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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 02.06.2010


Interview mit Pinar Selek - Deutsch und Französisch
Undine Zimmer

"Ich habe Angst, aber ich mache es trotzdem" ist der Satz, der von der Lesung am 19.05.2010 am stärksten in Erinnerung geblieben ist. Vielleicht ist es diese Mischung aus mutiger Unvernunft und...




... Leidenschaft, die Pinar Selek so interessant macht.

In den meisten aktuell erschienen Artikeln und Rezensionen wird über die Person Selek und ihre Erfahrungen mit der türkischen Justiz geschrieben. AVIVA-Berlin möchte sich wieder mit den Fragen beschäftigen, die Pinar Selek auf der Zunge und im Herzen brennen. Selek ist ausgebildete Soziologin und nutzt ihre Zeit im Exil neben vielen anderen Projekten dazu, ihre Doktorarbeit zu verfassen.
AVIVA-Berlin hat Pinar Selek in ihrer vom PEN zur Verfügung gestellten Wohnung nach einer durchschriebenen Nacht besucht und mit ihr darüber diskutiert, wo man anfangen kann, die Gesellschaft zu verändern. Und natürlich geht es auch um Seleks kürzlich auf Deutsch erschienenes Buch "Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt". Die Hauptfrage darin lautet: Welches sind die Mechanismen, die in einer Gesellschaft Geschlechter (Gender) formen? Der LeserIn wird dabei die Aufgabe zugeteilt, sich über die Funktionsweisen ihrer/ seiner eigenen Gesellschaft und Identität Gedanken zu machen.

Nach dem Interview hat Pinar Selek AVIVA-Berlin ausdrücklich darum gebeten, auf eine vom PEN organisierte Petition aufmerksam zu machen. Pinars Verhandlung in der Türkei wird in zwei bis drei Monaten stattfinden. Sie hat eine kleine Hoffnung, dass sie im Fall eines Freispruchs in die Türkei zurückkehren kann. Der PEN Aufruf zur Unterstützung für Pinar Selek ist, betont sie, sehr wichtig für sie persönlich. Deswegen kommen wir ihrem Wunsch nach und verweisen an dieser Stelle auf die Unterschriften-Aktion .

AVIVA-Berlin: Wer hat Sie wissenschaftlich am meisten inspiriert und beeinflusst?
Pinar Selek: Da gibt es keine bestimmte Person. Die Feminismus-Debatte hat mich sehr beeinflusst. Ich habe viel Foucault, Deleuze, Derrida und Guattarí gelesen. Judith Butler steht als Frau meinen Ideen sehr nahe. Vor allem habe ich mich mit den feministischen Intellektuellen in der Türkei auseinander gesetzt. Wir beeinflussen uns gegenseitig. Ich arbeite auch mit vielen AkademikerInnen zusammen. Wir veröffentlichen ein theoretisches feministisches Magazin, dessen Herausgeberin ich bin.

AVIVA-Berlin: "Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt" ist ein verhältnismäßig kleines Buch für ein großes Thema und basiert auf 58 Interviews. Was ist für Sie das Besondere am Genre Interview?
Pinar Selek: Wir, das heißt ich und meine beiden Kollegen, haben mit der Methode der "oral history" und deren ethischen Regeln gearbeitet. Wir haben also keine journalistischen Interviews gemacht, sondern jeden der Männer drei oder sogar vier Tage lang reden lassen. Dieses Paket von Dokumenten habe ich an meine feministische Organisation weiter gegeben, damit andere SoziologInnen dieses sehr reiche Material für ihre Forschungen nutzen können. Es war wichtig, zwei männliche Kollegen als Interviewer dabei zu haben. Die Befragten hätten sich unwohl gefühlt, ihre Geschichte gegenüber einer Frau zu erzählen, besonders die älteren und konservativen. Am Ende der Recherche hatten wir insgesamt Tausende von Seiten mit anonymisierten Interviews. Für mein Buch habe ich nur einige Partien und viele Details ausgewählt, aber die Interviews fanden im Rahmen eines größeren Projekts statt. Der Kontext war den Befragten zwar bekannt, aber sie wussten nichts von meinem Buch.

