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Beitrag vom 01.12.2005
Interview mit Schoschana Rabinovici, Autorin von: Dank meiner Mutter
Martina Weibel
Ein langes Schweigen geht ihrem Buch voraus. Mit AVIVA spricht sie über den Verlust ihrer Kindheit im Nationalsozialismus und den qualvollen Weg, zu einer eigenen Sprache zu finden
"Diese kindlichen Bilder sind geblieben"
AVIVA-Berlin: Frau Rabinovici, es gibt in Ihrem Buch "Dank meiner Mutter" eine Stelle, an der Sie schreiben: "Von diesem Tag an hörten wir Kinder auf zu spielen". Bedeutete dieser Tag das Ende Ihrer Kindheit?
Schoschana Rabinovici: Ja, das war in der Wohnung meines Großvaters. Der größte Teil unserer Familie lebte hier, da unsere eigene Wohnung schon beschlagnahmt war. Dann gab es plötzlich eine "Aktion". Die Chappers, eine Art litauische Polizei, liefen die Treppe herauf und haben nach Männern gesucht. Mein Großvater, mein Stiefvater Julek und meine Onkel flüchteten und eine Familie im Haus versteckte sie. Wir, die Kinder, wurden ins Badezimmer gebracht. Es war eine furchtbare Stimmung, eine sehr gedrückte Stimmung. Als alles vorbei war und wir wieder aus dem Badezimmer heraus durften, haben wir nicht mehr gesungen und gespielt, wir waren erschrocken. Ich, die Achtjährige, habe gar nicht verstanden, warum wir so erschrocken waren.
Aber, es ist so eine Stille im Haus geblieben. Es begann sich eine andere Kindheit zu entwickeln, eine reale, harte Kindheit, nicht die verspielte. Obwohl ich noch lange glaubte, dass es ein Spiel ist, dass es nicht real ist. Als man mir erzählte, dass mein Vater von den Deutschen weggeführt worden war, habe ich lange Zeit gesagt: Ach ja, das ist gut, dann ist er irgendwo aufgehoben, dann ist er nicht draußen, wo geschossen wird. Ich habe nicht verstanden, dass das viel schlimmer war.
AVIVA-Berlin: Sie thematisieren in Ihrem Buch den Verlust Ihres Vaters in einem Gedicht. Ihre Gedichte, die Sie im Ghetto und in den Lagern schrieben, oder auch die Lieder, die Sie, das kleine Kind, den erwachsenen Frauen dort vorsangen, war das für Sie eine Rettung, eine geistige Rettung?
Schoschana Rabinovici: Genau das, die Lieder haben dem Geist sehr viel geholfen. Das ist sehr wichtig. Im Ghetto in Wilna gab es eine Diskussion: Soll man Theater machen oder nicht, darf man das an einem solchen Ort. Meine Mutter war sehr dafür, sie hat mich immer mit zum Theater genommen, obwohl ich ein kleines Kind war. Nicht zu den ernsten Stücken, aber zu den Revuen, bei denen viel gesungen und gelacht wurde. Ich habe diese Lieder dann gelernt und im Ghetto auch im Chor gesungen.
Im Lager habe ich kleine Gedichte, manchmal waren es auch nur dumme Sätze, auf Papierfetzen geschrieben, obwohl es verboten war, und wenn ich gesungen habe, dann war ich wieder ein bisschen das Ghettokind. Diese Lieder haben die Vergangenheit, ein Stück Leben, in die Gedanken der Frauen zurück geholt.
Die Lieder aus dem Ghetto sind teilweise sehr traurig, aber teilweise sagen sie auch: Wir sind noch da! Ich behaupte, nun, auch wenn wir nicht mit dem Gewehr in der Hand gekämpft haben, war das ein Widerstand, der sich gegen den Willen des Naziregimes richtete. Diejenigen, die überleben wollten und um das Leben gekämpft haben, das war Widerstand und das war auch der Sieg.
AVIVA-Berlin: Nach der Befreiung schreiben Sie nicht mehr und kehren erst über 50 Jahre später noch einmal in Ihre Kindheit zurück.
Aus dieser Rückkehr entsteht Ihr Buch, das Sie jedoch nicht aus der Sicht der Erwachsenen, sondern aus der des Kindes schreiben.
Schoschana Rabinovici: Es gab immer einen Druck, ein Bedürfnis zu schreiben. Ich habe schon nach der Befreiung in Polen begonnen, ein Gedicht in Jiddisch über meinen Vater zu schreiben, aber nachdem meine Mutter das gesehen hat und einen Skandal machte, habe ich aufgehört. Das Buch konnte ich nicht als Erwachsene schreiben. Ich hätte verurteilen oder beurteilen müssen, hätte Stellung beziehen müssen und das wollte ich nicht. Und da ich glaube, der Leser sollte selbst Stellung beziehen, habe ich das Buch aus Kindperspektive, so wie ich es empfunden habe, geschrieben. Es war auch eigentlich gar nicht als Buch, sondern als Erinnerung für meine eigenen Kinder gedacht, als Nachlass, weil wir zu Hause darüber nicht sprachen.
