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AVIVA-BERLIN.de 3/3/5785 - Beitrag vom 03.02.2013


Hier wohnte - Here lived
Sharon Kuckuck

Als sich Sharon Kuckuck, Projektberaterin und Leiterin jüdischer Touren durch Berlin näher mit den Stolpersteinen vor ihrer Haustür beschäftigt, entdeckt sie eine tiefe, emotionale Verbindung ...




... zur jüdischen Geschichte in Berlin.

Niches Geschichte

left-to-right: Simson, Rita, Julius, Niche, Pia


Es war am 21. April 2012 als ich Niche Scherl und ihren Sohn Simson zum ersten Mal traf. Sie lebten einst in meinem Haus, eine Etage über mir und auf der anderen Seite über den Gang, vor 71 Jahren. Ich dachte jedes Mal an sie, wenn ich das Haus verließ und versuchte, um ihre kleinen Stolpersteine herumzugehen.

Niche war die Tochter von Sara und Pinkhas in Galizien. Sie kamen nach Berlin auf der Suche nach einem besseren Leben. Sie hatten im Erdgeschoss einen Laden, dort wo heute das thailändische Restaurant ist. Ihre Tochter Pia erzählte mir, wie stolz ihre Eltern Niche und Julius auf ihr Geschäft waren. Sie verkauften Dinge von "Qualität", sagte sie, "hochwertige Teppiche, gehobene Möbel und Rosenthal Porzellan". Manchmal kamen die Kunden auch nur, um sich mit ihrer Mutter Niche zu unterhalten. "Sie hatte einen großartigen Humor und steckte voller Energie", erzählte sie.

Niche "hielt sich fit, jeden Tag machte sie Übungen vor dem Fenster im Wohnzimmer" und sie "kochte uns Kindern immer sehr gesundes Essen", erzählte mir ihre Tochter Pia. "Ich habe immer noch den Geschmack ihres Essens im Munde." Sie aßen koscher, schlossen sogar jeden Shabbat den Laden. "Wir schafften es zwar nicht immer in die Synagoge in der Münchenerstraße oder der Passauerstraße, aber wir verpassten nie einen einzigen Feiertag."

Wir sind Nachbarn und leben im selben Haus.
Wir beide lieben und umsorgen unsere Kinder.


von links nach rechts: Rita, Paul (Cousin), Pia, Simson.


Niches Töchter, Pia und Rita, nahmen beide Klavierunterricht, aber es war Simson, der am besten Klavier spielte, "ohne je Unterricht gehabt zu haben", sagte sie. Pia war so durchtrainiert wie ihre Mutter und sie schwamm auch gerne, "nicht nur im Schwimmbad, sondern auch im Wannsee".

Pia und Simson teilten ihre Liebe zum Sport und als 1936 die Olympischen Spiele in Berlin stattfanden, sahen sie sich zusammen Fußballspiele an. Als sie ihn darum bat, ihr das Fahrradfahren beizubringen, da war er natürlich "genau der Richtige".

Wie jede Familie hatte auch diese ihre Geheimnisse. Einmal im Monat schickte Niche ihre Tochter Pia auf die Poststelle. "Mein Vater, mein Bruder und meine Schwester wussten nicht, dass meine Mutter der Familie in Polen regelmäßig Geld schickte." Pia und ihre Mutter standen sich sehr nahe.

Sie lebten in meinem Haus und ihr Leben war ein gutes bis "dieser schreckliche Mann an die Macht kam".

Von links nach rechts: Simson, Pia


Pia erinnert sich an Hitlers Stimme im Radio. "Und ich erinnere mich daran, dass die Nazis in der Nacht in die Häuser jüdischer Familien kamen, sie hinaus zerrten, zuerst im Norden Berlins, sie folterten und töteten."
Pias Vater Julius starb im Dezember 1937 an einem Herzinfarkt. "Der Stress, nachdem Hitler an die Macht kam, war zu viel für ihn." Pia erzählte mir: "Als der Arzt nach dem Herzinfarkt meines Vaters zu uns nachhause kam, sagte er zu uns es sei diese schreckliche Zeit, es sei Hitler, der ihn umgebracht habe."

