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AVIVA-BERLIN.de im Mai 2024 - Beitrag vom 31.08.2010


Maud Lethielleux im Interview
Evelyn Gaida

Den "Durst nach Freiheit" hat sich die Autorin, Musikerin, Regisseurin und Mutter bewahrt. Seit ihrem 18. Lebensjahr bereist sie die Welt. Eine Entdeckungsreise ist auch ihr wunderbarer Debütroman...




..."Sag ja, Ninon", in dem sie aus der Sicht eines neunjährigen Mädchens das eigenwillige Landleben einer auseinandergefallenen AussteigerInnen-Familie schildert. Voller Sprachwitz, Poesie, Situationskomik, eindringlicher ´Menschenkunde´, Herzenswärme, Originalität und Naturnähe lässt sie die LeserInnen daran teilhaben, ohne die physisch und psychisch sehr kräftezehrenden Bedingungen zu verklären.

Im Interview mit AVIVA-Berlin verrät Maud Lethielleux, wie ihre eigene Kindheit sie überfallartig zum Schreiben dieses Romans drängte und erzählt von den "tausenden Fotos in meiner Erinnerung": Zusammen mit ZigeunerInnen hat sie in Rajasthan Musik gemacht, ist mit einer alternativen Theatergruppe in Israel aufgetreten, mit einer Tanzkompanie durch Australien und Neuseeland getourt, hat bei einer Gruppe wandernder MusikerInnen in Transsylvanien das Kontrabassspielen gelernt, in Indien Gesangsunterricht genommen und für humanitäre Hilfsdienste in Bosnien gespielt. Ihre Betrachtungen sind von starker Wahrnehmungskraft und sprühender Offenheit gegenüber dem Leben geprägt, von ihrem Wunsch, es als solches zu erfahren und diese Erfahrung mit anderen zu teilen. Sie vermitteln gleichzeitig Ruhe. "Sich zuhause zu fühlen, unter welchen Bedingungen auch immer", das habe sie gelernt, so Lethielleux. Die Autorin spricht über ihre visuelle Art zu schreiben, das Zusammenwirken von Realität und Fantasie, die Reaktion ihrer Familie, darüber, was das Reisen ihr gegeben hat, und dass man sehr weit gehen kann.


AVIVA-Berlin: Sie sind auch Regisseurin und Musikerin. Was hat Sie dazu inspiriert und bewegt, mit dem Schreiben Ihres ersten Romans "Sag ja, Ninon" zu beginnen?
Maud Lethielleux: Was mich inspiriert hat? Meine Kindheit. Ich dachte, wenn ich von meiner Kindheit spreche, widme ich mich einem Thema, das ich wirklich kenne. Aber ich wollte nicht mein Leben erzählen, oder eher, ich hatte Lust, mein Leben zu erzählen, als wäre es nicht meins. Das kleine Mädchen, das ich war, ist also zur Figur der Ninon geworden. Übrigens ist Ninon natürlich von mir selbst inspiriert, aber auch von meinen Kindern, meiner kleinen Schwester und anderen Kindern, die ich auf meinen Reisen kennen gelernt habe.

AVIVA-Berlin: Waren Sie lange mit Ninon "unterwegs" und war es ein steiniger Weg oder ist das Buch in einem Guss entstanden?
Maud Lethielleux: Ich habe es in einem einzigen, sehr mächtigen Schwung geschrieben! Tatsächlich ist "Sag ja, Ninon" ein nicht sehr ausgereiftes Projekt. Es hat sich mir eines Nachmittags aufgedrängt, als ich mit dem Auto nach Marokko fuhr - kurz vor dem Ziel, nahe bei Casablanca, kam mir die Idee. Es war derartig stark und unerwartet, dass ich mich, sobald ich angekommen bin, nicht zurückhalten konnte und sofort angefangen habe zu schreiben. Und im folgenden Monat bin ich komplett in die Geschichte abgetaucht. Das Schreiben nahm mich komplett ein, es war sehr fröhlich und unglaublich: Meine Geschichte wurde zu der von Ninon. Ich entdeckte mein Leben von Neuem, aus der Position einer Fremden – Ich liebte dieses Kind und hatte das Gefühl, es während dieses Monats an der Hand zu halten und dass es mir die Geschichte diktierte. Beim Schreiben habe ich oft gelacht und geweint.

