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Jüdisches Leben
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Beitrag vom 24.05.2020
AVIVA-Interview- + Fotoprojekt JETZT ERST RECHT: Greta
Sharon Adler, Greta Zelener
"Du Jude", Hassmails, Rechte Hetze im Rap oder faschistoide Verschwörungsideologien in der Corona-Krise. Das Attentat in Halle. Um die Gedanken und Erfahrungen, Perspektiven und Forderungen jüdischer Menschen zu Antisemitismus in Deutschland sichtbar zu machen und ihnen abseits der Statistiken ein Gesicht und eine Stimme zu geben, hat die jüdische Fotografin und Journalistin, Herausgeberin von AVIVA-Berlin, Sharon Adler ihr neues Projekt JETZT ERST RECHT! initiiert, das von der Amadeu Antonio Stiftung gefördert wird. Eine der Teilnehmer*innen ist Greta Zelener. Ihr Slogan lautet: JETZT ERST RECHT! - "Nie wieder?" Es war nie weg!"
AVIVA: Thema Antisemitismus in Deutschland heute: Der am 06.05.2020 veröffentlichte Jahresbericht 2019 des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Bundesverband RIAS) e.V. dokumentiert 1.253 antisemitische Vorfälle in vier Bundesländern. Kannst Du in dem aktuellen Kontext bitte einmal genauer erläutern, was Du mit Deinem Statement "Nie wieder?" Es war nie weg!" auf unserem Demo-Plakat meinst, und welche Message Du damit transportieren willst?
Greta Zelener: Wenn man in die Medien, auf social media Kanäle oder auf die Reden zahlreicher PolitikerInnen und Personen des öffentlichen Lebens schaut, begegnet einem oft im Kontext des Nationalsozialismus und der heutigen Erinnerungskultur der Satz "nie wieder". Gemeint ist alles Leid, welches damit einherging. Nie wieder Holocaust, nie wieder Antisemitismus, nie wieder rechtsextremes Gedankengut. Ersterem kann ich mich selbstverständlich anschließen, die Shoa liegt faktisch hinter uns in der Vergangenheit, Antisemitismus und Rechtsextremismus jedoch leider nicht. Bei "nie wieder" schwingt auch immer etwas mit, was hinter uns liegt, was überwunden wurde, der Vergangenheit angehört und nach 1945 einen klaren Schlussstrich gefunden hat. Ich möchte mit meinem Statement zum einen sagen, dass Antisemitismus in Deutschland weder mit der NS-Zeit begonnen noch nach dieser ein Ende gefunden hat. In allen Besatzungszonen blieb dieser bestehen, in staatlichen Ämtern, im beruflichen und privaten Alltag der JüdInnen in Deutschland, bis heute. Antisemitismus hat leider Kontinuität. Und deswegen, und das ist zweiteres in meiner Botschaft, reicht ein einfaches "nie wieder" nicht. Nach diesem Satz müssen Handlungen folgen, jeder und jede muss sich Antisemitismus und Rechtsextremismus entgegenstellen, jeder und jede, wo er oder sie kann.
AVIVA: Synagogen, Schulen und jüdische Einrichtungen in Deutschland stehen unter Polizeischutz. Und dennoch: Am 9. Oktober 2019, zu Yom Kippur, dem höchsten Feiertag im jüdischen Kalender, hat ein rechtsextremistischer, antisemitischer 27-jähriger Attentäter einen Mordanschlag auf die Synagoge in Halle verübt und am 4. Oktober desselben Jahres versuchte ein Mann in Berlin, mit einem Messer in die Synagoge in der Oranienburger Straße einzudringen…
Wie sicher fühlst Du Dich in Deutschland?