AVIVA-Berlin: Wie haben Sie Ihre Interviewpartner gefunden, welche Kriterien waren bei der Auswahl wichtig?
Pinar Selek: Wir haben eine Stichprobe konstruiert, die in etwa der türkischen Gesellschaft entspricht. Die Kriterien waren Klasse, Alter, Ort des Wehrdienstes, die politische Überzeugung und die Ethnizität, wie armenisch, türkisch, kurdisch usw. Deshalb kommen im Buch auch vor allem Türken und Anhänger konservativer Ideen zu Wort, während es nur zwei Armenier und zwei Schwule gibt. Die meisten unserer Gesprächspartner haben wir über persönliche Kontakte gefunden, aber die Recherche war schwierig und hat drei Monate gedauert.
Denn trotz unserer Kontakte war es sehr schwierig Personen zu finden, die in die Stichprobe gepasst haben und zu einem Interview bereit waren. Wir haben mit zwei- oder dreihundert Männern gesprochen, und einige haben das Gespräch dann doch in der Mitte abgebrochen.

Sie berichten sehr persönliche Dinge, über die sie nicht mal mit ihrer Familie sprechen. Aber bedenkt man, dass sie meine politische Überzeugung nicht kannten, kann man sagen, dass sie sich nicht des ganzen Kontexts bewusst waren. Ich habe ihnen nur gesagt, dass ich eine Soziologin bin, die an einem Buch über Erfahrungen beim Militärdienst arbeitet. Diese Unbestimmtheit war eine Voraussetzung, um die Interviews nicht zu beeinflussen.

AVIVA-Berlin: Hat sich das Militär direkt zu dem Buch geäußert?
Pinar Selek: Es gab keine offene offizielle Reaktion. Ich glaube, dass das Militär während der Interviews nichts von unserer Arbeit mitbekommen hat. Sonst bin
ich mir sicher, dass sie uns verboten hätten, fortzufahren. Nach der Veröffentlichung ist das Buch schon nach ein oder zwei Wochen sehr bekannt geworden. Mein Verlag ist sehr groß und hat viel Werbung gemacht, so dass jeder sich für das Buch interessiert hat und es ein breites öffentliches Echo, also Interviews, Reportagen etc. bekommen hat. Dieser Erfolg und auch meine eigene Bekanntheit haben dafür gesorgt, dass die Regierung das Buch nicht mehr verbieten konnte. Eine Zensur hätte seinen Bekanntheitsgrad nur gesteigert.
Aber ich habe Drohanrufe erhalten, und etwa vier Monate später hat mich der Revisionsgerichtshof in einer anderen Sache schuldig gesprochen, und ich musste die Türkei verlassen. Ich bin mir sicher, dass es eine Verbindung zwischen der Veröffentlichung und dem Urteil gibt. Die Reaktion bezog sich zwar nicht direkt darauf, war aber konkret und effizient. Natürlich haben auch meine anderen Aktivitäten eine Rolle bei der Verurteilung gespielt.


© Pinar Selek



AVIVA-Berlin: Sie haben in Ihrem Vorwort geschrieben, dass es mitunter schwer war, die Interviews neutral zu lesen. Welche Aussagen der Männer haben Sie selber beim Auswerten der Interviews am meisten berührt, beeindruckt oder überrascht?
Pinar Selek: Theoretisch wusste ich bereits, was mich auf den Bändern erwarten würde und da gab es auch keine Überraschungen. Aber wenn man sein theoretisches Wissen aus dem Mund so vieler, so verschiedener Männer hört, bleibt man trotzdem nicht unberührt. Die große Schwäche der Männer hat mich sehr berührt. Diese Schwäche ist die Wurzel der Gewalt. Es geht nicht nur darum verletzlich zu sein, sondern auch um eine Charakter- und Willensschwäche. Man entdeckt viele Widersprüchlichkeiten in den Interviews. Ich habe viele Merkmale der Schizophrenie bei vielen Männern gefühlt. Sie sind nicht wirklich stark in ihrer Identität. Diese Schwäche hat mich berührt.
Und als Feministin glaube ich, dass es sehr wichtig ist, gerade diese Schwäche zu zeigen, weil wir in der Türkei viel gegen die männliche Gewalt kämpfen. Zu wissen, dass die Männer gar nicht stark sind, und dass wir sie hinter uns lassen können, tut gut.