AVIVA-Berlin: Wie haben Sie sich in die kindliche Perspektive hineinbegeben und die Erwachsenenperspektive zurückgehalten, sich davon getrennt? Hat Ihnen das Schwierigkeiten bereitet?
Maud Lethielleux: Ich glaube, einen Teil der Antwort habe ich bereits gegeben! Es war nicht schwierig, weil es absolut gar nicht intellektualisiert war. Es war ein Fluss von Sprechakten, eine Stimme und die Frage nach der Auswahl von Worten hat sich nicht gestellt. Ninon spricht genau, wie ein klassisches Kind, sie spricht wie ein Kind das mit jungen Erwachsenen groß wird, sie übernimmt umgangssprachliche Wendungen, deren Sinn sie nicht versteht, sagt Ausdrücke, interpretiert Gesagtes nebenbei und all dies ergibt eine ganz besondere Sprache, die ganz natürlich kam. Das Schreiben ist sehr frei, manchmal in einem Atemzug und ich denke, dass es im Endeffekt dieser Rhythmus und das Spiel mit der Sprache ist, an der man erkennt, dass der Roman aus der Perspektive eines Kindes erzählt. Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, die Welt aus ihren Augen zu betrachten, ihre Art zu denken nachzuvollziehen und mit ihr zu interpretieren, was die Erwachsenen sagen. Ninon denkt nach, sucht Antworten und ist sehr spontan, ich habe versucht, ihren Gedanken zu folgen, der Schnelligkeit und der Mischung aus Realität und Imagination.

AVIVA-Berlin: Es gibt viele Übereinstimmungen zu Ihrem Leben: Ihre eigene Kindheit auf dem Land in Baugé mit sehr jungen Eltern, den chinesischen Großvater, das Musikmachen, Ihr früheres Wohnen in einem ökologischen Dorf. Wie wirkt Fiktion und Erinnerung zusammen?
Maud Lethielleux: Wie ich gerade gesagt habe, ist "Sag ja, Ninon" sehr von meiner Kindheit inspiriert: Ich habe den Kontext beibehalten, die Art "am Rande" zu leben, aber auch meine chinesischen Wurzeln und viele Anekdoten. Aber ich habe es in eine Romanwelt eingebaut, die Geschichte spielt zu unserer Zeit und in nur einem Jahr. Ich habe die genaue Abfolge nicht eingehalten und bin einem roten Faden gefolgt. Ich wollte, dass man mich während des Lesens vergisst, dass man nicht immer alles auf die Autorin bezieht, sondern auf meine Figuren. Übrigens sprechen die LeserInnen, die mir schreiben immer von Ninon und Fred, nie von mir!

AVIVA-Berlin: "Sag ja, Ninon" ist Ihren Eltern gewidmet. Wie hat Ihre Familie das Buch aufgenommen? Hat sich Ihr Verhältnis zueinander dadurch in irgendeiner Weise verändert?
Maud Lethielleux: Meine Familie hat sehr gut reagiert. Mein Vater hat den Roman ein Jahr nach seiner Veröffentlichung tatsächlich gelesen. Die Episode meiner Kindheit hat ihn sehr beeindruckt, er ist ziemlich nostalgisch, weil sie in einer Zeit spielt, in der wir absolut frei lebten, in der Natur, ohne jeden Komfort, in einem Alter, in dem er noch alles für möglich hielt, in dem die Träume Bestandteil der Realität waren. Er war allerdings etwas überrascht, weil er dachte, ich würde einen sehr stabilen Fred zeigen, wohingegen diese Figur in der Geschichte eher fragil ist und die Realität nicht immer richtig einschätzt.
Was meine Mutter betrifft, war ich ziemlich nervös, weil sie im Roman nicht immer eine einfache Rolle hat. Aber sie hat den Roman sehr gemocht und mir nach dem Lesen einen sehr schönen Brief geschickt und mit "Zéline" unterschrieben: Sie heißt Céline und die Mutter von Ninon "Zélie". Sie sagte: "Mein Gott, was für ein seltsames Leben wir hatten!". Meine Schwester war ein wenig neidisch, sie sagte: "Ninon, das bist du, aber vor allem ich!" und ich habe gelächelt, weil es mich an unsere Kindheit erinnert hat, in der wir uns ständig gegenseitig geärgert haben. Heute fühlen wir uns sehr verbunden, wie im Roman, wo die Bindung zwischen Ninon und ihrer Schwester Agathe sehr stark ist und die einzig wirklich stabile für Ninon darstellt.