Greta Zelener: Definitiv unsicherer als vor dem Anschlag in Halle. Dies war ein einschneidendes Erlebnis. Antisemitische Vorfälle sind nicht immer leicht greifbar, wenn man nüchterne Berichte darüber liest oder sieht. Sie machen einen nachdenklich, manchmal traurig, kommen aber einem nicht zwingend nah vor. Das Ereignis in Halle hat in mir eine andere Form der Betroffenheit ausgelöst. Eine gute Bekannte von mir, Anastassia Pletoukhina, war als Augenzeugin mit ihrem Ehemann in der Synagoge in Halle am Tag des versuchten Anschlages. Das hat mir ganz klar vor Augen geführt, dass auch ich an Ihrer Stelle hätte sein können. Ich nehme oft und gerne am jüdischen Leben in Deutschland teil. Seit Halle bin ich aber vorsichtiger und unsicherer geworden, wähle die Events nicht mehr mit Leichtigkeit, sondern mit Bedacht. Als ich als Kind in die jüdische Grundschule in Berlin besucht habe, nahm ich den Personenschutz vor der Schule, und anderen jüdischen Einrichtungen, kaum wahr, es gehörte einfach zur Normalität dazu. Heute nehme ich ihn bewusster wahr, sehe die Notwendigkeit und bin dankbar. Halle hat meinen Blick auf die Sicherheit von JüdInnen in Deutschland verändert, es hat mir die Unbeschwertheit genommen.
AVIVA: Unter Kindern und Jugendlichen wird das Wort "Jude" auf Schulhöfen oder in sozialen Netzwerken ganz offen als Schimpfwort benutzt. Es bleibt nicht bei verbalen Attacken, sondern kommt immer wieder zur Gewaltbereitschaft durch Schüler*innen.
Hast du selbst eine solche Stimmung oder Vorfall schon einmal, zum Beispiel in Deiner Schulzeit, an der Universität, oder im öffentlichen Raum, miterleben müssen?
Greta Zelener: Nein, ich selbst wurde bisweilen nicht antisemitisch beschimpft oder angegriffen und musste es auch noch nicht mit ansehen. Ich habe mich in den letzten Jahren immer öfter mit meiner Geschichte und der Geschichte meiner Familie in die Öffentlichkeit, in die Medien gewagt. Je größer das Format war, desto mehr habe ich mit Anfeindungen, beispielsweise in den Sozialen Medien, gerechnet. Spätestens als Ende 2018 ein Beitrag im ZDF – heute journal erschien, hatte ich mir mental einen Schutzmantel angezogen. Doch zu meiner Freude waren die Reaktionen sehr positiv. Fremde schrieben aufmunternde Worte und bestärkten mich darin, weiterzumachen. Das gibt Hoffnung. Was ich an der Universität und im öffentlichen Raum aber erlebt habe, ist ein gewisses Unbehagen mit der Thematik Judentum und mit dem Wort "Jude". Wenn ich dieses Thema anspreche, senken sich manchmal Blicke, man spürt die Angst im Raum, etwas Falsches zu sagen, eine unpassende Frage zu stellen. Dabei ist genau das so wichtig. Wir kommen im Kampf gegen Antisemitismus oder auch mit dem Gedanken, dass Judentum zu Deutschland, zur heutigen deutschen Realität gehört, nicht weiter, wenn man nicht den Raum für Gespräche öffnet. Nur in der Öffnung liegt die Chance Vorurteile und Ängste und damit Distanz abzubauen.
AVIVA: Warum, denkst Du, kommt es sogar schon unter Kindern und Jugendlichen zu antisemitischem Denken und Gewaltbereitschaft?