"An jedem der sieben Tage, an denen wir Shiva saßen, kam ein junger Mann vorbei" und Pia wunderte sich, warum er jeden Tag kam. "Er sagte uns, seine Familie stünde unserem Vater sehr nahe." Seine Familie kannte Pias Vater Julius aus der Synagoge. Der junge Mann wollte den Mädchen helfen zu fliehen, aber "es war illegal". Niche hatte "Nein" gesagt und sie wartetet auf "die Urkunde", die "ankommen" sollte, von ihrem Onkel aus Amerika. Sie kam niemals an.

Hitler zog die Schlinge um den Hals der Juden immer weiter zu.

Am Abend des 9. November 1938 begann das Pogrom, euphemistisch auch Kristallnacht genannt. Pia erinnert sich daran, dass sie alle in der Wohnung saßen und "sich in ihre weißen Gesichter sahen". "Es war furchtbar für uns, wir konnten hören was draußen geschah", erzählte sie.

Sie mussten so schnell wie möglich fliehen.

Pia, damals 16 Jahre alt, floh "illegal". Ihre Mutter brachte sie zum Bahnhof, "wo viele SS Leute waren", sagte Pia. Niche wollte sichergehen, dass ihre Tochter auch sicher in den Zug stieg. "Unendlich traurig fuhren wir ab." In Wien bestieg Pia allein das Schiff, das sie nach Palästina bringen sollte. "Es waren vier Monate zusammen mit 2.000 Leuten in Eiseskälte auf einem dreckigen Schiff." "Menschen starben und zwei Kinder wurden geboren, bevor wir Palästina erreichten", erinnerte sie sich.

In Palästina angekommen heiratete Pia diesen "jungen Mann", der sie in Berlin jeden Tag besucht hatte und der sie angefleht hatte, "illegal" zu fliehen. Sein Name war Louis und er hatte ihr seine Liebe schon in Briefen gestanden, während er ein Jahr lang darauf wartete, dass sie nach Palästina käme, um mit ihm zusammen zu sein.

Pias Schwester Rita war zuvor bereits mit einem anderen Kindertransport nach London geflohen. Es verging einige Zeit bis die Schwestern sich wieder fanden und Rita zu Pia und Louis nach Palästina kam.

Erst viele Jahre später fand Pia die Wahrheit über ihre Mutter Niche und ihren Bruder Simson in Berlin heraus. Eine Professorin namens Miriam Gillis-Carlebach hatte Nachforschungen zu den Transporten nach Riga angestellt und Kontakt zu Pia in Palästina aufgenommen. Professor Gillis-Carlebach sagte ihr, dass Niche und Simson am 27. November 1941 von Berlin nach Riga deportiert wurden. Das wusste Pia bereits. Aber dass sie bereits drei Tage später im Wald von Bikernieki ermordet wurden, das wusste sie noch nicht.

Gleis 17, Denkmal am S-Bahnhof Grunewald (Datum der Deportation von Niche und Simson)


Es bricht mir das Herz wenn ich mir nur vorstelle, dass eine Mutter die Entscheidung treffen musste, ihre Töchter wegzuschicken. Ihr Sohn Simson blieb. Ich wollte Pia nach dem Warum fragen – aber ich konnte es nicht. Sie erzählte mir das, was sie erzählen wollte, und nicht mehr, während dieser zwei Telefonate nach Israel.

Ich weiß, dass sie ihre Erinnerungen sorgfältig geordnet hat, in das, was sie erzählen und das, was sie für sich behalten möchte.

