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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 28.03.2011


Interview mit Silvia Bovenschen
Sonja Baude

AVIVA-Berlin sprach mit der Schriftstellerin über Motive ihres neuen Romans "Wie geht es Georg Laub?", über ihre Sehnsucht nach anderen Welten und die Lust am Schreiben.




Silvia Bovenschen ist Literaturwissenschaftlerin, Essayistin und seit wenigen Jahren auch Romanautorin. In der Akademie der Künste Berlin wurde am 24. März 2011 ihr neuer Roman Wie geht es Georg Laub? der Öffentlichkeit vorgestellt.

AVIVA-Berlin: Am Anfang Ihres neuen Buches steht der Wunsch des Protagonisten Georg Laub, zu verschwinden aus seiner bisherigen Welt. Das Thema des Verschwindens haben Sie bereits in der Vergangenheit von verschiedenen Seiten beleuchtet.
Was fasziniert Sie an diesem Motiv, am Vorgang des Verschwindens?
Silvia Bovenschen: Natürlich ist die radikalste Form des Verschwindens das Sterben von Menschen – das verstört uns alle am meisten. Aber es geht nicht nur darum. Letztlich sind wir immer sehr glücklich, wenn wir uns zwar nicht die Welt im Ganzen, aber doch wenigstens in kleineren Zusammenhängen gut erklären können. Wenn aber etwas auf rätselhafte Weise verschwindet, selbst wenn es sich nur um unbedeutende Kleinigkeiten handelt, dann setzt schon die erste Verstörung ein. Da hatte ich etwas hingelegt, ich weiß es sicher, genau da hatte es gelegen und genau da ist nichts mehr zu sehen. Eine böse Leere.

AVIVA-Berlin: Gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass Sie dieser Verstörung, die mit dem Verschwinden einhergeht, ganz dezidiert etwas entgegensetzen, nämlich die genaue Beobachtung dessen, was vorhanden ist, auch des vermeintlich Beiläufigen. Liegt in diesem alltäglichen genauen Schauen und Anschauen eine Anfechtung gegen das Verschwinden?
Silvia Bovenschen: Das ist sicher eine berechtigte Frage, ob die Sucht, etwas immer genauer noch anzuschauen etwas damit zu tun hat, dass man der Hinfälligkeit und Sterblichkeit und Endlichkeit etwas entgegensetzen will, wahrscheinlich haben Sie recht. Gerade in bedrohlichen Situationen wird unser Geist häufig von Einzelheiten gefesselt. Wir können uns vielleicht zwanzig Jahre später gar nicht mehr vergegenwärtigen, was damals eigentlich so bedrohlich war, aber wir können uns an das Karo der Tischdecke erinnern.

AVIVA-Berlin: Im Zusammenhang mit dem Aspekt des Erinnerns fällt mir in Ihrem Roman die Figur der Tante Charlotte ein. Sie kommt hauptsächlich in einem einzigen Brief vor, den sie an ihren Neffen Georg Laub geschrieben hat. Und dennoch hatte ich das Gefühl, als sei sie die heimliche Protagonistin, indem ihr in besonderem Maße die Rolle der Erinnernden und damit einer Ratgeberin zukommt. Wie wichtig ist es, sich zu erinnern, die Vergangenheit in die Gegenwart zu integrieren?
Silvia Bovenschen: Wir können unser Ich nur herstellen über die Erinnerung. Wir sind, in dem was wir für unser Ich halten, eine Erinnerungslegende, noch dazu ein rechtes Lügengespinst, wie mir scheint, weil wir uns wahrscheinlich vorsichtshalber nur an die Ereignisse erinnern, wo wir uns einigermaßen angenehm sind. Oder wo wir ganz furchtbar waren, daran erinnern wir uns auch hin und wieder. Wir können uns nicht an alles erinnern, sonst müssten wir ewig leben. Also werden wir uns immer nur selektiv erinnern. Wenn sich aber unsere Erinnerungen löschen, das passiert bei einer der grauenhaftesten Krankheiten, die es gibt, der Alzheimerkrankheit, dann löscht sich auch das Ich, dann bleibt noch eine Körperhülle. Das ist ein entsetzlicher Gedanke. Insofern sind die Erinnerungen, wie fragwürdig auch immer, doch auch das Wertvollste, was wir haben. Ich bin jetzt 65 und immer noch ganz gerührt, wenn ich jemandem begegne, der meine Eltern noch kannte und es ist mir, als könnte er mir mehr über meine Eltern erzählen als ich selber weiß. Das ist zweifellos nicht der Fall, aber es ist mir trotzdem wichtig, diese Kontinuitätsherstellung auch in die Vergangenheit. Nun kommt in unserem Fall, was den Roman betrifft, hinzu, dass Georg Laub sich ziemlich schäbig gegenüber der doch sehr liebevollen Tante verhalten hat und in diesem Brief, das war zumindest von mir so gewollt, kommt noch ein ganz anderer Ton in den Roman: eine andere Sprache einer sehr alten Dame, auch schon etwas verwirrt, mit einer schon etwas halbjenseitigen Weltwahrnehmung.