Greta Zelener: Niemand wird als JudenhasserIn oder RassistIn geboren. Kinder und Jugendliche spiegeln in ihrem Verhalten, zu einem gewissen Teil, ihr Umfeld wieder, das, was sie in ihrem Alltag prägt. Leider habe ich das Gefühl, dass der Konsens, dass judenfeindliches Verhalten inakzeptabel ist, schwächer geworden ist. Für Kinder und Jugendliche besteht auf sozialen Plattformen wie YouTube, Twitter, Instagram, facebook und Co. das erhöhte Risiko, mit Antisemitismus in Berührung zu kommen. Gerade bei Themen wie dem Nahost-Konflikt oder dem Holocaust, leider jetzt auch wieder zum Thema Covid19-Pandemie, finden sich zahlreiche antisemitische Kommentare, Leugnungen des Völkermordes oder Verschwörungstheorien, die das Judentum zur Ursache allen Übels auf der Welt erklären. Letztes generiert hohe AbonnentInnenzahlen. Ich sehe da die Plattform-BetreiberInnen stärker in der Pflicht, beispielsweise in der Kommentarspalte besser zu moderieren, illegale Beiträge zu löschen und aufklärende Angebote anzubieten. In der Schule sind LehrerInnen und im Familienrahmen die Eltern in der Verantwortung. Schon im jungen Alter muss klar sein, für unser Zusammenleben in Deutschland gelten Regeln. Die unmissverständliche Botschaft, auch schon an die Jüngsten, muss sein: Jegliche Form von Antisemitismus wird nicht geduldet.
AVIVA: Du bist 1996 mit deiner Familie aus Odessa nach Berlin gekommen, da warst Du sechs Jahre alt. Weil ihr durch den Antisemitismus in der Sowjetunion nicht offen jüdisch leben konntet/als Juden-Jüdinnen diskriminiert wart, haben Deine Eltern Dich auf die jüdische Grundschule geschickt. Später hast Du als jüdisches Mädchen/Jugendliche ein staatliches Gymnasium besucht. Aufgrund Deiner persönlichen Erfahrungen und aufgrund Deiner Forschungen: Welche Studien in der Erwachsenenbildung wären Deiner Meinung nach wichtig für eine Bildungsarbeit gegen Antisemitismus? Was kann nachhaltig wirken und wo siehst Du mehr Bedarf?
Greta Zelener: Der Kernpunkt, den ich für mich als Erwachsenenbildnerin in den letzten Jahren meiner Forschung und Arbeit herauskristallisiert habe, heißt Routine. Wiederholungen sind das, was unser Leben letzten Ende mit am meisten prägen. Das bedeutet, dass es auch in der Bildungsarbeit gegen Antisemitismus stetige Wiederholung bedarf. Wie sollten diese Wiederholungen angelegt sein, um langfristig zu wirken? Diese müssen mit wahrnehmbaren Emotionen gekoppelt werden. Längst ist wissenschaftlich bewiesen, dass Erfahrungen, die mit starken Emotionen geknüpft werden, langfristig auf uns wirken. Hier kann ich die Arbeiten von Prof. Wiltrud Gieseke empfehlen, die sich ausgiebig mit lebenslangem Lernen in Abhängigkeit von emotionalen Einflüssen befasst. Diese Art der Sensibilisierung gelingt uns, wenn man Dinge aktiv erfahrbar macht. In meinen Augen bedarf es dabei zwei Pole. Zum einen den eher negativ konnotierten Pol: Besuche in KZ-Gedenkstätten, Museumsarbeit, die interaktiv gestaltet ist und sich mit konkreten Holocaust-Ereignissen und familiären Geschichten auseinandersetzt, Rollenspiele, bei denen Antisemitismus und Ausgrenzung im Vordergrund steht oder auch LehrerInnenfortbildungen, bei welchen der Erfahrungsaustausch zu Antisemitismus und eine gemeinsame Strategiefindung im Fokus steht. Es bedarf aber auch die positiven Konnotationen: Interreligiöse Koch-, Tanz-, Sport- und Musikprojekte oder Begegnungen, wie "Meet a Jew", diese organisiert. Das sind positive Erfahrungen, was Basis welcher, positive Erinnerungen geschaffen, gar Freundschaften entstehen können. In dem Negativem und dem Positiven treffe ich keine Wertung. Wie bei einem Magneten bedarf es beider Pole. Menschen, die diese emotionalen Erfahrungen machen, fungieren dann wie BotschafterInnen. Wir leben nicht isoliert. Man teilt seine Erfahrungen mit FreundInnen, Familie, KollegInnen oder im Netz. In der Stetigkeit dieser Erfahrungen liegt die Möglichkeit, Antisemitismus entgegenzuwirken.
