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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 23.09.2009


Interview mit Agnès Varda
A. Vartanian, K. Meier

Zur Eröffnung der Retrospektive ihres Gesamtwerkes im Kino Arsenal kam die außergewöhnliche französische Cineastin Agnès Varda nach Berlin und teilte mit uns einige Momente, ihre Vorlieben...




... des Lebens und Filmemachens.

Mit 80 Jahren macht sie immer noch außerordentliche Filme, voll von heiterer Energie, Feinheiten und Traumgebilden, Selbstironie und Fantasie. Durch ihre Mitmenschen entwirft sie ihr Selbstportrait und durch sich entwirft sie wiederum Portraits der Menschen, die sie umgeben, die sie kennen gelernt, gefilmt und geliebt hat.

In Die Strände von Agnès (2008) schenkt Agnès Varda, die in Zeiten der Nouvelle Vague Mittwoch zwischen 5 und 7 (1962) herausbrachte, ihren Erinnerungen Leben: ihren anfänglichen ergiebigen Stunden als Fotografin auf dem Festival d´Avignon, dann als Cineastin und Produzentin von fast 40 Filmen, darunter die bekannten Die eine singt, die andere nicht (1977), Vogelfrei (1985), Jane B. von Agnès V. (1987) oder Die Sammler und die Sammlerin (1999) und schließlich als Videofilmerin bis sich nach 2003 durch Videoinstallationen in Galerien und Museen eine neue Perspektive für sie eröffnete.

© Aurélia Vartanian, 2009


AVIVA-Berlin: Was bedeutet die Retrospektive, die das Kino Arsenal Ihren gesamten Filmen widmet, für Sie?
Agnès Varda: Das ist ein Wunder für mich! Wenn ich jemanden treffe, der mir sagt: "Oh, wissen Sie, ich mag Cléo sehr", ein Film, den ich 1961 gemacht habe, oder wenn Leute mit mir über Vogelfrei sprechen, ein Film, der bereits 25 Jahre alt ist, dann sind das die wahren Belohnungen! Retrospektiven helfen uns, die Filme lebendig zu halten. Ich habe überall auf der Welt Retrospektiven, in Portugal, an der Harvard Universität. Sie bereiten mir sehr große Freude. Ich fühle mich wie ein Berliner Bär, dem man Honig gibt!

AVIVA-Berlin: Wie ist Ihr Film Die Strände von Agnès, der 80 Jahre Ihres Lebens und 55 Kino-Jahre nacherzählt, in Frankreich aufgenommen worden?
Agnès Varda: In Frankreich hatte ich Glück, dass 250.000 Leute den Film gesehen haben, was für mich großartig ist, wenn man bedenkt, was für ein komischer Film es ist. Das Publikum passt in den Film hinein. Es nimmt was es will, verzehrt was es will, findet eine Verbindung durch das Foto, durch die Großmutter, die Dame, die ihr Gedächtnis verloren hat, durch den Strand, durch das, was ich erzähle. Zu meinem großen Erstaunen und meiner großen Freude sind es viele junge Menschen, die diesen Film sehen. Ich erzähle mein Leben und es ist ein erfülltes Leben. Ich habe die Hälfte des 20. Jahrhunderts durchlebt. Es gab viele wichtige Ereignisse, ich habe mich zur rechten Zeit am rechten Ort befunden, war mittendrin in der Revolution und den Errungenschaften des Feminismus. Auch wenn nicht alles erreicht wurde, gibt es trotzdem wichtige Veränderungen, besonders die Geburtenkontrolle, die eine gigantische wissenschaftliche Erfindung darstellt. Ich habe für mich beschlossen, dass dies genau so wichtig ist wie Gutenberg, der den Buchdruck erfunden hat.

AVIVA-Berlin: War es für Sie leicht, diesen Film zu produzieren?
Agnès Varda: Oft wehren sich die Leute, meine Filme zu machen. Niemand will sie produzieren. Als ich sagte "Ich werde mein Portrait machen", hat man mir geantwortet: "Gut, einverstanden. Es ist ein Dokumentarfilm, also geben wir Ihnen 2 Francs 50", ich sagte "Nein, ich werde einen ´großen Spielfilm` machen! Und gleichzeitig ein kleines ungestelltes Schauspiel." Es gibt einen Vorteil seine Filme selbst zu produzieren: man geht mit dem Geld anders um. Man spart bei Dingen, bei denen andere Leute vielleicht großzügig sind, aber man sagt wiederum, dass es die Mühe wert sei, einen Zirkus an den Strand kommen zu lassen und sich mitten in Paris mit Sand auszustatten. In dem Bonusmaterial von Die Strände von Agnès habe ich die riesengroßen Lastwagen gefilmt, die Tonnen von Sand einfach so vor dem Haus ausschütten! Das Geld dient dazu, der Fantasie und der Freiheit, der ich mich widme, nachzugehen und nicht zwangsweise um offiziellere Gewinn-Produktionen zu machen.