AVIVA-Berlin: Sie sagten in einem Interview, dass der Tonfall von Romanen aus der Sicht von Kindern Ihnen eigentlich nicht gefällt. Gab es dennoch Anregungen von anderen Romanfiguren dieser Art oder war es Ihre Absicht, sich bewusst davon zu distanzieren?
Maud Lethielleux: Es gibt Romane, die aus einer kindlichen Perspektive geschrieben sind und die ich liebe, wie "La vie devant soi" von Romain Gary... Aber häufig fühle ich mich gestört, weil ich den Erwachsenen dahinter spüre. Oder aber ich finde die Art zu schreiben zu brav für diese Perspektive. Ich denke, Kinder sind überhaupt nicht brav, sie sind voller Fantasmen, voll von überschäumender Fantasie und manchmal auch von dunklen Gedanken. Ich denke, dass Kinder sehr komplex sind, dass sie sich nicht immer wohl in ihrer Haut fühlen und nicht immer schön sind...
Nein, ich habe nicht versucht, mich von bestimmten Personen zu distanzieren, aber darauf geachtet, die Erwachsene, die schreibt, beiseite zu stellen.

AVIVA-Berlin: Welche Bücher haben Sie in Ihrer Kindheit und Jugend geprägt, beeinflusst? Was sind heute Ihre Lieblingsbücher und künstlerischen Einflüsse?
Maud Lethielleux: Oh la la! Ich lese und vergesse, ich vergesse, ich lese... Die Bücher meiner Kindheit waren "Pierrot oder die Geheimnisse der Nacht" von Michel Tournier, "Paroles" von Prévert (meine Mutter hat es oft zitiert, sie kannte es auswendig), "Der alte Mann und das Meer" von Hemingway, die Bücher von Jack London und ein Regal voller Theaterstücke – wir haben keine Bücher gekauft, sondern ich las, was mir in die Hände fiel.
Heute lese ich viel Standard-Literatur, aber sehr einfallslos. Ich versuche, eher unbekannte Autoren zu entdecken, die in kleinen Verlagen veröffentlichen und lese auch die Autoren, denen ich begegne. Tatsächlich wähle ich nicht wirklich aus: Die Buchhändler bieten mir an, was ihnen am Herzen liegt, wir tauschen uns unter AutorInnen aus und meine LeserInnen geben Empfehlungen.
Im Moment lese ich "Le batard" von Tom Sharpe, das mir ein Autor geliehen hat, aber gestern war es noch "Le voyage de Monsieur Raminet" von Daniel Rocher, einem ganz unbekannten Autor. Danach steht ganz oben auf meiner Warteliste "La cabane d´Hippolyte" von Marie Le Drian, das Geschenk eines Buchhändlers, erschienen in einem ganz kleinen bretonischen Verlag.

AVIVA-Berlin: "Sag ja, Ninon" (Dis oui, Ninon) - zu wem oder was soll Ninon "ja" sagen?
Maud Lethielleux: Ich liebe diese Wendung "Sag ja". Ich habe sie wirklich entdeckt, während ich meinen Sohn zur Welt brachte. Es gab einige Schwierigkeiten und die Geburt war sehr lang, so dass ich Stunden damit zubrachte, bei jeder Wehe "ja" zu sagen. "Ja" zu sagen hat meinen Zustand komplett verändert. Seitdem sage ich immer mit lauter Stimme "ja", wenn es mir schlecht geht und etwas in mir verändert sich. Ich mag den Titel auch, weil es im Französischen den Ausdruck "Ni oui, ni non" ("Weder ja, noch nein") gibt und sich "Dis oui, Ninon" fast gleich anhört.
Außerdem, weil Ninon während des ganzen Buches zwischen Ja und Nein gespalten ist. Oder wenn sie "ja" zu jemandem sagt, "nein" zu jemand anderem sagt.

