Charlotte Hermann. Ein Leben auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Juedisches Leben



AVIVA-BERLIN.de 3/19/5785 - Beitrag vom 15.07.2012


Charlotte Hermann. Ein Leben auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit
Rachel Shneiderman

Geboren in Dresden, Exil in Prag, Deportation nach Theresienstadt und Auschwitz. Todesmarsch. Rückkehr nach Prag. 1980 Flucht aus Prag nach West-Berlin. Rachel Shneidermans Erinnerungen an eine ...




... ungewöhnliche Frau, die sie bis heute nicht loslässt.

Erinnerung ist wie welkendes Laub im Herbst
Die Zeit trägt sie wie der Wind in die Ferne der Vergangenheit
Und flüstert so mild wie der junge Ahorn
Verklungene Melodie - des vergangenen Sommers wegen
Und das Herz wie ein brachliegender Acker im Herbst
Wartet auf eine Saat
Ich weiß – vergeblich


Ilona Karmel, 1942

Eine Reise in die Vergangenheit

Es ist der 8. Juli 2012. In vier Tagen ist Charlottes 91. Geburtstag. Ich kann mir Charlotte als 91-jährige gar nicht vorstellen. Wahrscheinlich hätte sie auch in diesem Alter ihre Faszination nicht verloren. Sie würde vielleicht kleiner und schlanker sein und ihre einst aufrechte Haltung verloren haben. Ihre Haare würde sie aber weiterhin rot färben. Ihr hübsches Gesicht wäre mit vielen tiefen Falten überzogen sein. Die Haut dort und an den Händen wäre dünn wie Pergamentpapier und unter den Augen hätte sie Ringe. Ihre ausdrucksvollen, wunderschönen Augen wären aber dieselben geblieben, wie damals vor 27 Jahren, als wir uns kennenlernten.

Doch Charlotte wird ihren 91. Geburtstag nicht feiern. Vier Monate nach ihrem 68. sten Geburtstag, am 20. November 1989, starb sie im Jüdischen Krankenhaus im Berlin an Krebs. Die letzten Monate ihres Lebens hat sie fürchterliche Schmerzen ertragen müssen. Der Tod war für sie eine Erlösung. Nicht nur für ihre körperlichen Schmerzen.
Darüber, wie wir uns kennenlernten und was sie in mir bewegt hat, habe ich 2009 in einer Geschichte über sie erzählt. Seitdem "verfolgt" Charlotte mich noch mehr als sonst.
Ich wollte mehr über sie erzählen, ich wollte, dass sie nicht vergessen wird.
Ende April dieses Jahres bekam ich eine E-Mail mit folgendem Inhalt:

Jüdische Frauengeschichte(n) in Berlin – Writing Girls – Journalismus in den Neuen Medien. Teilnehmerinnen gesucht.
AVIVA – Redaktion
Ab sofort startet AVIVA ihr von der Stiftung "Erinnerung – Verantwortung – Zukunft" und der Stiftung ZURÜCKGEBEN gefördertes Projekt zur Entdeckung verborgener Frauenbiographien in Berlin.


Noch während ich die E-Mail las, wusste ich: das ist es: jetzt ist die Zeit gekommen die ganze Geschichte zu erzählen. Es war ein Wink des Himmels! Ich konnte es kaum fassen, dass sich mir eine solche Möglichkeit öffnete. Ohne langes Nachdenken habe ich die angegebene Telefonnummer gewählt und war sofort auf großes Interesse seitens der Redaktion gestoßen.

