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Beitrag vom 03.01.2005
Interview mit den Jewels - Teil II
Sharon Adler + Julia Richter
Vivian Kanner, ehemalige Frontfrau der Münchner Band "Gefilte Fish", ausserdem Schauspielerin, und Sharon Brauner, die seit Jahren als Schauspielerin und Sängerin im Rampenlicht steht.
AVIVA-Berlin: Für die Jüdischen Kulturtage 2002 habt ihr gemeinsam eine Doku gedreht: " Leben und leben lassen " ist ein Film über die Bedeutung des Judeseins für jüdische und nichtjüdische Berliner. Was bedeutet Judesein für euch?
Vivian: Genau die Frage haben wir ungefähr 100 Leuten auf der Straße gestellt.
Sharon: Wir haben jüdische, christliche, moslemische, schwule, lesbische, junge alte, arme und reiche Menschen aus Ost und West gefragt, was ihnen zu Berlin und zum Thema Judentum einfällt. Ob sie Berlin mögen, was sie sich wünschen und woran sie glauben. Dabei kam heraus, dass der Berliner an sich an alles andere, an sich selber, aber nicht an Gott glaubt. Auf die Frage, was ihnen zum Judentum einfällt, hat nicht einer dasselbe geantwortet. Der Film ist 20 Minuten lang und sehr spannend. Er lief in Russland und Belgien, auch Schulklassen haben ihn angefordert.
AVIVA-Berlin: Was bedeutet das Judentum für Euch?
Sharon: Schwer zu sagen. Ich kenne es, bin mit dem Judentum aufgewachsen, mag es gerne, hab mich aber nie damit identifiziert. Ich würde mich nicht als jüdisch bezeichnen. Ich lebe ja weder den Glauben noch die Tradition. Das Judentum ist eines von vielen spannenden Aspekten auf unserem so bunten Planeten.
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Fotos von Ann-Christine Woehrl |
Vivian: Ich bin in einer sehr traditionellen Familie aufgewachsen. Die Ausübung der Tradition ist stark mit meiner Familie verbunden, und wenn ich alleine bin, zünde ich keinen Chanukkaleuchter oder backe Challe. Für mich ist es wichtig, andere Werte weiterzugeben, die über die Grenzen des jüdischen Glaubens hinweg Gültigkeit besitzen. Für das menschliche Zusammenleben ist Toleranz von entscheidender Bedeutung. Man sollte Menschen nicht auf das reduzieren, was sie darstellen, sondern sie als Menschen ansehen und wie Sharon gesagt hat, nicht nur mit Juden herumhängen, das empfinde ich als geistige Inzucht.
Sharon: Schön finde ich am Judentum, den Humor sowie das Verehren, ja fast Vergöttern der Eltern. Da drin bin ich sehr jüdisch. Man wird mit einem permanent schlechten Gewissen erzogen. Das ist zwar krankhaft und zwanghaft, aber irgendwie auch sehr schön und bringt ein lustiges enges familiäres Zusammenleben mit sich. Das ist wie bei dem Witz mit der italienischen und der jüdischen Mutter: Wenn das Kind nicht aufessen will, sagt die italienische Mutter: "Ich bring dich um!" und die jüdische Mutter: "Ich bring mich um!"
Vivian: Ich bin Tochter eines Holocaustüberlebenden und in Deutschland aufgewachsen. Das ist eine Bürde, die Du trägst. Ich war früher in der ZJD (Zionistische Jugend Deutschland, Anm. der Red.) sehr aktiv, und da wurde ich ständig mit solchen Fragen konfrontiert: "Was sagen junge Juden zu diesem oder jenem Thema?" Mir fiel auf, dass es einen ungeheuren Bedarf bei der nichtjüdischen Generation meines Alters gibt, über das Thema Holocaust zu reden und dass sie ein ungeheures Schuldgefühl mit sich herumträgt. Ich glaube, es ist einfacher, die Tochter eines Opfers als die Tochter eines Täters zu sein.
Sharon: Warum glaubst Du, dass es einfacher ist, die Tochter eines Opfers zu sein als die eines Täters?
Vivian: Viele Deutsche tragen eine "Erbschuld" mit sich herum, die ihnen keiner aufgebürdet hat - ich zumindest nicht. Es sind ja nicht alle Mörder gewesen. Aber wenn sie sich über dieses Thema unterhalten, habe ich oft das Gefühl, dass sie eine große Belastung empfinden. Ich hingegen habe dieses Gefühl nicht, weil mein Vater im KZ saß, und ich frage mich, warum einige junge Menschen, so empfinden. Sie haben doch zu dieser Zeit noch gar nicht gelebt, aber ich habe bei vielen das Gefühl, dass sie froh sind, endlich einen Juden vor sich zu haben. Ich steh ihnen dann gerne Rede und Antwort. Mit unserem heutigen Wissen ist es einfacher, über diese Zeit zu urteilen. Wenn einem heute jemand sagen würde, dass unzählige Menschen in Viehwagons abgekarrt werden, wäre doch die normale Reaktion zu sagen: "Mensch, Du spinnst!" Das übersteigt jede Vorstellungskraft.
