Tanya Yael Raab: Über den Beitrag der jüdischen Kultur in Deutschland muss insgesamt deutlich mehr gesprochen werden - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Interviews



AVIVA-BERLIN.de im Mai 2025 - Beitrag vom 29.05.2025


Tanya Yael Raab: Über den Beitrag der jüdischen Kultur in Deutschland muss insgesamt deutlich mehr gesprochen werden
Sharon Adler, Tanya Yael Raab

Die angehende Lehrerin, Bloggerin ("oy_jewish_mamma") und Autorin ("Shalom zusammen! Warum wir falsche Vorstellungen von jüdischem Leben haben und das gemeinsam ändern sollten") lebt in Brandenburg. Über die Herausforderungen, als Mutter einer Vierjährigen in einem nichtjüdischen Umfeld zu leben, sprach sie mit Sharon Adler.




Sharon Adler: Du wurdest 2000 in der Ukraine geboren, wo du mit deiner Familie gelebt hast, bis ihr 2003 als sogenannte jüdische Kontingentflüchtlinge
nach Deutschland emigriert seid. Wie lange im Voraus habt ihr eure Emigration geplant?
Tanya Yael Raab:
Den Plan, nach Deutschland zu ziehen, hatte meine Mutter schon einige Jahre vor meiner Geburt, aber als sie meinen Vater kennenlernte und schwanger wurde, verschob sie ihn erstmal. Meine Eltern waren auf die Unterstützung meiner Großeltern angewiesen. Obwohl beide gearbeitet haben, konnten sie sich wegen der Wirtschaftskrise kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion keine eigene Wohnung leisten. Wir drei haben mit meinen Großeltern in einer Zwei-Zimmer-Wohnung auf 40 Quadratmetern gewohnt. Einige Familienangehörige, die in den 1990ern nach Deutschland gezogen waren, rieten uns, auch hierher zu kommen, denn man könne sich "ein gutes Leben aufbauen" und auch die Jüdischen Gemeinden würden "immer größer".

Sharon Adler: Was haben deine Eltern und Großeltern beruflich in Krementschuk gemacht? Welche Erinnerungen hast du an diese Zeit?
Tanya Yael Raab:
Meine Eltern arbeiteten beide als Gerichtsvollzieher. So lernten sie sich kennen. Meine Mutter hat, das war der Wunsch meiner Großeltern, ein abgeschlossenes Ingenieursstudium, aber später nie als Ingenieurin gearbeitet. Mein Großvater mütterlicherseits war Handwerker und hat Rohre und Wasserleitungen verlegt. Das war ein gefragter Beruf, weil damals viel gebaut wurde. Er fuhr quer durch die Sowjetunion und hat auch in Kasachstan gearbeitet. Für mich war es immer sehr schön, wenn wir an irgendwelchen Gebäuden vorbeiliefen und er erzählte, dass er daran mitgearbeitet hätte.
Meine Oma hat in einer Textilfabrik gearbeitet, wo Stoffe mit verschiedenen Chemikalien eingefärbt wurden. Als ich geboren wurde, hat sie regelmäßig Stoffteile mitgebracht, womit Kleidung für mich genäht werden konnte. Meine Großeltern kamen 2022, mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine, nach Deutschland.

Sharon Adler: Wie kam deine Familie nach ihrer Einwanderung nach Deutschland zurecht? Wie und wo habt ihr zuerst gelebt?
Tanya Yael Raab:
Wir haben in zwei verschiedenen Flüchtlingsunterkünften gelebt, wo viele postsowjetische Geflüchtete und jüdische Kontingentflüchtlinge lebten. Dort hat man sich alles mit den anderen Familien geteilt, auch die Kochplatten. Aber es gab ein schönes Hochbett, was ich als Kind ziemlich cool fand. Ich weiß, dass es meinen Eltern sehr schwergefallen ist. Sie haben sich doch in gewisser Weise Selbständigkeit erhofft, aber ohne Sprachkenntnisse kommst du nicht weit. Wir haben aber schnell eine Wohnung bekommen, in der meine Eltern bis heute leben. Sie liegt etwa eine Minute von der polnischen Grenze entfernt und ist für mich ein Ort voller Erinnerungen. Meine erste Kindheitserinnerung in Deutschland ist das Bällebad im McDonald´s.

Sharon Adler: Konnten deine Eltern an ihren beruflichen und sozialen Status anknüpfen?
Tanya Yael Raab:
Die beruflichen Abschlüsse meiner Eltern wurden – bis auf das Abitur meiner Mutter, und das auch erst nach langen Verhandlungen – nicht anerkannt. Meine Eltern repräsentieren zwei unterschiedliche Beispiele von Integration. Mein Vater ist nie richtig angekommen. Anfangs hat er mit meiner Mutter Sprachkurse besucht und war motiviert, aber irgendwas ist dann mit ihm passiert. Er hat resigniert.
Es gibt viele positive oder negative Beispiele von Integration. Aber über dieses stille, dieses in eine Depression Verfallen, weil man sich nie richtig dazugehörig fühlt, wird sehr wenig gesprochen. Meine Mutter dagegen ist glücklich geworden. Sie hat eine Ausbildung als Hauswirtschaftlerin gemacht und gelernt, wie man richtig bügelt oder Wäsche wäscht, was quasi eine Ausbildung zur Putzfrau und Haushaltshilfe ist. Ich habe mich damals ein bisschen dafür geschämt. Im Nachhinein finde ich es beeindruckend, dass sie trotz fehlender Sprachkenntnisse und vieler Hürden versucht hat, etwas zu tun. Danach hat sie eine Ausbildung zur Erzieherin gemacht. Sie nannte mir mal den Grund dafür: Als ich klein war, merkte sie, welchen Spaß ihr das machte. Das finde ich schön. Sie liebt ihre Arbeit als Erzieherin in der Krippe. Aber sie hat auch Ängste. Wir wurden zusammen für ein TV-Interview angefragt, aber sie hat sich das nicht zugetraut. Es war ihr unangenehm, dass sie mit Akzent spricht.