In meiner Familie war das so, dass meine Mutter sagte: Wir haben die Knochen gerettet und jetzt müssen wir unsere Seele retten. Und die Seele zu retten, das hieß, dass ich zu lernen hatte, mich in einer normalen Welt zu verhalten und zu fügen. Wie ein normales Kind eben, ich durfte nicht über die Vergangenheit sprechen. Das war sehr schwer zu bewältigen
AVIVA-Berlin: Es wurde Ihnen ausdrücklich verboten zu sprechen?
Schoschana Rabinovici: Ausdrücklich verboten, meine Mutter hat es mir ausdrücklich verboten. Sie hat nie mit mir darüber gesprochen, auch nicht mit anderen. Sie hat auch die Kontakte zu allen abgebrochen, mit denen wir im Lager waren. Es war vorbei. Das haben wir immer wieder gesagt: Wir haben die Tür hinter uns geschlossen.
Wir haben zwar Bücher gelesen, Filme haben wir auch gesehen. Aber wir haben nie besprochen, was wir miteinander gesehen oder gelesen haben. Was es gab, war eine Art Geheimsprache, einzelne Worte, die uns an Situationen erinnert haben oder kleine Kommentare: Es war viel schlimmer! Na, so war das nicht! Aber das war alles. Mehr nicht. Es hieß, man kann vergessen, heute weiß man, dass man es nicht vergessen kann.
AVIVA-Berlin: Gab es denn für Sie einen konkreten Auslöser, dann doch zu sprechen?
Schoschana Rabinovici: Erst nachdem meine Mutter gestorben war und mich die Gedanken nicht losließen, hatte ich plötzlich ein Bedürfnis der Mitteilung.
Das war nun eine sehr schwierige Situation, denn ich wollte mit 55 Jahren erzählen, was ich zwischen acht und zwölf erlebt hatte. Ich musste sicher sein, dass das auch richtig ist, denn da war ja niemand, der mir sagen konnte, aber das war so und so, der mich korrigieren konnte.
Es ergab sich dann eine etwas eigenartige Gelegenheit, zusammen mit meinem Mann nach Wilna zu fahren, und wir kamen dort am 6.September an. Das war der Tag, an dem wir damals ins Ghetto gingen und da kam alles hoch.
Davor gab es nur eine Bilderinnerung, Worte waren überhaupt nicht da. Die kamen erst, als ich in Wilna die Straße fand, unser Haus und auch den Hof, der ganz zerstört war. Ich wusste aber, dass da ein Mosaik gewesen war und so haben wir Schutt weggeräumt und tatsächlich Teile des Mosaiks gefunden. Das hat mich bekräftigt, wie präzise ich mich an alles erinnere.
AVIVA-Berlin: Sie haben Ihre Erinnerung wie ein Mosaik zusammengesetzt?
Schoschana Rabinovici: Die Erinnerung war wie ein Mosaik. Wir sind zum Beispiel nach Stutthof gefahren und da fehlte mein Formular. Das Formular meiner Mutter war da und das meiner Stiefschwester, aber meins nicht. Ich habe bemerkt, dass zwischen den beiden Formularen eine Nummer fehlte. Ich habe um diese Nummer gebeten und diese Nummer war meine. Mein Formular, aber mein Name auf diesem Formular war: Susanna Rauch, 18 Jahre alt, geb. in Bialystock. Nun, in Wirklichkeit war ich elf und bin in Paris geboren. Unten war eine Unterschrift, krakelig, so wie ein Kind das schreibt: Susie Rauch. Meine Mutter hatte das alles ausgefüllt und sich diesen Lebenslauf ausgedacht. Denn wir durften ja nicht Mutter und Tochter sein, das hätte unseren Tod bedeutet. Wieder war ein Teil gefunden und erinnert.
AVIVA-Berlin: Dieses Aufsuchen der Orte der Vergangenheit hat aus den Bildern Sprache entstehen lassen?
Schoschana Rabinovici: Alles was im Buch ist, sind Bilder. Ich habe gemeinsam mit meinem Mann auch Kaiserwald, das Lager bei Riga, und Tauentzien, das letzte Lager nach dem "Todesmarsch", gesucht und so meine Erinnerungen dort an den Plätzen überprüft. Als ich dann nach Hause kam, habe ich mir ganz einfache Schulhefte gekauft und angefangen zu schreiben: Bilder. Bilder, die überhaupt keine Reihenfolge hatten. Beim Schreiben sind plötzlich Namen zurück gekommen, das war ein Phänomen: Ich habe geschrieben und ich wusste nicht, was ich schreibe und plötzlich wusste ich ganz genau, der hieß so und so. Plötzlich habe ich mich erinnert, da war eine "Kinderaktion" und dann daran, dass meine Mutter krank war und dieses furchtbare Loch im Fuß hatte...