AVIVA: Antisemitismus hat eine lange "Tradition", nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Unter den diversesten Erscheinungsformen sind immer wieder antijüdische Verschwörungstheorien, wie aktuell während der Covid-19-Pandemie. Auf YouTube und sozialen Netzwerken, aber auch im öffentlichen Raum wird offen gegen Jüdinnen und Juden gehetzt. Der Bundesverband RIAS e.V. berichtet, dass am 8. April 2020 Flugblätter in der Augsburger Innenstadt auf Straßenlaternen geklebt und in Briefkästen gesteckt wurden, die antisemitische und rassistische Verschwörungsmythen verbreiten. Welche Klischees werden hier bedient, wo bist Du selbst schon – real oder im virtuellen Raum - antisemitischen Klischeebildern begegnet?
Greta Zelener: Antijüdische Verschwörungstheorien sind historisch gewachsen, leider weltweit nicht neu und rücken augenblicklich wieder stark in den Fokus, gespeist von der weltweiten Covid-19-Pandemie. Die Pandemie ist immateriell, für uns nicht seh- oder greifbar. Das schürt Ängste und verstärkt ein Gefühl von Kontrollverlust. Es findet dann eine Personifizierung eines globalen Problems statt, eine starke Vereinfachung, die das Problem vermeintlich greifbarer macht, durch eine Eingrenzung auf einen bestimmten Personenkreis. Es ist ein klassisches Sündenbock-Denken. Dieses erlaubt es den VerschwörungstheoretikerInnen, sich handlungsfähig zu machen. Wenn ich weiß, von wem das Problem ausgeht, handle ich logisch, wenn ich mich zur Wehr setzte, führe ich bewusste Aktionen aus und erlange dadurch ein Gefühl des Kontrollgewinns, sei es durch Hetze oder Schlimmeres. Bedient wird hierbei das Klischee der jüdischen Weltherrschaft, die geheim im Hintergrund alle Fäden in der Hand hat. Oft wird auch in diesem Zusammenhang das Klischee des geldgetriebenen Juden bedient, der die Wirtschaft zu seinen Gunsten schwächen möchte. Der Hashtag #rothschild generiert dabei zahlreiche Likes. Mir sind derartige Klischees im privaten Raum öfter verpackt in Witzen begegnet: "Ihr seid alle nur Ärzte oder Anwälte" oder "Du handelst ja wie ein Jude". Meist mit einem Grinsen gepaart. Wenn ich nicht mitlachen wollte, konnte man ja immer noch behaupten: "Das war doch natürlich nur ein Witz". Beide Parteien wissen in solchen Momenten genau, dass dies nicht stimmt. Dass die jüdische Realität in Deutschland eine andere finanzielle Sprache spricht, bleibt unerwähnt. Über 90% der jüdischen Mitmenschen in Deutschland stammen aus der ehemaligen Sowjetunion und kamen als Kontingentflüchlinge meist in den 1990er Jahren nach Deutschland. Ihre Ausbildungs- und Universitätsabschlüsse wurden oft nicht anerkannt, was sie oft in Berufe zwang, die nicht ihrem Intellekt und ihren Fähigkeiten entsprachen und heutzutage oft zu Armutsrenten führt.
AVIVA: Im Kontext von Antisemitismus bezeichnet "Othering" das Ausgrenzen von Jüdinnen_Juden als "Außenseiter_innen", als nicht-dazugehörig. Du bist aktiv bei ´Meet a Jew´ (www.meetajew.de). Was macht ´Meet a Jew´ und wo wirkst Du durch Dein Engagement Antisemitismus und antisemitischen Klischeebildern entgegen? Welche Bilder von JüdInnen möchtest du vermitteln, wo siehst du die größten Klischeebilder, die bekämpft werden müssen?