Sharon Adler: Welche Erinnerungen hast du an deine Schulzeit und an die Jüdische Gemeinde in Frankfurt (Oder)?
Tanya Yael Raab:
Einige Vertreter:innen der Jüdischen Gemeinde kamen direkt zu uns in die Flüchtlingsunterkunft und boten uns ihre Hilfe bei den Behördengängen an. Viele von ihnen haben diese Prozedur einige Jahre zuvor bereits selbst durchlaufen. Das war eine große Unterstützung, für die meine Eltern sehr dankbar waren. Und wir wurden in die Jüdische Gemeinde eingeladen, wo es viele Angebote gab, vor allem für Kinder, und Religions-, Musik- und Russischunterricht. Meinen Eltern war es wichtig, dass ich bilingual aufwuchs und auch lernte, auf Russisch zu schreiben und zu lesen.
In der Gemeinde haben wir die jüdischen Feste gefeiert und dadurch die Traditionen kennengelernt. Leider war der Religionsunterricht nicht sehr gut, was daran lag, dass die Religionslehrerin, wie die meisten Mitglieder der postsowjetischen Gemeinden, selbst wenig Kenntnis über das Judentum hatte. Es kamen aber ab und zu jüngere Rabbiner aus Berlin zu Besuch, die uns die Religion und die Feiertage total cool erklärt haben. Ich erinnere mich gut daran, als wir uns zu Chanukka mit Schildern und Schwertern als Makkabäer verkleidet und uns Bärte gebastelt haben. Da habe ich viel mehr gelernt als im Religionsunterricht.
Und ich habe den christlichen Religionsunterricht in der Schule besucht, weil meine Mama fand – das halte ich bis heute für eine super Sichtweise –, dass Wissen über christlichen Glauben und Bibelwissen auch Allgemeinwissen ist: "Ohne Bibelwissen kommst du weder in der Kunst noch in der Literatur weit." Der Unterricht hat mir großen Spaß gemacht, vor allem, weil ich eine gute Religionslehrerin hatte. Sie wusste, dass ich jüdisch bin, und hat sehr auf interreligiösen Dialog geachtet und darauf, Brücken zwischen den Religionen herzustellen. Mit Antisemitismus konfrontiert wurde ich zum ersten Mal, als wir die Passionsgeschichte nachgespielt haben. Ein Mitschüler meinte, dass Judas Jude gewesen sei und dass die Juden Jesus umgebracht hätten. Meine Lehrerin ist eingeschritten und hat erklärt, dass das so nicht stimme und dass auch Jesus ein Jude war. Insofern war auch das ein schöner Moment für mich, weil sie interveniert hat.

Sharon Adler: In deinem Buch "Shalom zusammen!" schreibst du über Klischeebilder, Stereotype, die Exotisierung von Jüdinnen und Juden, über Religiosität, Queerness im Judentum und vieles mehr. Wie beurteilst du den Umgang mit Jüdinnen und Juden, etwa bei Interviews, und mit Blick auf die Shoah-Erfahrungen?



Tanya Yael Raab:
Mein Buch ist ein paar Tage nach dem Holocaust-Gedenktag erschienen. Von November bis Januar werde ich besonders häufig für Interviews angefragt. Das ist die Zeit, in der jüdische Menschen viel Aufmerksamkeit bekommen. Darüber hinaus wird über jüdisches Leben, auch in den Medien, relativ wenig gesprochen. Meine Erfahrungen gehen alle in eine ähnliche Richtung. Da ist zunächst einmal diese Erwartungshaltung. Dass du über deine Familiengeschichte erzählen musst, dass du diesen Seelen-Striptease hinlegen musst, um einen persönlichen Zugang zum Holocaust zu schaffen. Denn den braucht man ja, um Mitleid mit jüdischen Menschen haben zu können, dafür müssen wir eine herzerwärmende jüdische Familiengeschichte hören. Da erlebe ich eine große Übergriffigkeit. Auch dass jegliche Kritik an der Erinnerungskultur negativ aufgefasst wird. Ich wurde mal gefragt, ob ich am Ende meiner Rede auch einen "positiven Ausblick" geben könnte, weil "es jetzt ja schon viel besser ist und es den Juden doch heute wieder gut geht." Und dass es doch jetzt "nicht mehr so schlimm wie damals" sei. Das erlebe ich in diesem Kontext sehr oft.
In meinem Buch habe ich auch eine Dating-Erfahrung beschrieben. Ich hatte ein erstes Date mit einer Frau, die mir die ersten fünfzehn Minuten von ihrem Besuch in Auschwitz erzählte und darüber, wie schrecklich das für sie war. Ich habe mich gefragt, wie man darauf kommt, dass das ein angemessenes Thema für ein erstes Date ist. Dann kam mir der Gedanke, dass Leute denken, sie könnten mit einer jüdischen Person über nichts anderes reden. Sie glauben, dass der Holocaust unser gemeinsamer Nenner ist. Diese Situation beschäftigt mich immer noch. Wie kommt man darauf, dass das ein Small-Talk-Thema ist? Wie kommt man darauf, dass man bei mir mit so etwas punkten kann? Das Ziel eines ersten Dates ist es ja, Gemeinsamkeiten zu einer Person herzustellen. Und unsere Gemeinsamkeit ist, dass ich jüdisch bin und du schon mal in Auschwitz warst?