Pia wurde nach Deutschland eingeladen. Zuerst wollte ihr Ehemann Louis, der junge Mann, der jeden Tag gekommen war als sie Shiva gesessen hatte, auf gar keinen Fall nach Deutschland reisen oder gar nur über deutsches Staatsgebiet fliegen. Doch als er 70 Jahre alt wurde gab er nach und sie reisten nach Deutschland. "Sie waren sehr nett zu uns, wir gingen in die Oper, wir sahen wie kultiviert sie waren, und wir konnten sehen, wie Deutschland sich verändert hatte." "Niemals vergeben und vergessen, aber..." , ihre Stimme bricht ab.

Nach dieser Reise nach Deutschland wurde Pia krank und "sie war im Krankenhaus, weil es einfach alles zu viel war". Dann schrieb sie all ihre Erinnerungen nieder, nur für sich, alles woran sie sich erinnern konnte. Sie las einmal daraus vor, als sie 40 der damaligen Kinder von ihrem Kindertransport in Israel besuchen kamen. Sie sagten ihr sie solle es veröffentlichen, und dass es in so gutem Deutsch verfasst sei, doch sie gab es nie preis. Ich habe sie gefragt, ob ich es lesen könne, aber sie sagte, es sei nur für diesen einen Tag gewesen.

Am Freitag, den 20. April 2012, 71 Jahre nachdem Niche und Simson aus Berlin deportiert wurden, kam Niches Urenkel zusammen mit seinem Onkel Yoel aus Israel, um vor meiner Haustür diese glänzenden, kleinen Stolpersteine zu legen, Steine der Erinnerung. Ich fragte sie, in welcher Wohnung Niche und Simson damals gelebt hatten und sie erzählten es mir. Ein Nachbar merkte leise an: "Gut, dass sie nicht in Ihrer Wohnung gelebt haben. Was für eine schreckliche Geschichte." Doch ich dachte mir, besser die Opfer als die Täter. Ich erzählte Ron von der Bat-Mitzvah meiner Tochter, die in diesem Jahr stattfinden wird und dass wir sehr froh sind, dass jetzt eine jüdische Familie in diesem Haus wohnt – wieder.

Es ist kompliziert hier in Berlin jüdisch zu sein, aber die Welt ist ebenso kompliziert. Wenn ich Touren durch das jüdische Berlin gebe, antworte ich auf die Frage "Wie?" geradewegs bevor sie jemand stellt. Ich kann nicht sagen warum. Es sind nur Gefühle. Unerklärbar.

Pia feierte dieses Jahr ihren 90. Geburtstag. Sie sprach am Telefon mit einer wunderschönen, klaren Stimme und sie steckt voller Energie. Sie und ihre Schwester haben fünf Kinder, elf Enkel und drei Urenkel, von denen einer in Berlin lebt.

Danke Pia. Danke dafür, dass du deine Geschichte mit mir geteilt hast.


Meine Geschichte

Über Niche Scherl zu schreiben schien eine klare Sache zu sein: Archive durchforsten, das örtliche Museum kontaktieren, welches für das Legen der Stolpersteine in meinem Kiez zuständig ist, und wenn möglich mit der Familie sprechen.

Ich fand gerade Niches Geschichte interessant. Ich wollte über jemanden wie mich schreiben, keine berühmten, keine besonders religiösen Leute, sondern einfache Leute, die Teil der Vielfalt jüdischen Lebens in Berlin sind.

Das gute Leben, das Niche hier in der Goltzstraße hatte, war Teil der Entwicklung jüdischen Lebens hier in Berlin. Ich wollte dem Artikel den Titel "In Gedenken an den ganz gewöhnlichen Juden" geben, der wunderbaren jüdischen Gemeinde zu Ehren, deren Fortbestehen für immer verloren schien. Das sollte meine Verbindung zu dieser Geschichte sein. Nun ja, es kam etwas anders, da Niches 90-jährige Tochter Pia eine andere Geschichte zu erzählen hatte. Sie war nicht nur eine beliebige jüdische Frau, für mich war sie meine jiddische Großmutter. Pia lief einst meine Straße entlang und vor Allem, sie hat in meinem Haus gewohnt. Das machte es sehr persönlich für mich und ich fühlte mich, als läge die Verantwortung, ihre Geschichte zu erzählen, auf meinen Schultern.