So nahm diese Reportage ihren Lauf

Viele Ereignisse sind noch präsent in meinem Gedächtnis, über Andere musste ich die letzten Wochen recherchieren. Ich musste in meinen Aufzeichnungen wühlen, alte Bekanntschaften auffrischen, die Orte finden und besuchen, an denen Charlotte zuletzt gelebt hatte. Eine der "alten" Bekanntschaften ist Doris Fürstenberg. Sie ist die Herausgeberin des Buchs: "Jeden Moment war dieser Tod" – Interviews mit jüdischen Frauen, die Auschwitz überlebten. Charlottes Geschichte fehlt in diesem Buch. Die Beiden haben sich kennengelernt, als das Buch schon im Druck war. Auch Doris "erlag", wie ich, Charlottes Charme und stand ihr bis zuletzt zur Seite. Dank ihren Aufzeichnungen, die sie mir liebenswürdigerweise zur Verfügung gestellt hat, habe ich mich an vieles wieder erinnert und auch viel Neues in Erfahrung gebracht. Auch manche Dokumente und Briefe, die sie in ihren Besitz hatte, und die sie bis heute aufbewahrte, hat sie mir großzügig zur Verfügung gestellt. Dafür danke ich ihr von ganzen Herzen.

Doch je mehr ich in Erfahrung bringe, desto mehr Fragen entstehen. Vieles bleibt im Verborgenen. Vielleicht für immer.

Dies hier ist der Anfang. Die Reportage soll in mehreren Teilen erfolgen. Zur Beginn möchte ich die Lesenden mit der Geschichte von 2009, die den Anstoß gegeben hat für diese Reportage, bekannt machen.

Charlotte

An einem Januarmorgen vor fünfundzwanzig Jahren habe ich mich auf den Weg gemacht, um Charlotte Hermann kennen zu lernen. Es war ein sehr kalter Morgen, obwohl die Sonne, nach tagelangen Schneefällen, großzügig vom fast blauen Himmel schien. Charlotte lebte in Kreuzberg. Ich war nur selten in dieser Gegend, deshalb dauerte es eine Weile, bis ich erst die Straße und dann das Haus fand. Ich klingelte bei Frau Müller, ihrer Nachbarin, die mich einen Tag zuvor angerufen und um einen Besuch gebeten hatte. Frau Müller hatte mir berichtet, dass Charlotte krank sei und dringend zum Arzt müsse. Sie sei uneinsichtig und wolle keine Hilfe annehmen. Sie wisse, dass Frau Hermann Jüdin sei und aus diesem Grund rufe sie mich an. Ich arbeitete damals als Gemeindeschwester bei der Jüdischen Gemeinde und Hausbesuche waren an der Tagesordnung.


Charlottes Wohnort in der Neuenburger Straße, wo die erste Begegnung zwischen Rachel und Charlotte stattfand.

Frau Müller hatte Charlottes Wohnungsschlüssel. Sie öffnete mir die Tür und ging mit mir in die Wohnung. Ich trat in einen kleinen dunklen Flur, der mit einer Garderobe, einem Schuhschrank und einem Spiegel ausgestattet war. Es war eine Ein-Zimmer-Wohnung, nicht sehr groß, mit einer hohen Decke und zwei großen Fenstern. Die schweren, verstaubten Gardinen, die an manchen Stellen lose von der Stange hingen, waren dicht zugezogen, so dass das Tageslicht keine Chance hatte, in das spärlich möblierte Zimmer einzudringen. Im Zimmer war es kalt und roch muffig und es war still. Niemand kam mir entgegen. Niemand fragte: "Wer ist da?". Fragend drehte ich mich zu Frau Müller um. Sie zeigte stumm mit einer Kopfbewegung Richtung Schlafnische. Auf einer alten nackten Matratze, die in der Ecke der Nische lag, saß Charlotte. Die langen Haare, die einst rot gefärbt gewesen waren, hingen ungekämmt und ungewaschen über ihre Schulter und bedeckten ihr Gesicht. Wortlos schaukelte sie hin und her. Mich schien sie nicht zu bemerken. Erst, als ich sie begrüßte und mich vorstellte, hob sie langsam ihren Kopf und schaute in meine Richtung.