Sharon Adler: Du lebst in Brandenburg an der Havel – wie lebt es sich in einem mehrheitlich nichtjüdischen Umfeld mit einem Kleinkind? Wie ist die Situation im Kindergarten, wie sind die Bedingungen für ein lebendiges jüdisches Leben?
Tanya Yael Raab:
Ich bin es schon lange gewohnt, kein jüdisches Umfeld zu haben. Aber ich habe es mir immer wieder mal gewünscht und finde es schade, dass meine Tochter kein jüdisches Umfeld hat. In der Kommunikation mit Menschen merke ich immer wieder, dass ein Basiswissen über jüdisches Leben fehlt. Zum Beispiel habe ich mit der Kita lange über koscheres Essen diskutiert. Sie bestand darauf, dass ihre Auffassung von "koscher" die richtige ist und meine nicht. Das fand ich sehr übergriffig.
Seit es ein muslimisches Kind in der Gruppe gibt, wird explizit, wenn Eltern etwas mitbringen sollen, darauf hingewiesen: "ohne Gelatine, Frikadellen ohne Schweinefleisch". Ich gönne das den muslimischen Menschen von Herzen und finde es gut, dass wir in dieser Frage Verbündete haben, aber ich finde es schade, dass in dem Maße auf uns nicht geachtet wird. Ich freue mich, dass es vielerorts Ramadan-Kalender und Ramadan-Dekoration gibt, aber mir fehlt es, dass es im Schreibwarenladen nicht auch Grußkarten und Deko zu den jüdischen Feiertagen zu kaufen gibt, wie etwa zu Chanukka. Das ist der wohl präsenteste Feiertag und den meisten ein Begriff, obwohl er ja meist als das "jüdische Weihnachten" gesehen wird.
Das ärgert mich manchmal. Das gibt einem das Gefühl, dass man nicht zur Gesellschaft dazugehört. Vielleicht ist das auch eine krasse Erwartungshaltung, weil wir eine absolute Minderheit sind, aber ich wünschte mir, dass ich dafür nicht immer extra in ein Geschäft nach Berlin fahren oder alles online bestellen müsste.

Sharon Adler: Wie gelingt dir der Spagat zwischen dem Einhalten der jüdischen Feiertage und den Anforderungen des Berufs?
Tanya Yael Raab:
Ich erinnere mich gut daran, dass es mir in der Schule – ich war immer die einzige Jüdin – unangenehm war, wenn ich vor der Klasse gefragt wurde, ob ich wegen eines jüdischen Feiertags zu Hause bleiben wollte. Auch an der Uni, obwohl ich da schon als Aktivistin präsent war, fiel es mir schwer, zu erklären: "Eigentlich möchte ich an Jom Kippur keine Klausur schreiben". Man ist schon eingeschränkt, wenn man fastet. Jetzt, wo ich auf Lehramt studiere, weiß ich, dass mir das gesetzlich zusteht. Ich meine, wir sind eine Uni mit so vielen Studierenden, da ist es doch nicht unwahrscheinlich, dass es darunter auch eine jüdische Person gibt. Warum wird darauf bei Planungen keinerlei Rücksicht genommen und geachtet? Warum hat nicht jede Lehrkraft einen interreligiösen Kalender, den sie sich einfach mal zur Hand nehmen könnte? Das ärgert mich schon sehr.
Es ist generell ein Spagat. Bei mir besteht er zwischen Studium, meiner freiberuflichen Arbeit, Care-Arbeit, Kind und der Religion. Da schaue ich jetzt auch auf mein späteres Lehrerinnendasein. Wochenenden, wie auch der Schabbat, werden wahrscheinlich oft dabei draufgehen, wenn ich den Unterricht vorbereite oder mich fortbilde. Ich frage mich natürlich, wie ich das durchsetze. Auch meine öffentliche Präsenz nimmt immer weiter zu, und ich bin eine offen religiöse Lehrerin.

Sichtbarkeit und Sicherheit



Sharon Adler: Du hast dich dafür entschieden, als Jüdin sichtbar und erkennbar zu sein, auch auf dem Campus. Das bedeutet viel öffentliche Aufmerksamkeit, auch in den Medien. Wie beurteilst du die bestehenden Sicherheitskonzepte?
Tanya Yael Raab:
Es bereitet mir schon Kopfschmerzen, wenn ich sehe, wie viele Schülerinnen und Schüler offensichtlich eine rechte Gesinnung vertreten. In einer Klasse, in der Schüler:innen, ob bei Juniorwahlen oder als Erstwählende, gewisse Positionierungen haben. Ich frage mich, wie ich damit umgehen kann. Wie sicher bin ich als offen jüdische Lehrkraft, die offen eine bestimmte politische Meinung vertritt? Das ist ein schwieriges Thema. Gerade durch meine Erfahrungen in Workshops und in der Holocaust-Bildung weiß ich, wie schwierig es ist.