Sharon: Ja, Du hast recht. Ich find`s aber auch wichtig darauf hinzuweisen, dass es viele nichtjüdische Deutsche gab, die Juden geholfen haben, zu überleben. Ohne diese mutigen Helfer hätte meine Familie wahrscheinlich nicht überlebt, die haben bis 1940 in Berlin gewohnt. Meine Großmutter hatte in der Reichskristallnacht Geburtstag, deshalb sind sie an dem Abend essen gegangen. Als sie zurückkehrten, war das Haus vollkommen verwüstet, und sie erhielten einen anonymen Anruf, dass der Vater sofort verschwinden sollte, da er auf einer Deportations-Liste stand. Daraufhin hat sich die Familie geteilt: Meine Oma floh mit meiner Mutter über Jugoslawien und Italien in die Schweiz. Dort lebten meine Oma und meine Mutter in einem Lager bis sie später weiter nach Frankreich gingen. 1954 kehrten sie in ihre alte Heimat zurück. Meine Familie mütterlicherseits lebt ja bereits seit 7 Generationen in Deutschland. Aber dieses Thema möchten wir nicht in unserer Show ansprechen. 33-45 ist tabu. Wir wollen lieber zeigen, was da verschwunden ist. Was für eine lebendige Kultur, was für eine Lebensfreude trotz der armen Verhältnisse.
AVIVA-Berlin: Sharon, Dein Vater kommt aus Lodz. Als Dreizehnjährige hast Du ein jüdisches Mädchen in einem Film gespielt, der in der Heimatstadt Deines Vaters spielt. Dein Vater hat Dich während der Dreharbeiten begleitet. Wie war die Rückkehr für ihn und welche Erinnerungen hast Du an diese Zeit?
Sharon: Es war sehr bewegend mit ihm dort zu sein. Er hat mir das Haus gezeigt, in dem er als Kind gewohnt hat. Sogar den Baum, an den er sich genau erinnern konnte, gab es noch. Wir haben im Grand Hotel gewohnt, und mein Vater hat mir erzählt, dass er sich als kleiner Junge vorgenommen hatte, einmal im Leben ein Mädchen in dieses Hotel zum Eis essen einzuladen. Wir logierten in der Suite und ich durfte mir soviel Eis bestellen wie ich wollte. In der Synagoge waren wir auch, aber das war sehr trostlos. Es kam zwar ein Minjan zustande, aber die Männer waren alle 80 oder älter. Obwohl die Synagoge fast leer war, rief der Älteste immer "Tzicha", was "Ruhe" bedeutet, und drehte sich vorwurfsvoll um. Mein Vater erklärte mir, dass diese Handlung ein Relikt aus vergangenen Tagen war. Vor dem Krieg haben viele Menschen an den Gottesdiensten teilgenommen, und es war laut in der Synagoge. Deshalb musste die Gemeinde oft zur Ruhe ermahnt werden.
Ein weiteres Mal zieht es mich allerdings nicht nach Polen.
AVIVA-Berlin: Vivian, Dein Vater kommt ursprünglich ebenfalls aus Polen. Seid ihr einmal gemeinsam in seine Heimat gefahren?
Vivian: Mein Vater stammt aus Wolbrom bei Krakau. Als ich Abitur machte, ist er mit der Familie nach Polen gereist und hat meinen Geschwistern die Stätten seiner Jugend gezeigt. Es war das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, dass er dorthin gefahren ist. Ein Jahr spaeter organisierte ich eine Reise nach Polen fuer eine juedische Jugendgruppe aus Muenchen.
AVIVA-Berlin: Welche Erinnerungen hast Du an diese Reise?
Vivian: Breslau und Krakau fand ich sehr schön. Allerdings war es auffallend, dass es fast kaum noch jüdisches Leben dort gab. Warschau erlebt in der Beziehung jetzt wieder eine Renaissance, aber in allen anderen Stätten wurde das Judentum fast ausgelöscht. Es gibt heute eigentlich kein jüdisches Leben in Polen. Nach der Shoa lebten von ehemals 3 Millionen polnischen Juden noch knapp 300 000.
Sharon: Und von denen sind etliche ausgewandert, da sie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Polen weiterhin unter antisemitischen Ausschreitungen zu leiden hatten. Umso schöner, dass dort jetzt ein Interesse an jiddischer Musik erwacht ist. Es gibt in Polen gut besuchte "Klezmer"-Festivals. Da spielen hauptsächlich nichtjüdische Musiker für nichtjüdische Polen. Es kann ja auch schön sein, dass sich die Zeiten ändern.
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