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Interviews
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Beitrag vom 10.12.2003
Das Interview mit Dr. Elvira Grözinger
Sharon Adler
Eine der Leiterinnen der Jüdischen Kulturtage 2003 "A jiddische Gass" über Traditionen, den Magisterstudiengang Jüdische Studien/Jewish Studies und die "literarische "Heimat"
AVIVA-Berlin: Zusammen mit Peggy Lukac, Sigalit Meidler-Waks, Vladimir Stoupel und Moishe Waks waren Sie eine der Leiterinnen der Jüdischen Kulturtage 2003. Was war für Sie die größte Herausforderung dabei?
Dr. Elvira Grözinger:
Wir alle, denke ich, haben versucht, das Jiddische als eine lebendige, traditionsreiche und dennoch moderne Sprache samt der damit zusammenhängenden Kultur darzustellen. Dabei sollte den Klischees und hartnäckigen Vorurteilen über Jiddisch und die jiddische Kultur entgegengewirkt werden. Ich als Literaturwissenschaftlerin habe versucht, durch die Lesung der Texte auch der in "Westjiddisch" schreibenden Autorin Glikl Hameln (oder wie man sie hierzulande nennt: Glückel von Hameln) zu zeigen, daß Jiddisch nicht nur ein vermeintlich nostalgischer osteuropäischer Schtetel-Import ist, sondern zur deutschen Kultur gehört. Ich hoffe, daß wir diese Herausforderung gemeinsam gemeistert haben.
AVIVA-Berlin: Die diesjährigen Kulturtage stehen unter dem Motto: "A jiddische Gass". Was verbindet Sie persönlich mit Jiddisch?
Dr. Elvira Grözinger:
Ich bin in Polen geboren, allerdings nach dem Zweiten Weltkrieg und als Kind von den einzigen Schoah-Überlebenden in ihren Familien. Jiddisch war neben Polnisch die Sprache meiner Mutter, wobei sie Jiddisch eben nur mit Bekannten und nicht mehr mit Verwandten sprechen konnte. Das war vor allem in Israel der Fall, wohin wir eingewandert waren. Ich habe diese Sprache gehört und als warm und herzlich empfunden. Sie war mir im Alltag vertraut, aber ich wollte auch die "höhere", literarische, Ebene kennen lernen und habe sie daher später auch deshalb studiert. In Potsdam arbeite ich auf diesem Gebiet (zur Zeit über jiddische Volkslieder aus Osteuropa) wissenschaftlich, habe mit einer Arbeit über die jiddische Kultur promoviert (jiddisches Theater), und sie nun während der Kulturtage im "Jiddisch Land" genossen...
AVIVA-Berlin: (Wo) sehen Sie die Chancen für die Jüdische Gemeinde Berlin durch die Kulturtage?
Dr. Elvira Grözinger:
Die Kulturtage werden, so weit ich es beobachten konnte, mehrheitlich von Nichtjuden besucht. Daher sind sie eine Visitenkarte dieser Gemeinde, wie auch ein Mittel, mehr über unsere so reiche Kultur als über unsere ständigen innerjüdischen Konflikte zu erfahren, die in der Presse ein breites Echo finden. Neben den während des ganzen Jahres stattfindenden kulturellen Aktivitäten der jüdischen VHS, der verschiedenen Vereine und neben unserer hervorragenden Gemeinde-Bibliothek, kann man so innerhalb weniger Tage einen thematischen Querschnitt zeigen, der nachhaltig wirkt. Ich habe mich über die große Resonanz vieler der Veranstaltungen sehr gefreut. Und daß während der Kulturtage so viele Menschen die Nacht der Synagogen dazu nutzen, die ihnen unbekannte Religion etwas näher kennen zu lernen, zeigt, daß wir dadurch auch manchen Besuchern die Schwellenangst nehmen konnten.
AVIVA-Berlin: An der Universität Potsdam, am Institut für Religionswissenschaft und Kollegium Jüdische Studien, sind Sie für den Magisterstudiengang Jüdische Studien/Jewish Studies mit zuständig. Bitte informieren Sie uns über den Studiengang und Ihre Arbeit dort.