Sharon Adler: Was ist deine Strategie, im zukünftigen Kollegium Solidarität gegenüber Antisemitismus zu erfahren?
Tanya Yael Raab:
Ich bin damit großgeworden, nicht damit ins Haus zu fallen, dass man jüdisch ist, und bei den Menschen langsam abzuklopfen, wie sie damit umgehen. Die Strategie wird vermutlich sein, zu schauen, wie sie reagieren. Um sich dann Verbündete zu suchen und hoffentlich zu finden. Antisemitismus ist leider ein Thema, vor dem man nie geschützt ist. Kein Raum ist ein absolut antisemitismusfreier Raum, keine Gruppe ist frei von Antisemitismus und das Risiko ist immer da. Das ist das Perfide an Antisemitismus, dass es in jeder Gruppe vermeintliche Verbündete, aber auch Menschen gibt, die einen mit antisemitischen Vorurteilen konfrontieren.

Vermittlung jüdischer Geschichte. Status Quo und Handlungsempfehlungen

Sharon Adler: Wie erlebst du die Vermittlung jüdischer Geschichte an der Universität, im Lehrplan?
Tanya Yael Raab:
Ich studiere Deutsch und Russisch auf Lehramt an der Universität Potsdam, und es gibt immer mehr jüdische Themen, auch in den literaturwissenschaftlichen und sprachwissenschaftlichen Seminaren. Zum Beispiel haben wir in Germanistik über Jiddisch, die Herkunft und Bezüge gesprochen und sie kontextualisiert betrachtet. Ich erlebe auch, dass jüdische Autor:innen und deren Werke in der Uni präsenter werden. In einem Slawistik-Literaturseminar haben wir anhand von Texten über die Aufarbeitung der Shoah in der Sowjetunion gesprochen.
Das war eine wertvolle Erfahrung, wo ich viel Neues gelernt habe. Auch das Thema transgenerationale Traumata haben wir in diesem Seminar sehr explizit behandelt. Aber über den Beitrag der jüdischen Kultur in Deutschland muss insgesamt deutlich mehr gesprochen werden. Darin sehe ich auch meine Aufgabe im Deutschunterricht: dass man Werke jüdischer Autor:innen thematisiert. Gerade im Hinblick darauf, wie sehr sie die Kultur, die Sprache und die Literatur geprägt haben. Und dass sie Antisemitismus erlebt haben. Mir ist es wichtig, dass man diese Themen anspricht und verarbeitet.

Sharon Adler: Wie beurteilst du die Implementierung der Themen Nationalsozialismus und Shoah mit Blick auf die Qualifizierung von Forschenden und Lehrenden im Kontext von Antisemitismus-Prävention? Wo siehst du Handlungsbedarf und Lücken?
Tanya Yael Raab:
Die Thematisierung von Antisemitismus und Prävention in der Schule ist etwas, was mir persönlich in den bildungswissenschaftlichen Seminaren extrem fehlt. Es wird viel über Rassismus und verschiedene Diskriminierungsformen wie Ableismus und Sexismus gesprochen. Natürlich ist das wichtig. Aber über Antisemitismus nie. Gerade mit Blick auf die deutsche Geschichte, gerade jetzt mit diesen krassen Wahlergebnissen der AfD, gerade jetzt mit dem zunehmenden Antisemitismus seit dem 7. Oktober 2023 ist es einfach wichtig.
Ich hoffe, dass das im nächsten Semester Thema sein wird. Falls nicht, werde ich es ansprechen. In meiner Schulzeit kam Antisemitismus kurz im Kontext Holocaust vor und dann nie wieder. Da sehe ich dringenden Handlungsbedarf. In meiner Bachelor-Arbeit habe ich über das Thema "Graphic-Novels in der Holocaust-Bildung" explizit Wege gesucht, wie im Deutschunterricht das Thema Holocaust mit Hilfe solcher Graphic-Novels behandelt werden kann. Nicht nur durch den historischen Ansatz, sondern auch über diese besondere Ästhetik des Genres. Wie können wir den Holocaust überhaupt darstellen, und welche Wege gibt es, auch in der ästhetischen Vermittlung? Wo sind die Grenzen, ab wann ist das vielleicht verharmlosend dargestellt, ab wann sind Darstellungen traumatisierend für Kinder und Jugendliche? Ein sehr spannendes Thema.

Sharon Adler: Wie lautet deine Empfehlung für die Implementierung und Vermittlung jüdischer Geschichte zusätzlich zu den Themen NS und Shoah?
Tanya Yael Raab:
Ich denke, der Geschichtsunterricht hat die Verpflichtung – auch wenn das nicht mein Fachgebiet ist, weil ich keine angehende Geschichtslehrerin bin –, jüdisches Leben außerhalb des Holocausts darzustellen. Jüdische Geschichte ist mit der deutschen Geschichte verwoben, aber die meisten haben den Eindruck, das Einzige, was Juden und Nichtjuden miteinander zu tun haben, sei die Zeit von 1933 bis 1945. Davor und danach gab es keine jüdische Geschichte, nichts Nennenswertes über jüdische Menschen in Deutschland? Jüdische Geschichte ist von der Verfolgung in der NS-Zeit geprägt, gerade in Deutschland. Aber es ist wichtig, auch andere Zeitalter zu betrachten. Unser Abiturthema war die Weimarer Republik. Ich habe in der ganzen Zeit, mindestens ein halbes Jahr lang, kein Wort über jüdische Politiker: innen oder jüdische Kulturschaffende gehört. Walther Rathenau oder Rosa Luxemburg wurden nie als jüdisch bezeichnet.
Ich finde es fatal, dass in der Geschichtsschreibung jüdische Menschen erst 1933 auftauchen und dann direkt ermordet werden. Es wundert mich daher nicht, wenn man mich fragt: "Du bist jüdisch? Ich dachte, die sind alle tot."