Greta Zelener: "Meet a Jew" vermittelt ehrenamtliche jüdische Jugendliche und Erwachsene an beispielsweise Schulklassen, Volkshochschulen, Sportvereine und weitere interessierte Einrichtungen. In diesen persönlichen Begegnungen geben die ReferentInnen individuelle Einblicke in ihren jüdischen Alltag, einen Überblick über die Vielfalt des jüdischen Lebens in Deutschland und beantworten Fragen in entspannter Atmosphäre. Im Vordergrund steht weniger die Vermittlung von konkretem Wissen über das Judentum als Religion, Kultur oder Schicksalsgemeinschaft, sondern der lebhafte Austausch auf Augenhöhe. Ziel ist es, Berührungsängste in der Gesellschaft abzubauen und eine Vielzahl von authentischen jüdischen Stimmen und Perspektiven aufzuzeigen. Ich halte es für eine großartige Initiative und engagiere mich gerne dort. Auch durfte ich des Öfteren Interviews in den Medien geben oder als Bildungsreferentin, beispielsweise bei der bpb- Bundeszentrale für politische Bildung, oder als Moderatorin bei jüdischen Bildungs- und Kulturevents fungieren. Mir ist wichtig, durch das öffentliche Erzählen meiner eigenen Geschichte, andere zu ermutigen nachzuziehen, in der Großgesellschaft sichtbar zu werden, diese mitzugestalten und Nähe aufzubauen. Ich möchte ein junges, mutiges, selbstbewusstes Bild vom Judentum zeigen, eine Generation von JüdInnen in Deutschland, die ein Sprachrohr sein kann, das unsere Eltern vielleicht nie hatten.
AVIVA: Welche Frage (der Besucher_innen/Teilnehmer_innen) hat Dich beeindruckt oder geschockt?
Greta Zelener: Bisher hat mich keine der Fragen besonders beeindruckt oder schockiert. Ich konnte mir, sei es bei den Assoziationen des Judentums mit dem Zweiten Weltkrieg oder dem Nahost-Konflikt, den Ursprung dieser denken. Es macht eher traurig und nachdenklich, dass dies momentan nun mal meist die ersten Assoziationen sind. Das muss man erstmal so annehmen, bevor man versucht es zu verändern. Oft nimmt es mich mit, wenn schon die Jüngsten von Schuld sprechen und sich rechtfertigen wollen, nach dem Motto: Ich bin nicht antisemitisch und ich habe keine Schuld daran, dass der Holocaust geschehen ist. Diese Distanz, die dann im Raum erstmal unausgesprochen steht und fühlbar ist, die schockiert mich und die gilt es zu brechen. Ich versuche dann zu erklären, dass es nicht um Schuldzuweisungen geht, sondern um das Übernehmen von Verantwortung, hier und heute, damit sich die Geschichte nicht wiederholt.
AVIVA: Du forschst heute zu jüdischer Erwachsenenbildung im 21. Jahrhundert. Deine Masterarbeit trägt den Titel "Jüdische Erwachsenenbildung heute. Eine Analyse ausgewählter Institutionen und ihrer Programme in Berlin". Kannst Du uns bitte mehr über deine aktuelle Forschung, über deine Dissertation zu jüdischer Erwachsenenbildung erzählen?