Dr. Elvira Grözinger:
Das tue ich gerne. Ich bin als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kollegium Jüdische Studien/School of Jewish Studies tätig. So heißt inzwischen dieser interdisziplinäre Studiengang, der im Herbst 1994 gegründet wurde. Ich habe als Lehrbeauftragte für Jiddisch und Modernes Hebräisch die ersten Studierenden unterrichtet. Ich hatte sie alle gekannt. Inzwischen sind es an die 400, so daß mir nicht mehr alle bekannt sind... Wir sind der größte Studiengang für jüdische Studien in Deutschland.
Am Kollegium beteiligt sind unterschiedliche Professuren und Mitglieder von An-Instituten, die mit der Universität kooperieren. Die Träger des Studiengangs sind die inzwischen zwei Professuren für Religionswissenschaft, beide mit den Schwerpunkten jüdische Religion, die eine zuständig für die Rabbinischen Studien, die zugleich für die Rabbinerausbildung am Abraham Geiger Kolleg zuständig ist, die andere für die jüdische Religionsgeschichte, die hauptsächlich die Studierenden der Religionswissenschaft, der Jüdischen Studien und .des neuen Studiengangs LER mitbetreut. Der andere Hauptträger ist die Professur für deutsch-jüdische Geschichte. Der regelmäßig beteiligte Lehrkörper gehört außerdem dem Institut für Germanistik, Pädagogik und der Soziologie an, weitere häufig beteiligte Professuren kommen aus der Slavistik, Romanistik, Anglistik und Amerikanistik, ferner aus der Musikwissenschaft. Wir organisieren viele interdisziplinäre Ringvorlesungen, wodurch der Studiengang in der Mitte der Universität präsent ist. Es ist kein Orchideenfach bei uns...
Die jiddische Kultur spielt bei uns eine wichtige Rolle, weil wir sowohl die jiddische Bibliothek als auch ein Archiv des ehemaligen Chefdramaturgen des Jüdischen Staatstheaters Bukarest, Israil Bercovici, der zugleich ein jiddischer Dichter war, erwerben konnten. So haben wir einen beachtlichen Grundstock für die Erforschung der jiddischen Kultur vor Ort.
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Copyright: Christine Gruler |
Wir haben ein Graduiertenkolleg für Doktoranden und Postdoktoranden zum Thema "Makom" und viele Forschunsgprojekte, die aus Drittmitteln finanziert werden. Ich selbst arbeite an einem von der VW-Stiftung finanzierten Projekt zur jüdischen Musik aus der ehemaligen Sowjetunion: "Jiddische Lieder und Purimspiele aus der St. Petersburger Sammlung von Moishe Beregowski und Sofia Magid", außerdem laufen zwei weitere Projekte: "Jiddische Lieder und Klezmermusik" aus dem Tonarchiv von David Kohan, finanziert von der Fritz-Thyssen-Stiftung, sowie "Die Neue Jüdische Schule in der Musik", finanziert von der Robert-Bosch-Stiftung. Die dafür bewilligten Drittmittel betragen ca. 750.00 EUR. Da die jüdische Kultur in ihrer ganzen Breite nicht abgedeckt werden kann, haben wir z. Zt. wenigstens auf dem Gebiet der jüdischen Musik, die im Judentum eine zentrale Stellung innehat, einen einmaligen Schwerpunkt inne, die unseren Studierenden Kenntnisse vermittelt, die ihnen innerhalb der Geistes- und Kulturwissenschaften besondere Qualifikation vermittelt. Aber Sie können auf unserer aktuellen, gerade im Aufbau befindlichen, Homepage mehr Informationen bekommen, u. z. im Internet.
AVIVA-Berlin: Bitte geben Sie unseren Leserinnen weitere Informationen über die Entstehung und das Anliegen des Instituts für Religionswissenschaft i. Gr. und über die Vereinigung jüdische Studien e.V.