Tradierungen von Shoah-Erfahrungen in der Familie. Generationentrauma

Sharon Adler: Möchtest du etwas zu den Shoah-Erfahrungen in der Familie mütterlicherseits erzählen? Wie hat sie überlebt?
Tanya Yael Raab:
Meine Oma ist kurz nach Kriegsende geboren, mein Opa 1941, im Jahr des Beginns des Krieges mit der Sowjetunion. Er lebte die ersten Lebensjahre mit seiner Mutter und Schwester in einem Versteck, im Keller einer Mühle. Nachbarn haben ihnen geholfen und ihnen Essen gebracht. Die männlichen Angehörigen kämpften an der Front, und mein Uropa, der Vater meiner Oma, hat als Soldat Berlin mit eingenommen. Er sprach nie über seine Kriegserfahrungen, das wissen wir nur durch seine Abzeichen.
Meine Uroma ist – ich nenne sie Uroma, aber sie ist die Tante meiner Oma –, nachdem ihre Familie ermordet wurde, geflohen und untergetaucht. Dadurch, dass sie so weit floh, dass sie nicht mehr auf besetztem Gebiet war, hat sie lange keine Entschädigungszahlung als Holocaust-Überlebende bekommen. Dass sie traumatisierende Erfahrungen und eine Flucht in fremde Länder hinter sich hatte, wurde abgewertet.
Der Vater meines Opas war Mechaniker. Er wurde als Soldat von einem deutschen Trupp gefangen genommen. Er sollte das Motorrad des Hauptmanns reparieren, der erkannte, dass er Jude war und ihm das Leben gerettet hat. Bis heute wissen wir nicht, wer er war und ob er den Krieg überlebt hat. Das ist unser namenloser Familienheld und ein Lichtblick. Dafür, dass es auch Menschen gab, die Juden geholfen haben.
Auch die Familie meines Opas wurde einmal entdeckt und nicht verraten. Der Mensch, der sie entdeckt hat, ging aus dem Keller raus, niemand kam zurück, um sie zu holen. Es gab eben auch diese Lichtblicke.

Sharon Adler: Welchen direkten Einfluss hatten diese Trauma-Erfahrungen auf dich und deine Familie?
Tanya Yael Raab:
Meine Uroma habe ich kennengelernt, als sie schon Achtzig war. Sie wurde einhundertzwei Jahre alt, und sie war ihr Leben lang sehr vital. Aber ich fand sie als Kind ein bisschen gruselig. In ihrer Wohnung hatte sie Fotos von ihren Eltern und hat zu ihnen gesprochen. Ich habe sie als eine sehr traumatisierte Frau erlebt. Ich glaube, dass es Menschen, die keine Holocaust-Überlebenden persönlich kennen, schwerfällt, das zu verstehen – und auch nie verstehen werden, dass es keinen Schlussstrich geben kann.
Diese Menschen tragen das Trauma des Holocausts für immer mit sich. Meine Uroma wurde in ihren Zwanzigern traumatisiert. Das hat sie ihr Leben lang begleitet. Viele Holocaust-Überlebende begingen Suizid. Sie haben sich schuldig gefühlt, dass sie überlebt haben. Auch meine Uroma verstand nicht, warum es ihr vergönnt war und vielen anderen Angehörigen nicht. In der Familie meiner Oma waren viele Angehörige im Ghetto in Starodub. Das ist zwischen Belarus, Ukraine und Russland. Einer Urgroßtante und ihrer besten Freundin gelang es, zu fliehen, sie kehrte aber zurück, weil sie ihre Familie nicht im Stich lassen wollte. Sie wurde ermordet. Ihre Freundin überlebte und reichte später ihren Namen und Daten bei Yad Vashem ein.
Meine Eltern haben mit mir schon früh über die Shoah gesprochen und mir von den Duschen und den Gaskammern in den Konzentrationslagern erzählt. Das löste große Ängste aus, die mich bis heute begleiten. Ich bekomme Panikattacken in Duschkabinen. Dass sich bei mir ein transgenerationales Trauma manifestiert hat, wurde mir erst vor ein paar Jahren klar.

Sharon Adler: Wie erklärst du deiner Tochter die Shoah und Antisemitismus, ohne dass es angsteinflößend ist?
Tanya Yael Raab:
Wir haben mit meiner Tochter – sie ist vier Jahre alt – noch nicht über das Thema Holocaust gesprochen. Ich finde, gerade für Kinder sind die Stolpersteine ein guter Gesprächseinstieg zum Thema Holocaust und Antisemitismus. Man kann in dem Zusammenhang gut miteinander verknüpfen, dass es eine Zeit gab, wo jüdische Menschen ausgegrenzt wurden. Ausgrenzung kennen Kinder vielleicht aus der Kita. Dass Menschen pauschal ausgeschlossen wurden, nur weil sie jüdisch waren, und nicht, weil sie irgendjemanden geärgert haben. Und dass das falsch ist. Das würde ich immer beim Thema Antisemitismus betonen. Denn das ist es, was ich als Kind dachte, dass es ja einen logischen Grund geben müsse, warum sollte das einfach so passiert sein. Und dann sucht man sich als Kind einen Grund und denkt sich irgendwas Blödes aus.
Ich würde auch erklären, dass manche Menschen jüdische Menschen nicht mögen, weil sie glauben, dass sie bestimmte Eigenschaften haben, die aber nicht zutreffen. Dann könnte man mit einfachen antijüdischen Stereotypen argumentieren, die man direkt entkräften kann. Dass manche Menschen finden, dass jüdische Menschen eine große Hakennase haben, aber dass wir die nicht haben. Oder sie glauben, dass jüdische Menschen reich und gierig sind, und dass wir das auch nicht sind, dass wir großzügig sind. Wie bei jeder Diskriminierungsform würde ich auch sagen, dass, wenn jemand einen als Juden beleidigt, das mehr über die Person aussagt als über dich selbst. Dass das Wort "Jude" an sich keine Beleidigung ist.