AVIVA-Berlin: Im Alter von 26 Jahren, 1954, hatten Sie bereits Ihre eigene Produktionsfirma Tamaris-Films (später Ciné-Tamaris) gegründet, um Ihren ersten Film La Pointe courte zu produzieren. Können Sie uns von diesem außergewöhnlichen Erlebnis erzählen?
Agnès Varda: Ich war Fotografin und wollte nichts anderes, als Fotografin sein. Ich weiß nicht genau wie, aber dann habe ich einfach "umgeswitcht" und ein Drehbuch geschrieben. Ich sagte mir, dass niemand es produzieren werde... mit einer 25-jährigen Fotografin, die mit dem unbekannten Philippe Noiret und Silvia Monfort, die ein wenig bekannt war, als Schauspieler ankommt! Es schien normal, selbst zu produzieren. Ich hatte ein wenig Geld, das mir meine Mutter geliehen hat und etwas Geld vom Erbe meines Vaters. Ich hatte die Idee eines Gemeinschaftsunternehmens, so dass ich denjenigen, die ohne Bezahlung arbeiteten, Geld versprach, wenn der Film gut liefe. Wir kauften eine Ente, weil man bei diesem Auto das Dach für Kamerafahrten problemlos öffnen kann. Wir haben ein Haus gemietet, in dem wir alle wohnten. Es war überhaupt keine hochkarätige Produktion. Wir konnten über nötige Aussparungen selbst bestimmen. Und wir haben losgelegt! Wir haben zwei Jahre angesetzt, den Film herauszubringen, während wir davon nur zwei Wochen in Paris waren. Er hat niemals so viel eingebracht, wie er kostete, aber dafür wurde er sofort von den Filmotheken gekauft, überall in den Filmclubs gezeigt und bei den Journalisten und Filmschriftstellern bekannt. Das stellt eine Art Wendepunkt des französischen Kinos dar. Nachdem die Nouvelle Vague mit all ihren neuartigen Filmen angekommen war, nannte man mich die Großmutter der Nouvelle Vague!

AVIVA-Berlin: Wie haben Sie Ciné-Tamaris, Ihre Produktionsfirma, aufgebaut?
Agnès Varda: Ich habe versucht mit anderen Produktionen Filme zu machen, aber mich wollte niemand mehr, nachdem ich mit einem Film Geld verloren hatte. Sehen Sie, Vogelfrei, der wirklich bekannt wurde, habe ich vielen Produktionen präsentiert. Es ist richtig, wenn Sie sagen "Das ist ein rebellisches, dreckiges Mädchen, das zu jedem ´Scheiße` sagt und in einem Straßengraben sterben wird". Es ist kein ansprechendes Drehbuch und tatsächlich hat es jeder abgelehnt. Wir haben uns vom CNC (Centre National du Cinéma) ein wenig Hilfe erhofft und man förderte uns mit sehr wenig Geld. Als wir dann viel verdienten, haben wir zwei Filme mit Jane Birkin produziert. Die Produzenten baten mir immer noch nichts an, weil sie dachten, ich wolle alles ganz alleine machen. Das ist ein Teufelskreis. Ciné-Tamaris hat sich also entwickelt. Wir haben mehrere Filme produziert. Jacques Demy war glücklich, dass wir Die Regenschirme von Cherbourg, Eselshaut und Die Mädchen von Rochefort restaurierten. Meine Kinder Mathieu Demy und Rosalie Varda Demy haben sich darum gekümmert. Wir haben Die Sammler produziert und DVDs gemacht. Meine Filme sind ein bisschen home made. Man ist froh, Entscheidungen allein zu treffen. Zum Beispiel mache ich meine Trailer selbst. Viele Leute sagen, dass ein Trailer von Professionellen gemacht werden muss, aber ich bin der Meinung, dass ich persönlich besser weiß, was ich als Zeichen übermitteln möchte! Wir werden die DVD Die Strände von Agnès herausbringen, wofür ich das Bonusmaterial gemacht habe. Das erfreut mich, weil ich das Gefühl habe Handwerk zu machen und keinen Kommerz zu betreiben.