Diagramm über die Informationen, die Sharon Kuckuck erhalten hatte


Es ist schwierig, von einem guten Plan abzuweichen. Ich legte den Artikel für einige Wochen zur Seite, doch als das Jahresende näher rückte, standen zwei Dinge an, die ich zu Ende bringen wollte: die Vorbereitungen für die bald stattfindende Bat-Mitzvah meiner Tochter und Niches Geschichte.

Die Planung der Bat-Mitzvah stellte sich als eventplanerisch kompliziertes Projekt dar – Verwandtschaftsbeziehungen und Rückbesinnung darauf, was es für mich bedeutet, Jüdin zu sein. Als ich die Informationen ordnete, die ich über Niche Scherl zusammengetragen hatte, machte mich das unglaublich traurig, traurig über die Stadt, die ich liebte. Ich habe als Tour Guide gearbeitet und war immer enthusiastisch wenn es darum ging, etwas Neues über Berlin zu erfahren, auch über die Vergangenheit der Stadt. Fakten und pure Information über die Vergangenheit erlaubten mir eine emotionale Distanz, ganz anders als das, was hierbei mit mir geschah.

Niches Geschichte weckte Emotionen in mir, über meine Straße, hier wo all meine Lieblingscafés sind, wo das Haus steht, in dem ich lebe und die Wohnung, in die heimzukommen ich mich jeden Tag freue. Diese Sache wurde plötzlich sehr persönlich.

Ich habe versucht Niches Stimme durch Pia wieder Gehör zu verschaffen, aber es ist nicht die ganze Geschichte. All die Fakten sind nicht vorhanden. Und es ist nicht an mir diese weiterzugeben. Ich bin sicher, dass ich als Empfängerin dieser Geschichte ein viel größeres Geschenk bekommen habe.

Nächste Woche feiern wir die Bat-Mitzvah meiner Tochter und die Freude darüber, neue jüdische Tradition in Berlin zu leben. Wenn ich am Ende der Zeremonie das Kaddisch sage, werde ich Niche und ihren Sohn Simson in das Gedenken an meine Großmutter mit aufnehmen und in die traurige Nähe, die entsteht, wenn wir uns erinnern.



Berlin, 19.11.2012, Sharon Kuckuck

Lesen Sie auch die englische Originalversion dieses Beitrags Hier wohnte - Here lived

Links

henner-kuckuck.com
sharon.kuckuck@yahoo.com

Quellen und besonderer Dank an:

Family Scherl, besonders Pia – Margalit Scherl and Ron Segal in Israel
Maya Wächter, B.A. staatl. gepr. Übersetzerin und Dolmetscherin, staatl. gepr. Fremdsprachenkorrespondentin für die Berliner Gerichte und Notare ermächtigte Übersetzerin
Hannelore Emmerich vom Museum Tempelhof Schoeneberg
Frau Ljilja Ruhnke von der Ausstellung "Wir Sind Nachbarn" Berlin-Schöneberg
Yad Vashem – World Center for Holocaust Research, Education, Documentation and Commemoration, unter www.yadvashem.org
Die "Judendeportationen" aus dem Deutschen Reich von 1941-1945, Alfred Gottwaldt, Diana Schulle, 2005

Das Projekt "Jüdische Frauengeschichte(n) in Berlin - Writing Girls - Journalismus in den Neuen Medien" wurde ermöglich durch eine Kooperation der Stiftung ZURÜCKGEBEN, Stiftung zur Förderung jüdischer Frauen in Kunst und Wissenschaft



und der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ)



Weitere Informationen finden Sie unter:

www.stiftung-zurueckgeben.de

www.stiftung-evz.de


Copyright Fotos von Sharon Kuckuck: Sharon Adler




Jüdisches Leben

Beitrag vom 03.02.2013

AVIVA-Redaktion