Sharon Adler: In deinem Instagramkanal "oy_jewish_mamma" stellst du die Frage danach, wie du deiner Tochter ein lebendiges, positives Judentum vermitteln kannst, wenn du ihr gleichzeitig vermitteln musst, dass das Tragen einer Kippa mit möglichen Gefahren verbunden sein kann.
Tanya Yael Raab:
Meine Tochter lebt ihre jüdische Identität. Ich bin sehr stolz, dass sie das einfach so leben kann. Und dass sie mit einer absoluten Selbstverständlichkeit zu allen Leuten auf der Straße Shalom sagt und erzählt, dass wir Chanukka feiern. Sie benutzt die Worte jüdisch und Jude und Jüdin ganz wertfrei. Für sie ist es normal zu sagen: "Ich bin jüdisch und Mama ist auch jüdisch. Papa ist nicht jüdisch, aber der macht trotzdem mit." Das finde ich goldig. Ich mache mir aber Sorgen, dass sie diskriminiert oder mit Antisemitismus konfrontiert wird, dass sie mal hört, wie jemand das Wort "Jude" als Beleidigung benutzt. Das ist mir als Kind selbst passiert und hat viele Ängste ausgelöst. Damals habe ich meine Mutter dafür kritisiert, dass sie mich zu sehr behütet hat und von mir verlangt hat, niemandem zu erzählen, dass wir Juden sind. Heute kann ich sie verstehen. Ich weiß jetzt, wie es ist, sein Kind vor Antisemitismus beschützen zu wollen.

Sharon Adler: Du selbst definierst dich als "liberale Jüdin" und lebst in einer interreligiösen Familienkonstellation. Wie wichtig ist es dir, deiner Tochter jüdische Traditionen mitzugeben und zu leben?
Tanya Yael Raab:
Ob sie sich später für ein religiöses jüdisches Leben entscheidet oder nicht, steht ihr frei, aber ich würde ihr gerne die Möglichkeit geben, die religiösen Traditionen zu erleben und mit ihnen aufzuwachsen. Weil religiöse Tradition auch ein kulturelles Erbe mit sich trägt. Und sich dadurch der jüdischen Community zugehörig zu fühlen.
Ich kenne viele jüdische Menschen, die nicht religiös sind, aber trotzdem Schabbat feiern. Mein Partner ist nicht religiös, nicht jüdisch, und selbst er findet das sehr schön und ist da auch sehr offen. Wir waren zusammen auf einer jüdischen Hochzeit und er hat zum ersten Mal eine Kippa getragen und sie vorher ein paar Tage lang eingetragen, um sich daran zu gewöhnen.
Wir haben ein tolles Kinderbuch, "Lena feiert Pessach mit Alma", meine Tochter liebt es. Bald ist Pessach, und sie erklärt uns: "Dann müssen wir das ganze Brot in eine Schachtel packen. Und dann dürfen wir keine Spaghetti essen und keine Kekse."

Instagramkanal "oy_jewish_mamma"

Sharon Adler: Wann, mit welcher Motivation hast du deinen Instagramkanal "oy_jewish_mamma" ins Leben gerufen?
Tanya Yael Raab:
Die Idee kam in Corona-Zeiten. Ich war in Elternzeit und habe viel Social Media konsumiert und viele Menschen gesehen, die ihren politischen Aktivismus gelebt haben. Ich war vorher auch politisch engagiert, aber eben offline. Politische Bildungsarbeit oder Demokratiebildung konnte ich in Corona-Zeiten nicht machen und habe deswegen angefangen, online über das Thema Antisemitismus und über mein Leben als jüdische Person in Deutschland zu sprechen. Es ging um jüdische Traditionen und wie ich sie in den Alltag einfließen lasse und für mein Kind gestalten möchte. Das waren Themen, mit denen ich mich damals auseinandergesetzt habe. Ich habe aber auch relativ schnell viel Antisemitismus erlebt, obwohl ich mich damals gar nicht politisch positioniert habe. Gleichzeitig bekam ich schnell eine große Follower:innenschaft und merkte, dass das Thema für viele interessant ist und dass es viel Aufklärungs- und Bildungsbedarf gibt. Viele haben keine Berührungspunkte und wissen nichts über jüdisches Leben.