AVIVA-Berlin: Und das war vorher weg..
Schoschana Rabinovici: Sicher, wir haben nicht darüber gesprochen
AVIVA-Berlin: Ja, es war nicht in der Sprache, aber es war doch in Ihrer Seele?
Schoschana Rabinovici: In meiner Seele waren Träume. Zum Beispiel habe ich sehr oft geträumt von der Überfahrt mit diesem Schiff*, all dieser Schmutz und dieses Erbrechen, das ist unvorstellbar, und ich habe immer wieder geschrieen und wenn ich geschrieen habe, hat man mich geweckt. Nun, wo endet der Traum, wo beginnt die Wirklichkeit? Nur wenn ich die Orte aufsuchte, wusste ich, dieser Teil ist Traum, aber das nicht, das war Wirklichkeit.
AVIVA-Berlin: Darf ich noch einen Moment beim Problem Sprache bleiben?
Sie wollten Ihre Erinnerungen versprachlichen und hatten dafür nur die Erfahrungswelt eines Kindes. Bedeutete das für Sie eher Schutz, eine Erleichterung, um zu einer eigenen Sprache zu finden oder blieb das Gefühl der Sprachlosigkeit?
Schoschana Rabinovici: Es ist klar, dass ich von Kindheit an, ohne jetzt die Lager und das Ghetto zu nennen, eine Tendenz hatte zu schreiben. Man hat auch über mich gesagt, sie hat Talent und sie wird schreiben. Aber ich schrieb nicht. Ich schrieb nicht, weil ich keine Sprache hatte. Die Erinnerungen konnte ich aufschreiben, weil ich wusste, das schreibe ich für mich, das wird niemand lesen, nun, meine Söhne, aber sonst niemand. Ich traue mich nicht zu schreiben. Es ist ein Problem, weil ich von einer Sprache zur anderen gegangen bin. Ich habe mit Jiddisch begonnen, dann Polnisch, ein bisschen Litauisch und Russisch, dann Deutsch und so immer weiter. Alles ein bisschen. Da sind nirgendwo Wurzeln.
Aber ob diese Bilder ein Schutz waren? Ja, damals waren sie ein Schutz, das glaube ich schon. Ich hatte diese Vorstellungen, wie ein Kind sie eben entwickelt, um eine Situation zu begreifen. Es gibt ein Bild, das mir bis heute in den Augen ist: Im Ghetto war eine "Altenaktion", da war dieser Ukrainer, er war groß, hat nach Alkohol gerochen und hatte einen Stock in der Hand. Und ich lag versteckt oben in meinem Stockbett. Ich habe bis heute dieses Bild eines Ungeheuers mit einer Keule. Diese kindlichen Bilder sind geblieben.
AVIVA-Berlin: Diese kindlichen Bilder zurück zu holen, sie erinnerbar zu machen, hat das für Sie bedeutet, diese zu zähmen, nicht mehr so ausgeliefert zu sein?
Schoschana Rabinovici: Nein, ich habe der Erinnerung freien Lauf gelassen, nachdem ich die Orte gesehen hatte. Eine ganz kleine Sache dazu, ich war auf den Galapagos, es war eine wunderschöne Reise, ich hatte mir das gewünscht zum Geburtstag. Wir waren da mit einer österreichischen Gruppe, es war wunderbar. Und eines Abends haben wir ein Essen bekommen, da waren als Beilage solche Scheiben, von denen kein Mensch wusste, was das ist. Und jeder hat gemacht: bäh, was ist das für eine komische Geschichte. Und ich hab´s gekostet, und das waren Zuckerrüben, ich habe sie aufgegessen. Ich war schon nicht mehr in Galapagos, ich war dort. Ich habe diesen Geschmack 50 Jahre nicht gespürt, alle haben es auf dem Teller gelassen und ich habe nur rausgeschrien: Zuckerrüben. Das ist, was die Erinnerung zurückbringt: der Körper. Ein Geruch, ein Geschmack, eine Geste, ein Geräusch. Wenn ich jetzt an Zuckerrüben denke, dann ist das für mich der Weg von der Arbeit nach Stutthof, da hat man sich bemüht eine Zuckerrübe zu organisieren.
AVIVA-Berlin: Vielen Dank für das Gespräch.
*S. Rabinovici bezieht sich auf die Überfahrt über das baltische Meer, nach der Evakuierung des Lagers Kaiserwald 1944. Die Inhaftierten wurden tagelang im Bauch des Schiffes ohne Nahrung und Wasser eingeschlossen. Ziel dieser grausamen Reise war das Konzentrationslager Stutthof.
Erstveröffentlichung des Interviews: Frankfurter Jüdische Nachrichten Oktober 2005
Schoschana Rabinovici
Dank meiner Mutter
Fischer Taschenbuch Verlag, erschienen Februar 2005
ISBN 3-569-80571
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Lesen Sie auch die Rezension zum Buch "Dank meiner Mutter".