AVIVA-Berlin: Seit Ihrer Jugend sind Sie kontinuierlich auf Reisen in der ganzen Welt unterwegs. Hat der Prozess des Schreibens Sie sesshafter gemacht oder eher das Gegenteil?
Maud Lethielleux: Beides! Ich bin zwar nicht mehr in Frankreich, wenn ein Buch erscheint, aber ich reise oft für Autogramme her. Ich liebe es, in Buchhandlungen und Salons Autogramme zu geben und nehme alle Angebote an. Aber im Winter ziehe ich weiterhin ins Ausland.

AVIVA-Berlin: Ninon fühlt sich bei ihrem Vater zuhause. War Heimweh auf Ihren Reisen für Sie selbst ein Problem?
Maud Lethielleux: Ich weiß nicht. Ich fühle mich überall zuhause, ich glaube, das ist es, was ich beim Leben und bei allen vergangenen Erlebnissen gelernt habe. Wir lernen, uns anzupassen, draußen zu schlafen, im Heu oder auf Feldern. Sich zuhause zu fühlen, unter welchen Bedingungen auch immer. Sobald das Feuer angezündet war, wurde es ein fester Punkt, der Ort, an dem wir unsere Zeit verbrachten und uns zuhause fühlten. Ich denke, dass ich mir heute – obwohl es nicht überall, wo ich hingehe, ein Feuer und einen Schornstein gibt – leicht neue Bezugspunkte schaffe. Außderdem liebe ich es, umzuziehen.

AVIVA-Berlin: Ninon träumt von Reisen nach Afrika und einem Leben als Musikerin, Sie haben diese Träume für sich selbst verwirklicht. Wussten Sie genau, was Sie wollten, oder hätten Sie sich auch einen anderen Lebensweg vorstellen können?
Maud Lethielleux: Ich wusste nie, was ich will, aber ich bin immer meinen Eingebungen gefolgt. Auch heute habe ich noch keinen festen Weg vor Augen, alles ist sehr flexibel.
Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich schon als Kind die Bewegung geliebt habe, die Veränderung und die Tatsache, anderen zu begegnen. In dieser Hinsicht kann man schon sagen, dass mich diese Grundhaltung zu bestimmten Erfahrungen geführt hat, aber es war nie ausgereift oder vorhersehbar. Die Routine beunruhigt mich genauso wie das Eingesperrtsein, die Unmöglichkeit sein Leben zu ändern, zum Beispiel. Also richte ich mich immer so ein, dass ich noch einen gewissen Freiraum habe, den ich gar nicht ausnutzen muss, aber dessen Existenz mich versichert.
Ich lerne auch gerne, mache gern neue Erfahrungen, sage mir gern, dass alles möglich ist. Ich könnte einen anderen Beruf ausüben, anders leben, aber dieser Durst nach Freiheit wird wohl ein sehr stabiler Motor in meinem Leben bleiben.

AVIVA-Berlin: In welche Länder, zu welchen Kulturen zieht es Sie immer wieder hin? Warum?
Maud Lethielleux: Ich habe da keine wirklichen Vorlieben. Alle ziehen mich an, aber ich akzeptiere Stück für Stück, dass ich nicht alle kennen lernen kann und dass die Welt zu groß für mich ist.

AVIVA-Berlin: Sie nannten in einem Interview als Ihren wichtigsten Beweggrund für das Reisen, traditionelle Lieder zu lernen. Das haben Sie in den Slums von Rajasthan umgesetzt. In Transsylvanien haben Sie beim gemeinsamen Musikmachen mit ZigeunerInnen den Kontrabass entdeckt, den Sie auch heute in Ihrer Band "Digitanes" spielen. Wie beeinflussen diese musikalischen und menschlichen Eindrücke Ihr Schreiben, Ihre Musik, Ihr Leben heute?
Maud Lethielleux: Was mich am meisten geprägt hat, sind die Menschen: Ihre Art zu sein, zu lieben, zu reden, sich zu bewegen – ihre Haltung, ihr Blick, ihre Schüchternheit, ihre Vorsicht, ihre Stille, ihre Ungeschicklichkeit... Das ist, was mich bereichert. Wenn ich schreibe, versuche ich, meine Figuren mit bestimmten Haltungen auszustatten, und oft sagen diese stillen Handlungen mehr als Worte. Ich schreibe auf eine sehr visuelle Art, ich sehe die Szenen vor mir, den Blick meiner Personen, die Energie und all das kommt aus meinen Beobachtungen. Kinder haben mich auch sehr geprägt, die etwas wilden Kinder, die natürlichen, sonnigen und lebendigen. Die Reinheit ihres Blicks, ihre Zurückgezogenheit, die Tiefe hinter der Unschuldigkeit. Es ist, als hätte ich tausende von Fotos in meiner Erinnerung (in Wirklichkeit mache ich nie Fotos) und im Moment des Schreibens drängen sie sich auf.