Ich habe es mir ein bisschen zur Aufgabe gemacht, jüdische Positionen sichtbar zu machen. Mein Anspruch war aber nie, nur einen Erklärbär für nichtjüdische Menschen zu geben, sondern auch jüdische Menschen, die einen ähnlichen Background wie ich haben, zu inspirieren. Als ich anfing, mich mit dem jüdischen Glauben auseinanderzusetzen, gab es oft Momente des Sich-nicht-jüdisch-genug-Fühlens. Ich kann halt nicht in eine Synagoge gehen, weil es keine Synagoge bei mir in der Nähe gibt. Bin ich nicht jüdisch genug, wenn ich nicht regelmäßig in die Synagoge gehe? Brauche ich eine jüdische Community um mich herum, um jüdisch zu sein und jüdische Feste zu feiern? Ich habe mir irgendwann gesagt, dass mein Glaube nicht davon abhängt, ob ich regelmäßig in die Synagoge gehe.
Gerade viele jüdische Menschen, die nicht in einer Großstadt, sondern auf dem Land leben, hat das alles angesprochen. Ich habe damals angefangen, eine Kippa zu tragen, als ein starkes Bild von jüdischer Identität. Das hat viele Frauen inspiriert, die – genau wie ich – damit aufgewachsen sind, dass es ein rein männliches Symbol ist. Viele schrieben, nachdem sie gesehen haben, wie sichtbar ich jüdisches Leben lebe: "Ich habe mir meine erste Kette mit Davidstern gekauft. Ich trage zwar keine Kippa, das ist mir zu viel, aber ich möchte ein bisschen mehr jüdische Identität in meinen Alltag bringen." Meine Eltern, die nicht jüdisch leben, habe ich dazu inspiriert, sich mehr mit jüdischen Traditionen auseinanderzusetzen. Meine Mutter und meine Schwester haben in Israel eine Chanukkia gekauft und Chanukka gefeiert.

7. Oktober 2023

Sharon Adler: Was hat sich für dich persönlich nach dem 7. Oktober 2023 verändert? Stellt dieser Tag eine Zäsur für dich dar? Und hast du Antisemitismus in linken, (queer)feministischen Kreisen erlebt?
Tanya Yael Raab:
Israel-Hass und Israel-bezogenen Antisemitismus erlebe ich in meinem persönlichen und beruflichen Leben, seit ich als Aktivistin präsent bin. Das markanteste Erlebnis war ein Poetry-Slam-Auftritt in einem eher linken Space in Potsdam, im Jugend- und Soziokulturzentrum "freiLand", und der Boykottaufruf eines vermeintlich pro-palästinensischen Aktivisten, der dazu aufrief, das freiLand zu canceln, weil man dort einer jüdischen Person eine Bühne geboten hat. Das "freiLand" stellte sich an meine Seite und erteilte ihm Hausverbot. Vor dem 7. Oktober 2023 wurde ich nie körperlich oder verbal angegriffen, obwohl ich mit Kippa auf der Straße unterwegs war. Kurz danach wurde ich im Potsdamer Hauptbahnhof bespuckt und als "Fucking Israeli" bezeichnet. Das Schockierendste an der Situation war, dass niemand eingeschritten ist. Niemand hat mir geholfen. Ich war danach sehr fertig. Das war für mich eine krasse Zäsur.

Ich habe viele Verwandte in Israel, das sind Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine nach Israel geflohen sind und jetzt wieder in einem Krieg leben. Viele leben nicht weit von Gaza entfernt. Wir hatten große Angst um sie und wie es ihnen geht. Ich verstehe die Erwartungshaltung mancher Leute nicht, wonach jemand, der direkt betroffen ist, unparteiisch sein muss. Meine Position als jüdische Person ist natürlich eine Betroffenheitsperspektive. Ich kann nicht neutral darauf blicken. Ich würde auch niemals eine palästinensische Person bitten, einen neutralen Standpunkt zu dem Thema einzunehmen.

Tausende jüdische Menschen wurden ermordet und vergewaltigt, wurden über Nacht zu Freiwild erklärt, aber niemand interessierte sich dafür. Es ist anscheinend okay im Namen eines vermeintlichen Widerstands. Was mich schockiert hat, war das kollektive Schweigen und die Entsolidarisierung. Die Positionierung vieler linker, queer-feministischer Kreise, die all das verteidigt, die Hamas-Propaganda in ihren Storys geteilt oder sich dem komplett entzogen haben.
Ich habe den queer-feministischen, linken Diskurs als einen Diskurs erlebt, der von Nicht-Betroffenen dominiert wird. Von Studierenden, die vorher Gaza noch nicht mal auf einer Karte zeigen konnten. Für die Gaza ihr Selbstverwirklichungsprojekt geworden ist. Die dort keinen Tag überleben könnten, weil die Hamas eine Terrororganisation ist und keine Gruppe von Widerstandskämpfern.
Kurz nach dem 7. Oktober gab es unter meinen Beiträgen Kommentare, in denen die Hamas als die Weiße Rose glorifiziert wurde. Die Hamas steht für alles, was linke, queer-feministische und aufgeklärte Menschen eigentlich verachten müssten. Aber sie haben diesen einen gemeinsamen Nenner gefunden, und das ist der Antisemitismus.
Ich habe Antisemitismus sonst nur von rechts erlebt. In der linken Community habe ich mich als queer-feministische, linke Person immer willkommen gefühlt. Man wurde vielleicht ein bisschen abgewertet, weil man religiös war. Das finden linke Menschen auch nicht immer toll. Aber es war nie so ein Riesenthema. Ich verstehe, warum viele jüdische Menschen sich aus dieser Enttäuschung heraus von diesen Kreisen distanziert haben und sich da nicht mehr wohl fühlen. Mit dem 7. Oktober kam ein Bruch.

Antisemitismus nach dem 7. Oktober 2023 an Hochschulen und Universitäten

Sharon Adler: Wie beurteilst du die Situation für jüdische Studierende? Welche Forderungen hast du an die Universitätsleitungen, an Politik, Justiz, Zivilgesellschaft? Welche Konsequenzen für israelbezogenen Antisemitismus an den Unis sollte es deiner Meinung nach geben?