AVIVA-Berlin: Sie haben gesagt, man müsse nicht nur die Institutionen verändern, sondern die Gesellschaft. Wo könnte man anfangen, das jetzt herrschende Ideal von Mann-Sein zu verändern? Können Sie uns einen Bereich nennen, der Ihnen persönlich am Herzen liegt und wo Sie anfangen würden?
Pinar Selek: Die Institutionen sind sehr wichtig, weil sie gesellschaftliche Werte vermitteln, die es zu ändern gilt. Ich weiß nicht genau, wo man anfangen kann, aber ich glaube nicht, dass es darum geht, eine Prioritätenliste abzuarbeiten. Man muss an vielen Stellen gleichzeitig arbeiten.
Mir ganz persönlich liegt eine große Kampagne gegen sexuelle Gewalt am Herzen, an der ich in der Türkei teilgenommen habe, dort war ich auch im Frauentribunal. Ich nehme mir Zeit für diese Dinge, aber ich sage nicht, dass sie wichtiger als andere sind. Alle Bereiche, die von Macht-Beziehungen und Dominanz strukturiert werden, sind wichtig. Aber der Kampf für die Frauen berührt und beschäftigt mich persönlich am meisten.
In der Türkei ist das Problem des sehr starken Nationalismus sehr wichtig für mich. Dort herrscht Krieg. Als Feministin sage ich nicht, dass alle Frauen gleich sind, sondern ich möchte ihre Unterschiede zeigen, auch bezüglich der Ethnien. Um Hierarchien zu verstehen, muss man den Nationalismus, die unterschiedlichen Klassen, den Heterosexismus etc. zuerst verstehen und analysieren. Dann kann man gemeinsam daran arbeiten, die Welt zu verändern. Außerdem arbeite ich immer mit den LGBT-Organisationen (Lesbian, Gay, Bisexual and Trans) zusammen.

AVIVA-Berlin: Gibt es einen Mann in Ihrem privaten oder im öffentlichen Leben, der für Sie persönlich ein mögliches neues Ideal von "Männlichkeit" repräsentiert? Wie müsste dieses Ideal aussehen und sich von dem heutigen unterscheiden?
Pinar Selek: Für mich ist mein Vater zwar kein wirkliches Alternativmodell, aber er ist jemand, der sich sehr schnell verändern kann und sehr flexibel ist. In unserer Familie wurde alles, was das Haus betrifft, geteilt und seit dem Tod meiner Mutter übernimmt er alles im Haushalt und in der Küche. Seit meiner Kindheit konnten wir frei reden und agieren, aber außerhalb des Hauses gibt es noch andere Beziehungen. Als ich jünger war, habe ich das Wechseln zwischen den Verhaltensweisen nicht verstanden. Später, in meinen Liebesbeziehungen, habe ich meine Freunde immer mit meinem Vater verglichen. Und trotz all der Theorie und den Erfahrungen, die ich mittlerweile gemacht habe, kann ich nicht behaupten, ein neues Ideal der Männlichkeit getroffen zu haben.

AVIVA-Berlin: Sie haben eben Flexibilität genannt, fallen Ihnen noch zwei weitere Charakterzüge eines neuen Ideals von Männlichkeit ein?
Pinar Selek: ... Er muss offen sein... und zuhören können.

AVIVA-Berlin: Sie selber sind bekannt als geschickte Nutzerin der Medien, indem Sie sich zu bestimmten Themen sichtbar machen. Welche Rolle können die Medien Ihrer Meinung nach für eine Veränderung in der Gesellschaft spielen?
Pinar Selek: Meiner Meinung nach sind die Medien ein neuer Mechanismus in der Koproduktion des Systems: Sie organisieren die Kalender der Menschen und geben vor, wie man sich anziehen, leben, reden soll. Sie liefern ein Bild von der Realität und der öffentlichen Meinung, an das man glaubt. Mittlerweile ist das Bewusstsein der Gesellschaft schwächer geworden: Die Nachbarn reden nicht mehr untereinander, sondern alle sehen fern. Das ist eine indirekte Kommunikation - man ist zwar auf dem Sektor der Kommunikation, aber sie läuft auf eine Non-Kommunikation hinaus.
Wenn die Kommunikation nur noch über die Kanäle der Medien läuft, ist das sehr gefährlich für die Zukunft. Wir brauchen in der Gesellschaft auch eine andere Form der Verständigung. Es gilt, neue Kommunikationsmittel oder auch alternative Medien zu entwickeln, wie AVIVA-Berlin oder mein feministisches Magazin. Aber es gibt auch andere Kontaktorte und Kommunikationsmittel, wie das Internet, Magazine, lokalere Formate und persönliche Kontakte. Es gibt viel zu beachten im Bereich der Kommunikation und man sollte immer an die Alternativen denken!