AVIVA-Berlin: Gibt es eine Kunstform, für die Ihr Herz am meisten schlägt?
Maud Lethielleux: Heute, die Literatur. Ich fange auch an, Theaterstücke zu schreiben und bin gerade an der Adaptation von "Dis oui, Ninon" (ohne einen Produzenten zu haben, ich mache es aus dem Spaß heraus, dem Roman neues Leben zu geben).

AVIVA-Berlin: War das Schreiben Ihres Debütromans eine Art Schlüsselerlebnis? Wie hat es Ihr Leben verändert, ein Buch und mittlerweile mehrere Bücher veröffentlicht zu haben?
Maud Lethielleux: Ja sicher, das ändert einige Dinge. Ich habe neue Menschen kennen gelernt, das Verlagsuniversum entdeckt, die "salons littéraires", die Büchereien. Und ich habe LeserInnen kennen gelernt, denen ich sonst nie begegnet wäre. Kinder ("Sag ja, Ninon" wird auch von Neun- und Zehnjährigen gelesen), ältere Menschen, Jugendliche, Ehemänner, die sonst nie lesen, das Buch aber unter dem Druck ihrer Frauen zu Ende gelesen haben, behinderte Menschen – LeserInnen aller Altersklassen und sozialen Schichten. Eine Person, die fast am Ende ihres Lebens war, hat mir gedankt, eine andere, die den Roman bekommen hat, als sie trauerte... All das ändert das Leben und macht Lust, noch mehr zu schreiben.
Aber davon abgesehen hat sich mein Alltag nicht wirklich geändert, meine guten Freunde sind noch immer dieselben. Schwierig wird es manchmal, wenn die Freunde ein bisschen zu Fans werden, das ist schwierig, weil ich den Eindruck habe, gar nicht auf der Höhe der Ideen zu sein, die sie sich von mir machen. Aber ich bin noch immer die Gleiche, mit demselben Mangel an Selbstbewusstsein, den Zweifeln und der Selbstkritik, den Fehlern...

AVIVA-Berlin: War es zuerst schwer, einen Verlag zu finden?
Maud Lethielleux: Nein, überhaupt nicht! Ich habe meinen Text abends abgeschickt und am nächsten Nachmittag rief der Verlag an. Man sagt häufig, dass die Verleger keine Zeit zum Lesen hätten.... Ich bin der Beweis, dass das falsch ist.

AVIVA-Berlin: Im März ist in Frankreich Ihr zweiter Roman "D´où je suis, je vois la lune" und ein weiterer Roman "J´ai quinze ans et je ne l´ai jamais fait" erschienen, die aus der Perspektive von Teenagern erzählt werden. Ist das eine Art logische Konsequenz und Fortsetzung nach Ninons Sicht auf die Dinge oder betrachten Sie Ihre Romane vollkommen separat voneinander?
Maud Lethielleux: Nein, es ist keine Folge, obwohl es natürlich eine Verbindung zwischen "Dis oui, Ninon" und "D´où je suis, je vois la lune" gibt (die ich nicht vorwegnehmen will!). Moon ist eine junge Erwachsene, die in einer Straße wohnt und beschließt, einen Roman zu schreiben. Zu "J´ai quinze ans et je ne l´ai jamais fait" gibt es keine Verbindung ... Ich spreche über Musik und jugendliche Fantasmen.
Sie sind also getrennt, aber ich denke, dass man meine Art zu Schreiben wiedererkennt, die Perspektive von innen und meinen Spaß am Schreiben. Ich spreche über teilweise delikate Themen, aber immer aus einem positiven Blickwinkel. Meine Figuren haben viel Energie und Lebenskraft, ein bisschen wie Ninon. Eine Leserin hat mir übrigens vorgeworfen, dass ich keinen "großen bösen Wolf" in meinen Romanen erfinde... Das ist wahr. Oder, wenn es einen gibt, müssen die LeserInnen ihn entdecken, die Erzählerin interessiert er nicht.