AVIVA-Berlin: Ist Ihre Kindheit in Brüssel, Belgien, für Sie eine Quelle der Inspiration?
Agnès Varda: Ich mag Belgien, aber ich handele nicht nach Erinnerungen, im Gegensatz zu Jacques Demy, der dies zu 200% tat. Meine Kindheit ist keine Quelle der Inspiration. Mich inspiriert eher das sofort, die Gegenwart. Dort finde ich Anregungen. Darüber hinaus reizen mich psychoanalytische Techniken überhaupt nicht. Ich weiß, dass sie für das Verstehen des Lebens und der Psychologie maßgeblich sind... aber das ist nicht mein Ding.

AVIVA-Berlin: In Die Strände von Agnès (2008) sprechen Sie von Ihrer "ersten Nacht in Freiheit", der Tag, an dem Sie als Jugendliche beschlossen haben von zu Hause wegzulaufen. Sie fuhren nach Marseille, dann nach Korsika, wo Sie drei Monate lang mit Fischern lebten. In Vogelfrei (1985) irrt Mona, eine junge Frau, durch die Straßen und campt im Kalten. Hat Sie Ihr jugendlicher Ausriss beim Erschaffen der Protagonistin beeinflusst?
Agnès Varda: Er hat mir bei allem geholfen. Dadurch habe ich ein Gefühl von Freiheit bekommen und vor allem von meinen Fähigkeiten, weil mich meine Eltern nicht gesucht haben. Ich habe sie später gefragt, warum sie die Polizei nicht verständigt haben. Mein Vater fürchtete einen Skandal. Das hat bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen und mich auch von den Vorstellungen meiner Eltern losgelöst. Als Jugendliche war ich fürchterlich ängstlich, was die Männerwelt betraf. Wissen Sie, vor 70 Jahren gab es die Ansicht, dass man als Mädchen nicht viel ausrichten könne. Die Freiheit bedeutete für mich, sagen zu können: "Ja, ich bin fähig zu fischen und ein wenig Geld zu verdienen!" Das war die Befreiung, um Filme zu machen, ohne Angst zu haben. Ich schmiedete Pläne. Niemand sagte mir, dass es gut sei, aber ich hatte keine Angst und packte es an!

AVIVA-Berlin: In Die Strände von Agnès (2008) sagen Sie, dass in Ihrer Jugend "nichts besser war, als die Dichter und Maler des Surrealismus`". Welche Spuren haben sie in Ihren Filmen hinterlassen?
Agnès Varda: Ich arbeite mit dieser Fährte: mit Collagen und freier Verbindung. Das surrealistische Prinzip der Verbindung der Ideen funktioniert erstaunlich in meinen Filmen, weil damit die Struktur ausgemacht wird. Die Strände sind zwar chronologisch, aber darin habe ich ständige Wendungen, Zickzack und mentales Zapping eingeflochten! Collage bedeutet auch, sich fallen zu lassen. Ein großer Teil meiner Arbeit besteht aus dem Zusammenschnitt, der für diesen Film neun Monate gedauert hat. Als ich gemerkt habe, dass noch etwas fehlt, fing ich erneut an zu drehen! Die zweite große Lehre des Surrealismus` ist, den Zufall mit einzubauen. Wenn ich anfange zu drehen, ist der Zufall mein erster Regieassistent. Der Zufall ist sehr häufig sogar maßgeblich für die Intensität der Szene.

AVIVA-Berlin: Ihr Film Vogelfrei (1985) ist der französischen Schriftstellerin Nathalie Sarraute gewidmet. In Die Strände von Agnès erwähnen Sie Ihre Freundschaft zu ihr. Könnten Sie den Einfluss Nathalie Sarrautes auf Ihre Arbeit beschreiben?
Agnès Varda: Haben Sie Nathalie Sarraute gelesen? Es ist schwierig! Es ist, als gäbe es etwas hinter dem, was sie schreibt, wie ein virtuelles Bild hinter dem Bild. Sie hat sich mit den Wörtern und der Struktur der Sätze abgekämpft und manchmal versteht man sie schwer. Man ist frustriert davon, es verstehen zu wollen, es aber nicht greifen zu können,. Die vorläufige Titel von Vogelfrei lautete vorher "Zum Verständnis"! Ich hatte das Glück, mit ihr befreundet zu sein. Wenn wir uns sahen, sprachen wir nicht über Literatur. Sie trank Wodka, rauchte ihre kleine Zigaretten und lachte. Sie starb mit fast 100 Jahren. Sie war immer charmant und sehr geheimnistuerisch im Leben. Dass das Schaffen letztendlich geheim ist, habe ich in meinem gemeinsamen Leben mit Jacques Demy begriffen. Sie teilte ihr sehr bürgerliches Leben mit einem Anwalt. Wenn sie an ihrem Schreibtisch saß, war sie mit ihren Geschichten ganz alleine.