AVIVA-Berlin: An einer Stelle des Briefes sagt Tante Charlotte: "Wo steht denn geschrieben, daß man nur in einer einzigen Welt leben darf? Das ist auch nur so eine fixe Idee.“ Sie selbst haben früher vor allem Essays geschrieben, eine Mischform zwischen Abhandlung und Poesie. Erst in den letzten Jahren haben Sie begonnen, Romane zu schreiben. Wird im Alter der Wunsch größer, in anderen Welten zu leben?
Silvia Bovenschen: Ja, zumindest in meinem Fall ist das wohl so. Ich denke natürlich selber oft darüber nach, was mich eigentlich dazu treibt, auf meine alten Tage nochmal die Fronten zu wechseln. Ich glaube, ein Motiv, weshalb ich fiktional schreibe, ist die Sehnsucht danach, noch einmal in so eine parallele Welt einzutauchen, wie ich es konnte als Kind, als ich las. Als lesendes Kind war ich wirklich in diesen Geschehnissen drin: Ich war bei den Indianern, ich war bei den Piraten, ich war bei den Rittern. Ich war darin vollkommen versunken und wenn meine Mutter mich gerufen hat, musste ich mich erstmal rappeln, um mir wieder klarzumachen, wo ich eigentlich bin. Ich habe immer versucht, wieder so zu lesen. Das ist mir natürlich nie mehr wirklich gelungen. Aber jetzt beim Schreiben bin ich wieder in diesen, von mir jetzt selbst ausgedachten Welten gefangen. Wenn ich anfange zu schreiben, brauche ich hauptsächlich ein Bild. Und dann findet das alles, alle Lektüren, alles, was mir da katastrophisch und weniger katastrophisch im Kopf rumwirbelt, irgendeinen Einlass in mein Schreiben und diesen Prozess finde ich hochinteressant. Anders als beim wissenschaftlichen Aufsatz oder auch noch beim Essay lande ich nicht im Rechthaben, sondern ich kann loslegen und es spielt alles mögliche in irgendeiner Weise eine Rolle, die zeitgeschichtlichen Einflüsse ebenso wie die private Situation. Zudem gibt es in meinen Prosatexten immer viele Stimmen, die für und gegen etwas sind. Ich kann mir selbst ständig den Teppich unter den Füßen wieder wegziehen und das ist, ich muss es sagen, auch eine Lust.

AVIVA-Berlin: Eine ganz bestimmte Welt findet vielfach in dem Roman Erwähnung: die digitale. Georg Laub selbst hegt ein großes Misstrauen gegen die "Netzwelt", von der er sich verfolgt fühlt. Birgt die virtuelle Welt eine Gefahr für die reale, möglicherweise die Gefahr des Verschwindens von Identitäten?
Silvia Bovenschen: Ich bin nicht so skeptisch, wie mein Held. Ich sehe das mit größerer Gelassenheit. Es gibt sicherlich auch eine Wechselwirkung zwischen diesen Welten. Die sogenannte reale Welt verändert sich unter der Einwirkung dieser Digitalisierung weiter und auch reale Ereignisse wirken sich, wie wir zur Zeit sehen, auf die Diskussionen im Netz aus. Wahrscheinlich wäre auch die Revolution in der arabischen Welt in dieser Vehemenz nicht zustande gekommen, wenn es nicht die kurzgeschlossene Kommunikation vieler mit vielen gegeben hätte. Also da stecken ungeheure Potenziale drin, aber natürlich auch Gefährdungen. Da können auch, was ja mein Protagonist befürchtet, irgendwelche Hetzmeuten entstehen. Beides ist möglich. Interessant, aber auch sehr aufregend. Jedoch so starr wie Georg Laub das sieht, darf man es nicht sehen. Gleichzeitig hab ich gut reden, ich kann mir sagen: für den Rest meiner Zeit mache ich das, was ich kann und kenne. Nur für die sehr viel Jüngeren und im Grunde ist dieser Roman ja auch den Jüngeren, die jetzt so zwischen vierzig und fünfzig sind, gewidmet, ist das anders. Die haben ein größeres Problem. Die sind noch aufgewachsen in der alten Bücherkultur und sehen sich jetzt einer digitalen Revolution gegenüber gestellt, einer Revolution, die vielleicht weit mehr noch in das Leben der Einzelnen einwirkt, als einst die industrielle Revolution es tat. Ich kann das im Einzelnen nicht ausmachen, wie sich das letztlich entscheidet und weiterentwickelt. Aber es könnte interessant werden. Es könnte ja auch sein, dass es im Netz Gegenbewegungen gibt, dass sich beispielsweise Literaturformen entwickeln, von denen wir im Moment noch gar nichts ahnen. Der Roman ist eine junge Gattung, im 18. Jahrhundert entstanden, der kann auch wieder verschwinden und dafür kommt vielleicht gerade aus der Netzkommunikation etwas ganz Neues, was dann irgendwann auch wieder literaturfähig sein wird.

AVIVA-Berlin: Schreiben Sie schon an einem neuen Roman?
Silvia Bovenschen: Nein, ich habe ja jetzt ziemlich fanatisch in der letzten Zeit geschrieben. Natürlich habe ich dauernd Ideen für irgendwas und dann mache ich mir ein paar Notizen für dieses und jenes. Ob das dann irgendwann einmal etwas wird, ist dann immer dahingestellt.

AVIVA-Berlin: Ich fände es ja spannend, wenn Sie mal ein Theaterstück schrieben.
Silvia Bovenschen: Ja, das würde ich auch furchtbar gern tun. Ich müsste mir mal überlegen, wie das für mich gehen könnte. Ich habe als junges Mädchen wahnsinnig gerne Theaterstücke gelesen, ich glaube, weil ich mir das, was mir da so ein Romancier aufnötigt an Atmosphäre, Raum und Kleidung lieber selber ausdenken wollte. Das ist vergleichbar mit der Enttäuschung wenn man die Verfilmung eines sehr geliebten Romans sieht – alles scheint falsch: man hatte sich den Typ blond und die Frau dünn vorgestellt... Ja, vielleicht versuche ich das einmal mit dem Theaterstück.

AVIVA-Berlin: Vielen Dank für das Gespräch!

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Unsere Rezension zum Roman "Wie geht es Georg Laub?"





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Beitrag vom 28.03.2011

AVIVA-Redaktion