteur Knut Elstermann ein Gespräch mit dem Produzenten Joachim von Vietinghoff, mit Katharina Thalbach als einer der Hauptdarstellerinnen und Marion Brasch, der Schwester des verstorbenen Regisseurs. Auch andere Werke widmen sich auf sehr unterschiedliche Weise der Darstellung Überlebender und dem Umgang mit dem persönlichen Trauma und den Wunden der Vergangenheit. In Klassikern wie Sidney Lumets "The Pawnbroker" (USA 1964), Andrzej Munks "Pasazerka" (PL 1961-63) oder dem unbekannten "The Man in the Glass Booth" (Arthur Hiller, USA 1975) begegnen uns Menschen, die ihre Erinnerung nicht zulassen, sie verleugnen oder abwandeln.
So auch in "Kaddisch nach einem Lebenden" von Karl Fruchtmann, dessen Tochter Sara Fruchtmann, selbst Filmemacherin, am 28.November 2009. in den Film einführen wird. Dr. Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums Hohenems, wird die wohlmöglich erstaunlichste Wiederentdeckung dieser Reihe vorstellen: den untergegangenen tschechischen Spielfilm "Spalovac mrtvol" (Der Leichenverbrenner; Juraj Herz, CZK 1968). Die spektakuläre Schnitttechnik wie auch der bizarre und düstere Ton des Films zeigen sowohl die ungewöhnlichen filmischen Möglichkeiten der Darstellung des Massenmords wie auch die künstlerische Qualität und Vielfalt dieser Filmreihe auf.
Auf außergewöhnliche Weise thematisieren auch die beiden experimentellen Dokumentationen "Das Himmler-Projekt" (Romuald Karmakar, D 2001) und "Un Spécialiste" (Eyal Sivan IL/F/D/BL 1999) den Holocaust. Während Karmakar gänzlich auf Archivmaterial, Kulissen oder Reanimationen verzichtet und einzig auf den ungekürzten Text von Himmlers berüchtigter Posener Rede von 1943 reduziert, nutzt Sivan historische Aufnahmen des Eichmann-Prozesses in Jerusalem, um Hannah Arendts These der "Banalität des Bösen" zu illustrieren.
Eine Sonderveranstaltung zur gegenwärtigen Erinnerungskultur in Israel, die von der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Berlin und Potsdam unterstützt wird, findet am 22. November 2009. statt. Im Anschluss an den israelischen Dokumentarfilm "The Cemetery Club" (Tali Shemesh, IL 2006) wird der Journalist Daniel Dagan im Gespräch mit der Filmwissenschaftlerin Lihi Nagler aus Tel Aviv und Martin Schellenberg, Historiker und Mitarbeiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen, ein Gespräch führen.
Die während der Filmreihe aufgeworfen Themen und Fragestellungen werden im Rahmen des internationalen Symposiums an der Humboldt-Universität vom 3. bis 5. Dezember 2009 vertieft. Gebündelt in sieben Schwerpunkten wie "Erinnerung und Trauma", "Grenzgänge zwischen Humor, Satire und Lüge" oder "Transfer von Ikonografien und Narrationen" kommen WissenschaftlerInnen aus verschiedenen Disziplinen in Vorträgen und Podiumsdiskussionen zu Wort.
Die Teilnahme am Symposium ist kostenlos, eine Anmeldung ist jedoch bis zum 18. November erwünscht unter:
filmgedaechtnis@culture.hu-berlin.de
Alle Informationen zur Veranstaltung und zu den Veranstaltungsorten finden Sie im Netz unter:
www.film-erinnerung.de