AVIVA-Berlin: Schriftstellerin, Musikerin, Regisseurin, Mutter, Reisende. Wie bewältigen Sie all das? Was treibt Sie?
Maud Lethielleux: Es gibt keine Trennwand zwischen alldem. Ich versuche, all meine Leidenschaften mit dem Einverständnis meiner Familie zu verbinden. Häufig reisen wir alle zusammen. Die Lehrer sind ziemlich tolerant, was das angeht, und wir achten darauf, dass die ganze Familie ihr Gleichgewicht zwischen den unterschiedlichen Projekten findet und ich versuche, auf alle zu achten. Wenn mir ein Projekt zu schwierig erscheint, gebe ich es auf und ein neues erscheint. Ich schreibe, wo auch immer ich bin, das ist also ziemlich einfach...
Was mich motiviert: Der Eindruck, immer am Leben zu sein und dieses Gefühl mit den Menschen zu teilen, die ich liebe. Und das ist es auch, was ich in meinen Büchern vermitteln will: einen Eindruck von Leben.

AVIVA-Berlin: Sie wurden selbst als 18-Jährige Mutter und nahmen Ihre sechs Monate alte Tochter mit auf Reisen. Haben Ihnen Ihre Kindheitserfahrungen dabei geholfen, diese Herausforderung zu bewältigen?
Maud Lethielleux: Ja, das ist klar! Ich habe meine Kindheit fern von der Allgemeinheit geschätzt und tolle Erinnerungen zurückbehalten – ich habe also nicht wirklich gezögert. Meine Tochter sagt übrigens, dass sie mit ihren Kindern reisen würde, wenn sie welche bekommt. Ihr Vater ist gestorben, als sie zwei Jahre alt war und wir sind zu zweit gereist, was unsere Beziehung sehr gestärkt hat. Kinder sind so neugierig und aufmerksam. Mit ihnen zu reisen hat mehr Sinn für mich, als alleine unterwegs zu sein.

AVIVA-Berlin: Sie sind 2010 nach mehreren Jahren auf einem ökologischen Dorf nach Nantes in die Stadt gezogen. Wie kam es dazu? Wie fühlen Sie sich an Ihrem jetzigen Wohnort?
Maud Lethielleux: Ich hatte Lust auf Veränderung, neue Gesichter zu sehen, Unbekannten zu begegnen. Ich fühle mich sehr wohl in Nantes, weil es eine Stadt ist und man leicht ausgehen kann. Aber ich bleibe dem Landleben sehr verbunden.

AVIVA-Berlin: Ninon und ihr Vater sehen die Schule sehr kritisch, auch Sie selbst haben das Abitur verschoben und nachgeholt. Wenn Sie könnten, würden Sie etwas Grundlegendes am konventionellen Schulsystem verändern?
Maud Lethielleux: Das ist eine sehr delikate Frage, weil ich denke, dass es immer zwei Seiten einer Medaille gibt. Ich wünsche mir, dass die Kinder aktiv Dinge tun und für ihren persönlichen Spaß und die eigene Genugtuung lernen und nicht in einer Wettkampf-Stimmung oder aus Angst vor Strafen. Der Spaß am Lernen ist so wichtig! Aber ich glaube nicht, dass es eine Wunderformel gibt. In "Dis oui, Ninon" hat der Akkordeon-Lehrer, den sie Hamster nennt, eine wichtige Rolle. Mehrere Lehrer haben mir geschrieben, dass diese Figur sie sehr berührt hat.

AVIVA-Berlin: Gibt es etwas Bestimmtes, das Sie den Reisenden dieser Welt mit auf den Weg geben möchten?
Maud Lethielleux: Die Augen offen zu halten und zu wissen, dass man sehr weit gehen kann, selbst wenn man auf der Türschwelle bleibt.

AVIVA-Berlin: Vielen Dank für das Interview, alles Gute und weiterhin viel Erfolg!

(Ãœbersetzt von Marie Heidingsfelder)

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Beitrag vom 31.08.2010

Evelyn Gaida