Wenn es wahr ist, dass die Augen die Spiegel der Seele sind, dann waren diese Spiegel leer. Ich schaute in zwei leere Spiegel und hatte plötzlich das Gefühl, an einem Abgrund zu stehen. Eine eiserne kalte Hand packte mein Herz und versuchte es zu zerquetschen.

Frau Müller war inzwischen gegangen und ich blieb allein mit einer Frau, deren Seele so laut vor Schmerz schrie, dass es den halbdunklen Raum erfüllte und in meinem Kopf dröhnte. Ich stand hilflos und verloren vor Charlotte und hatte keine Ahnung, wie ich ihr helfen könnte. Mir fiel auf, dass sie, ungepflegt, nach altem Schweiß riechend, mit ausdrucklosem Gesicht und nicht mehr ganz jung, doch eine Anziehungskraft besaß, wie ich sie selten erlebt hatte. "Wie schön sie ist", dachte ich fasziniert, "und wie unglücklich". Ich habe lange gebraucht, um sie zu überzeugen, Hilfe zuzulassen. Sie hatte keine Kraft zum Reden und so erfuhr ich nur in kleinen Portionen etwas über sie und ihr Leben: dass sie 64 Jahre alt war, dass sie in Dresden geboren worden war und als junges Mädchen mit ihren Eltern vor den Nazis in die Tschechoslowakei geflohen war und dort bis vor kurzem gelebt hatte, dass ihr mit einem jüngeren Mann, der ihr Freund war, die Flucht von dort gelungen war und dass dieser Freund sie gerade verlassen hatte. Ich erfuhr auch, dass sie drei Jahre in Auschwitz verbracht und dass sie nur dank ihrer Jugend und Schönheit überlebt hatte. Ich habe meine ganze Überzeugungskraft daran gesetzt und es schließlich geschafft, sie in ein Krankenhaus zu bringen. Ob wir mit meinem Pkw oder mit dem Krankenwagen dorthin kamen, weiß ich nicht mehr. Das ist auch nicht so wichtig. Wichtig dagegen ist, dass sie in Sicherheit war, dass es Ärzte und Krankenschwester um sie herum gab, die Acht auf sie gaben und ihr hoffentlich würden helfen können. Ich habe sie so oft ich konnte im Krankenhaus besucht. Drei Wochen später lernte ich eine andere Charlotte kennen. Für mich war es wie ein Wunder, dass ihre Augen sich wieder mit Leben füllten. Ein Wunder war es auch, sie lachen zu hören. Aber immer wieder erlebte ich in den fünf Jahren, in denen ich sie kannte, wie sich ihre schönen Augen aufs Neue in leere Spiegel verwandelten.

Ihr ganzes Leben lang war Charlotte auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit gewesen und hat sie nie gefunden. Sie starb 69-jährig an Krebs, herzzerreißend vor Schmerzen schreiend und ich war nicht da, um sie zu trösten. Charlotte hat mich damals sofort in ihren Bann gezogen und lässt mich auch heute noch, fünfundzwanzig Jahre später, nicht los.


Rachel Shneiderman, geboren 1951 in Taschkent, ehemalige UDSSR. Vor 40 Jahren ausgewandert, zuerst nach Israel und 1978 nach West-Berlin. Im Rahmen ihrer Tätigkeit als Gemeindeschwester bei der Jüdischen Gemeinde zu Berlin hat sie sich jahrelang um Charlotte gekümmert.



Das Projekt "Jüdische Frauengeschichte(n) in Berlin - Writing Girls - Journalismus in den Neuen Medien" wurde ermöglich durch eine Kooperation der Stiftung ZURÜCKGEBEN, Stiftung zur Förderung jüdischer Frauen in Kunst und Wissenschaft



und der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ)



Weitere Informationen finden Sie unter:

www.stiftung-zurueckgeben.de

www.stiftung-evz.de


© Rachel Shneiderman



Jüdisches Leben

Beitrag vom 15.07.2012

AVIVA-Redaktion