Greta Zelener: Zurzeit bin ich Doktorandin an der Humboldt Universität zu Berlin. Ich habe das Thema meiner Masterarbeit (2018) aufgegriffen und im selben Jahr angefangen zu promovieren. In meiner Dissertation erweitere ich den Untersuchungsraum der Masterarbeit von Berlin auf ganz Deutschland. Bezüglich jüdischer Erwachsenenbildung liegt in den Erziehungswissenschaften ein Forschungsdesiderat vor. Vereinzelte wissenschaftliche Beiträge zeichnen entweder einen begrenzen Zeitraum der Vergangenheit nach oder porträtieren berühmte jüdische ErwachsenenbildnerInnen oder Einrichtungen, wie Franz Rosenzweig oder Martin Buber und das Freie jüdische Lehrhaus in Frankfurt. In meiner Arbeit untersuche ich die heutige Lage jüdischer Erwachsenenbildungsinstitutionen. Manche, wie die Jüdischen Volkshochschulen, bestehen schon länger, viele haben sich erst in den letzten 10-20 Jahren gegründet. Dazu gehören beispielsweise die Europäische Janusz Korczak Akademie in Berlin und München oder das Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment der ZWST. Ich frage in meiner Forschung nach dem inhaltlichen Angebot, welches in den Programmen dargestellt wird, nach dem Planungsprozess der MitarbeiterInnen solcher Einrichtungen, Finanzierungsstrukturen und danach, was das Ganze spezifisch jüdisch macht. Ziel ist es, unter anderem, die Handlungsmotive, die zu dem offerierten Angebot führen besser zu verstehen und die Institutionen zusammenzubringen, sodass eventuell eine Arbeitsgemeinschaft jüdischer ErwachsenenbilderInnen entsteht. Viele Ressourcen, monetärer Natur oder auch Wissen, ließen sich zu Gunsten aller teilen. Mehr Kooperation zwischen diesen Institutionen und auch mit anderen, katholischen, evangelischen und muslimischen Erwachsenenbildungsstätten, im Sinne eines interreligiösen Dialogs, wäre wünschenswert.
AVIVA: Antisemitismus hat eine lange "Tradition", nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Darunter sind immer wieder altbekannte antijüdische Verschwörungstheorien, wie aktuell in der Corona-Krise. Auf YouTube und sozialen Netzwerken, aber auch auf den sogenannten "Hygienedemos" wird offen gegen Jüdinnen und Juden gehetzt. (Unter anderen warnte der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, schon vor einigen Wochen gegenüber dem Berliner "Tagesspiegel", die Pandemie würde ein Klima allgemeiner Verunsicherung schaffen, was einzelnen Personengruppen einen idealen Nährboden für Rechte Hetze liefern würde: "Es überrascht leider nicht, dass Juden und Israel Hauptziele sind.") Wie denkst Du darüber, was hat Dich am meisten genervt, geschockt, oder verletzt?
Greta Zelener: Dahinter stehen mehrere Mechanismen. Zum einen Geschichtsrelativierung. Durch beispielsweise Tragen von Judensternen mit Schriftzügen "Ungeimpft" wird die Shoa verharmlost und das Leid des NS-Staates relativiert.
Verharmlosung findet auch durch Opferidentifizierung statt. Wir "Betroffene" der Covid-19 Maßnahmen, werden angeblich so stark unterdrückt und verfolgt, wie die JüdInnen damals. Durch diesen sich selbst auferlegten ultimativen Opferstatus werden die Erfahrungen der damals wirklich Betroffenen heruntergespielt, eine Beleidigung für all jene und ihre Nachkommen. Nicht zuletzt ist es eine versuchte Legitimierung der eigenen Handlungen: Aus dieser unterdrückten Opferposition heraus ergibt sich die vermeintliche Berechtigung, sich verbal oder gar physisch zur Wehr zu setzten. Was mich an der Situation auch stark nervt, ist das oft Unausgesprochene "man wisse schon um wen es geht", bis sich diese Kampfhaltung gewaltsam auslädt, wie in Halle.
AVIVA: Felix Klein forderte auch härtere Strafen für antisemitische Taten und eine neue Strategie gegen Judenfeindlichkeit. Was wären Deine Strategien gegen Antisemitismus, was Deine Empfehlungen an Politik und Zivilgesellschaft? Wo wünschst Du Dir mehr Unterstützung (Zivilgesellschaft, nicht-jüdischer Freund_innenkreis, etc.), wo hättest Du Dir in der Vergangenheit mehr Unterstützung gewünscht, wo wünschst Du Dir mehr Unterstützung, Support, in der Zukunft?