Tanya Yael Raab:
An der Uni Potsdam saß ich mit Leuten im Seminar, die Anstecker mit durchgestrichenen Davidsternen trugen. Als ich eine Person damit konfrontiert und gefragt habe: "Hast du was gegen Juden?" erhielt ich zur Antwort: "Eigentlich nicht, aber bei dem, was Israel so macht, braucht man sich ja nicht zu wundern, dass man Juden nicht mag." Solche und ähnliche Aussagen höre ich immer wieder. Gerade im akademischen Kontext.
Antisemitische Schmierereien und Sticker waren überall an der Uni. Das hat schon das Gefühl ausgelöst, dass ich als jüdische Person unerwünscht bin und mich als jüdische Person unsicher fühle. Ich habe dann auch aufgehört, auf dem Campus offen jüdisch zu sein und meine Kippa zu tragen. Das ist traurig, denn ich habe die Uni als absoluten Safe Space gesehen. Meine Forderung an die Universitätsleitungen wäre eine konkrete Positionierung gegen Antisemitismus. Man könnte Richtlinien gegen Antisemitismus – auch mit konkreten Handlungsbeispielen – herausgeben, damit es klare Kriterien und konkrete Definitionen gibt. Ich hätte mir auch gewünscht, dass Dozierende, wenn sie solche Anstecker sehen, die Studierenden darauf ansprechen. Ich habe aber das Gefühl, dass es viele nicht wirklich interessiert. Und dass die antisemitischen Sticker und Graffitis konsequent entfernt werden, habe ich auch nicht gesehen. "Fick Juden" oder durchgestrichene Davidsterne hingen ganz groß monatelang in den Toiletten. Die wurden dann von irgendwem übermalt. Nicht von der Uni. So etwas muss geahndet werden und nicht nur als eine Sachbeschädigung.

Bundestagswahl 2025

Sharon Adler: 20,8 Prozent der Wahlberechtigten haben bei der Bundestagswahl 2025 eine offen rechtsgerichtete Partei gewählt. Mit welchen Gedanken schaust du auf diese Situation? Wie lauten deine Forderungen an Politik und Zivilgesellschaft angesichts der Wahlergebnisse?
Tanya Yael Raab:
Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass es nicht reicht, einmal im Jahr "Nie wieder" zu posten. Und dass "Nie wieder" zu einer Floskel geworden ist. Das kritisieren jüdische Leute schon seit Jahren. "Nie wieder" ist für mich jedoch eine konkrete Handlungsaufforderung, die wir historisch in unserer Gesellschaft haben: dass so etwas nie wieder passiert. Es bedeutet, dass wir uns immer und überall gegen Rechtsextremismus und gegen Antisemitismus engagieren müssen. Bei den Wahlergebnissen sehe ich nicht, dass man das verstanden hat. Nicht nur, dass es so viele AfD-Wählende gibt, sondern auch Wählende einer Partei, die dazu bereit ist, Stimmen der AfD in Kauf zu nehmen, um bestimmte Positionen durchzusetzen. Das bricht mit allen Konventionen. Kooperationen zwischen konservativen Parteien und der AfD sehen wir zwar noch nicht auf Bundes-, aber auf kommunaler Ebene. Da müssen wir einfach aufmerksam sein.

Ich finde es faszinierend, wenn Menschen sagen, dass ja "nur zwanzig Prozent die AfD gewählt" haben, dass das "nicht die Mehrheit" ist, während der Diskurs sich extrem nach rechts verschiebt. Die AfD positioniert sich demokratiefeindlich, wird aber trotzdem – genau wie in der Weimarer Republik die NSDAP – auf legalem, demokratischem Weg gewählt. Die Forderungen der AfD sind teilweise nicht konform mit EU-Recht, wie etwa im Fall der Aberkennung von Staatsbürgerschaften und tatsächlicher Remigration. Ihr Ziel ist es, die Grenzen des Sagbaren zu erweitern. Sie möchte Ängste schüren, und sie möchte, dass die Leute – auch etablierte Parteien, wie wir es mit der Migrationsdebatte gesehen haben – auf diesen Zug aufspringen. Wir haben an den Wahlergebnissen gesehen, was passiert, wenn man sich das Wahlkampfthema so dermaßen diktieren lässt. Denn darin ging es nur um das Thema Migration, alle anderen Themen schienen irrelevant. Das Thema Migration bringt nur einer Partei was. Und das ist die AfD.

Mein Wunsch ist, dass wir "Nie wieder" ernst nehmen und als Aufgabe verstehen. Das ist mein Appell: Wir müssen Diskriminierungsformen wie Antisemitismus und Rassismus auch in unserem eigenen Umfeld erkennen, wahrnehmen und uns dann entschieden dagegen aussprechen. Und mit Blick auf diese Wahlergebnisse müssen wir uns alle noch viel mehr für unsere Demokratie einsetzen, weil sie ein fragiles System ist, das davon lebt, dass Menschen sich für sie einsetzen. Indem sie sich politisch engagieren. Ein "Ich interessiere mich nicht für Politik" halte ich für unmöglich.

Zitierweise: Zitierweise: "Interview von Sharon Adler mit Tanya Yael Raab: "Über den Beitrag der jüdischen Kultur in Deutschland muss insgesamt deutlich mehr gesprochen werden", Deutschland Archiv, 26.5.2025, Link: www.bpb.de/562490 (ali).

Dieses Interview ist in der von Sharon Adler (AVIVA-Berlin, Stiftung Zurückgeben) mitherausgegebenen Reihe "Jüdinnen nach 1945. Erinnerungen, Brüche, Perspektiven" im Deutschland Archiv online der bpb erschienen.

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Beitrag vom 29.05.2025

AVIVA-Redaktion