AVIVA-Berlin : Sie haben 32 Jahre lang mit dem Cineasten Jacques Demy zusammengelebt, Autor der bekannten Musikfilme mit Catherine Deneuve Die Regenschirme von Cherbourg (1964), Die Mädchen von Rochefort (1967) und Eselshaut (1970). Ihr Film Jacquot de Nantes (1991), der von Jacques Demys Kindheitserinnerungen und Träumen handelt, war eine Hommage an ihn. Haben Sie sich als Cineasten gegenseitig beeinflusst?
Agnès Varda : Wir lebten zusammen auf jeder Seite dieses kleinen Hofes. Aber jeder war allein in seiner Welt. Wir redeten und teilten viele Dinge, einschließlich und vor allem das Bett, aber ich hatte gar keine Lust mit Jacques zu arbeiten. Es ist offensichtlich, dass wir uns einander nicht beeinflusst haben. Eines Tages sagte uns jemand zu Die Regenschirme von Cherbourg und Glück aus dem Blickwinkel des Mannes: "Sie mögen alle beide Farben." Aber es gibt keinen Zusammenhang bezüglich der Farben! Der Film Die Regenschirme von Cherbourg ist von den Malern beeinflusst worden, die sehr gewaltige Farben verwendeten. Er hat die Boutique in orange und rot streichen lassen. Als ich Glück aus dem Blickwinkel des Mannes gemacht habe, habe ich versucht, mich den Malern der Ile de France, den Impressionisten, anzunähern.

AVIVA-Berlin: Seit 2003 verwirklichen Sie Videoinstallationen. Fühlen Sie sich dabei freier?
Agnès Varda: Ich fühle mich immer sehr frei! Doch gleichzeitig auch sehr eingeschränkt durch meine eigenen Grenzen. Manchmal denke ich, ich habe nicht genug Vorstellungskraft oder Talent. Aber damit komme ich zurecht. Die Installationen, mit denen ich 2003 begonnen habe, sind sehr belebend. Ich habe Patatutopia auf der Biennale von Venedig gemacht. Es gab drei große Bildschirme, auf denen Kartoffeln zu sehen waren und darüber hinaus waren 700 kg Kartoffeln auf dem Boden verteilt. Um die Leute anzulocken, trug ich ein Kartoffelkostüm. Ich arbeite sehr gerne in Museen. Ich entwickle Bilder, die man in einem Kinofilm nicht zeigen könnte, da die Kinozuschauer doch immer ein wenig Schauspiel sehen wollen, ein bisschen Bewegung, eine Erzählung.

AVIVA-Berlin: Sie erzählen, dass Sie im Alter von 25 Jahren, als Sie entschieden haben, Ihren ersten Film zu machen, bis dahin nur neun oder zehn Filme gesehen haben. Inwieweit haben Sie sich als Cineastin gefühlt?
Agnès Varda: Ich bin an dem Tag Cineastin geworden, als ich die Gliederung meines ersten Films erstellte. Ich hatte einfach das Verlangen, diesen Film zu machen... mit meiner Kenntnis über die Fischer der Pointe Courte und meinem Wunsch, die Probleme einer Gemeinschaft denen der privaten Individuen entgegenzusetzen. Ich denke, dass wir uns die ganze Zeit zwischen privatem und gesellschaftlichem Leben bewegen. Wenn Sie ein Kind bekommen und noch gleichzeitig dabei sind, ein berufliches Projekt zu beenden. Meine Filme beinhalten immer diese Idee, dass man sich ständig zwischen zwei Diskursen bewegt, zwischen zwei Situationen, zwei Blickwinkeln. Weil das Leben einfach widersprüchlich ist, fast in jedem Moment.

AVIVA-Berlin: Wir danken Ihnen sehr für das Interview und wünschen Ihnen für Ihre zukünftigen Projekte alles Gute!

Lesen Sie auch die französische Version dieses Interviews mit Agnès Varda!

© Aurélia Vartanian, 2009


Retrospektive im Kino Arsenal

Weitere Infos zu Agnès Varda und Ciné-Tamaris: www.cine-tamaris.com

Übersetzung vom Französischen ins Deutsche: Katharina Meier


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Beitrag vom 23.09.2009

AVIVA-Redaktion