Greta Zelener: Ich wünsche mir bei Antisemitismus und jeglicher Form von Rassismus mehr verbales Eingreifen im Alltag, egal wo. Sei es bei der Arbeit, in Vereinen, unter FreundInnen, Familienrunden oder vor Fremden. Es muss selbstverständlich sein, dass Antisemitismus und Rassismus nicht zu der Gesellschaft dazugehören, in der wir leben wollen. Wir alle sind für unser demokratisches, offenes Umfeld verantwortlich, es ist nicht gottgegeben, wir müssen es schützen und immer wieder neu schaffen, verändern, verbessern. Doch die Menschen müssen sich betroffen fühlen, um dann selbst aktiv zu werden. Wie eine solche Sensibilisierung erfolgen kann, habe ich versucht mit meinen Vorschlägen der zwei Pole zu erläutern.
Mit dieser Sensibilisierung geht auch eine gewisse Wertschätzung migrantischer Erfahrungen einher. Es wäre schön, wenn diese zu unserem gesellschaftlichen Klima dazugehört. Ein Migrationshintergrund darf nicht direkt mit Mitleid und Nachteilen verbunden werden. Unsere Diversität müssen wir zelebrieren, sie ist nicht unsere Schwäche, unsere Diversität ist unsere Stärke.
Greta Zelener wurde 1990 in Odessa, Ukraine geboren. Ihre in Berlin geborene Ur-Großmutter wanderte Anfang 20 Jh. von dort in die Ukraine aus.
1996 emigrierte Greta mit ihrer Familie als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Berlin, wo sie seitdem lebt. Nach dem Abitur am Sophie-Charlotte-Gymnasium studierte die Stipendiatin des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks Betriebswirtschaftslehre im Bachelor an der Freien Universität Berlin. 2018 beendete sie ihren Master in "Erwachsenenbildung/ Lebenslanges Lernen" an der Humboldt Universität zu Berlin und nahm im selben Jahr ihre Promotion dort auf. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt in der jüdischen Erwachsenenbildung am Anfang des 21. Jahrhunderts.
Ihre Masterarbeit mit dem Titel "Jüdische Erwachsenenbildung heute. Eine Analyse ausgewählter Institutionen und ihrer Programme in Berlin" wurde im Erwachsenenpädagogischen Report der Humboldt Universität veröffentlicht. Gretas Dissertation greift das Thema der Masterarbeit auf und erweitert die Forschung auf das gesamte Bundesgebiet Deutschland. 2018 war sie in dem Band "Weil ich hier leben will ...Jüdische Stimmen zur Zukunft Deutschlands und Europas" mit einem Beitrag vertreten. Der Titel: "Von unserer Aufgabe die Hand auszustrecken. Jüdische Bildungsarbeit heute".
Daneben ist die Erwachsenenbildnerin aktiv bei ´Meet a Jew´ (www.meetajew.de), einem Zusammenschluss der Projekte Rent a Jew und Likrat – Jugend & Dialog des Zentralrats der Juden in Deutschland. Außerdem arbeitet Greta als freiberufliche Bildungsreferentin sowie Moderatorin im Bildungs- und Kulturbereich. Im Dezember 2019 moderierte sie die Channuka-Festlichkeit am Brandenburger Tor in Berlin.
JETZT ERST RECHT!
Um die Erfahrungen, Perspektiven und Forderungen von jüdischen Menschen in Deutschland sichtbar zu machen und ihnen abseits der Statistiken ein Gesicht und eine Stimme zu geben, hat die jüdische Fotografin und Journalistin, Herausgeberin von AVIVA-Berlin Sharon Adler ihr neues Projekt JETZT ERST RECHT! initiiert.
Mitmachen
Wenn Du auch Interesse hast, an dem Interview- + Fotoprojekt JETZT ERST RECHT! teilzunehmen, kannst Du Dich per eMail mit Sharon Adler unter sharon@aviva-berlin.de in Verbindung setzen. Bitte sende in dieser eMail Deine Motivation und einige biographische Informationen.
Gefördert wurde das Interview- + Fotoprojekt von der Amadeu Antonio Stiftung.
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Copyright Foto von Greta Zelener: Greta Zelener