AVIVA-Berlin: Wie sieht die momentane Situation der Medien und der Pressefreiheit in der Türkei aus?
Pinar Selek: Die Medienlandschaft der Türkei ist geprägt von der Globalisierung. Wie überall gibt es drei oder vier Personen, die alles besitzen. Einer Person gehören zum Beispiel fünf Zeitungen oder sechs Fernsehkanäle. Wie immer im Kapitalismus sind sie zwar Konkurrenten, arbeiten aber auch teilweise gemeinsam. Abgesehen davon gibt es ein paar wenige kleine Medien, die aber nicht sehr effizient sind und kämpfen müssen, auch mit der Polizei. Dieser Kampf macht mir Angst. Vor zwanzig Jahren sah es mit dem Journalismus in der Türkei noch anders aus, aber heute sind alle Zeitungen in riesige, palastähnliche Gebäude gezogen, die man kann nicht mehr einfach so betreten kann. Das ist gefährlich für die Demokratie.

AVIVA-Berlin: Gibt es eine direkte Zensur?
Pinar Selek: Es gibt viel Zensur, aber sie funktioniert eher indirekt. In der Türkei gibt es viele Regeln und Strafen, die zu zahlen sind. Es ist zum Beispiel verboten die Armee zu kritisieren. Für einige Aussagen kann man ins Gefängnis kommen. Die Strafen zahlt die Zeitung, aber die Redakteure sorgen schon selbst für eine Art interne Zensur.
Es existiert also neben offiziellen Gesetzen eine Selbstzensur, die bereits innerhalb einer Zeitung oder einem Kanal über indirekte Beziehungen funktioniert und schwer zu verstehen ist. Mittlerweile gibt es einige freiere Medien, aber sie kämpfen ums Überleben, weil die Produktion sehr teuer ist und die Verkaufsstellen sich oft weigern, sie zu verkaufen.

AVIVA-Berlin: Wie können Sie den Feminismus und die Demokratisierung in der Türkei von hier aus unterstützen?
Pinar Selek: Es ist tatsächlich sehr schwer, aktiv zu sein. Aber ich sage mir, dass ich einen Weg finden muss, schon weil der türkische Staat nicht will, dass ich von hier aus effizient sein kann.
Ich schreibe also weiterhin Artikel und lerne andere Vorteile nutzen: Ich habe jetzt mehr internationale Kontakte und werde zu einer Art Brücke zwischen der Türkei und anderen, internationalen Bewegungen. Außerdem arbeite ich auch mit internationalen Medien, wie jetzt mit AVIVA-Berlin oder anderen Organisationen zusammen und schicke die Texte in die Türkei. Ich glaube, die Welt ist kleiner geworden und ich kann in dieser Brücken-Funktion dienen. Es ist schwierig, aber ich glaube, ich kann das.

AVIVA-Berlin: Sie haben zusammen mit anderen einen Appell unterzeichnet für eine neue demokratische Verfassung für die Türkei. Was ist der wesentliche Inhalt dieser Forderung?
Pinar Selek: Die Verfassung muss vor allem wegen des Kontextes ihrer Entstehung geändert werden. Sie wurde 1982, während des Militär-Putsches, per Volksentscheid gewählt. Aber man kann in diesem Fall nicht von einer freien Wahl reden, weil alle Angst hatten. Ich kann keine Verfassung akzeptieren, die unter solchen erniedrigenden Bedingungen legitimiert wurde. Sie muss erneuert werden, und zwar auf Basis einer breiten öffentliche Diskussion. Aber vor einer Verfassungsänderung muss der Krieg beendet werden, denn jeden Tag sterben Menschen in der Türkei.

AVIVA-Berlin: Sie schreiben neben einer Doktorarbeit, Aufsätzen und Artikeln auch an Ihrem ersten Roman. Warum haben Sie sich nach vielen wissenschaftlichen und journalistischen Texten für den Wechsel zur Fiktion entschieden?
Pinar Selek: Es ist nicht wirklich ein Wechsel. Ich habe nicht aufgehört, soziologische Fragen zu stellen. Aber ich glaube, wissenschaftliche Ausdrücke und Arbeiten reichen nicht aus, um das Leben zu verstehen: Man braucht die Kunst, die Wissenschaft - und die Träume.

AVIVA-Berlin: Sie wohnen dank dem PEN-Stipendium seit kurzem in Berlin und werden hier für ein Jahr bleiben. Was gefällt Ihnen bisher am besten in Berlin?
Pinar Selek: Ich mag Berlin, weil es sehr viel Grün gibt. Die Stadt hat mich schnell akzeptiert. Ich bin erst seit Dezember hier und habe noch nicht so viele Erfahrungen sammeln können - aber ich fühle mich wohl in Berlin.

AVIVA-Berlin: Vielen Dank für das Interview!


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