Dr. Elvira Grözinger:
Das Institut für Religionswissenschaft der Universität Potsdam befindet sich z. Zt. in Gründung, weil zwei neue Professuren hinzugekommen sind. Seit 1994 gab es nur einen Lehrstuhl für Religionswissenschaft mit dem Schwerpunkt Jüdische Religionsgeschichte, der von meinem Mann bekleidet wird. Seit dem kürzlich gegründeten Abraham Geiger Kolleg, welches Rabbiner des Progressiven Judentums ausbildet, was nach dem absolvierten MA-Abschluß in Jüdischen Studien erfolgt, ist eine Stiftungsprofessur für Rabbinische Literatur hinzu gekommen und eine für das Christentum. Es ist nämlich so, daß an der Universität Potsdam auch ein neuer Studiengang für Lehrer des Faches LER (Brandenburgische Spezialität) eingerichtet wurde, weshalb sich die Studierenden mit dem "jüdisch-christlichen" Erbe Europas vertraut machen müssen. Den Schwerpunkt bildet aber - und das ist eben das Einzigartige an einer deutschen Universität - die jüdische Religion und Kultur. Auch hier können Sie über das Internet mehr erfahren: www.uni-potsdam.de/u/religion/index.htm
Die Vereinigung für Jüdische Studien e. V. wurde im Jahre 1996 gegründet, um den auf allen mit Judentum zusammenhängenden Gebieten arbeitenden Kollegen und Kolleginnen, die es mehr interdisziplinär als es bis jetzt die Judaisten tun, ein Forum zu bieten. Jährlich erscheint eine Vereinsbroschüre und im Mai 2004 wird in Stuttgart ein Kongreß der Vereinigung zum Thema: "Jüdische Kultur in Vergangenheit und Gegenwart" stattfinden, zu den Themen Musik, Literatur, Film, Architektur, Theater und Kunst. Zur Vereinigung Jüdische Studien existiert ebenfalls ein Link unter:
www.uni-potsdam.de/u/religion/index.htm
AVIVA-Berlin: Die Liste Ihrer Publikationen, Wissenschaftlicher Aufsätze, Presseartikel und Rezensionen ist lang. Woran arbeiten Sie gerade?
Dr. Elvira Grözinger:
Ich habe gerade ein Buch über "Die schöne Jüdin. Klischees, Mythen und Vorurteile über Juden in der Literatur" veröffentlicht und arbeite jetzt an einer Kulturgeschichte des jiddischen Volkslieds. Bisher hatte ich mich noch nicht viel mit jüdischer Volkskultur beschäftigt, sie ist aber faszinierend und unerschöpflich.
AVIVA-Berlin: Auf welche Neuerscheinung sind Sie gespannt?
Dr. Elvira Grözinger:
Seit einiger Zeit kommen Bücher heraus, die sich mit der deutschen Nachkriegsliteratur und ihren Schöpfern beschäftigen - wie etwa Klaus Brieglebs Studie zur Gruppe 47 und ihrem Verhältnis zu den Juden. Ich selbst habe vor kurzem in einem Aufsatz für die Frankfurter Jüdische Nachrichten, eine übrigens viel zu wenig bekannte jüdische Vierteljahresschrift, über Martin Walsers Verhältnis zu Juden geschrieben. Auf weitere Enthüllungen und Studien zu diesem Thema bin ich sehr gespannt.
AVIVA-Berlin: Sie sprechen Polnisch, Hebräisch, Englisch, Französisch, Jiddisch und Deutsch. Wo ist Ihre literarische "Heimat?"
Dr. Elvira Grözinger:
Meine erste literarische Heimat war zehn Jahre lang Polen. Die polnische Literatur - jüdische oder nichtjüdisch, ist sehr spannungsreich und interessant. Ihr bin ich bis heute treu geblieben, als Leserin und als Wissenschaftlerin, obwohl ich keine examinierte Polonistin bin.... In Israel kam die hebräische Literatur hinzu, die heute nicht zuletzt durch Frauen eine ungeahnte Breite und Intensität erreicht, dann ist es die jiddische Literatur, die ich hauptsächlich wegen ihres Humors sehr liebe. In den letzten Jahren hat sich bei mir die Vorliebe für jüdische Literaturen verschiedener Länder bemerkbar gemacht - ob in den USA, Frankreich oder anderswo. Aber seit meinen Studien der Anglistik, Romanistik und Germanistik lese ich auch die nichtjüdischen Autoren dieser Kulturbereiche gerne. Ich empfinde die Literatur als die Seele eines jeden Volkes, die darüber hinaus grenzüberschreitend wirkt. So lerne ich dadurch viele Völker kennen, ohne zwingender weise unter ihnen leben oder dahin reisen zu müssen. Und da ich auf Menschen und Kulturen immer schon sehr neugierig war, bereichert und beglückt mich das Lesen sehr.
Mehr Informationen zum Magisterstudiengang Jüdische Studien/Jewish Studies an der Universität Potsdam im Netz unter:
http://www.uni-potsdam.de/u/juedstud/index.html