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Beitrag vom 06.07.2023
Elisa Klapheck: "Heute sind wir keine Schicksalsgemeinschaft mehr"
Sharon Adler, Elisa Klapheck
Journalistin, Rabbinerin, Autorin, Professorin. Die Mitbegründerin der jüdisch-feministischen Gruppe "Bet Debora" wurde am 30. Juni 2023 als erste Frau zur Vorsitzenden der Allgemeinen Rabbinerkonferenz gewählt. Im Interview aus dem Jahr 2021 in der Reihe "Jüdinnen nach 1945 in Deutschland. Erinnerungen, Brüche, Perspektiven" im Deutschland Archiv der bpb spricht sie auch über jüdische weibliche Vorbilder wie Regina Jonas, Margarete Susman und Pnina Navé Levinson.
Mit Elisa Klapheck steht zum ersten Mal eine Frau an der Spitze der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschland (ARK). Der neue Vorstand wählte die Frankfurter Rabbinerin in seiner konstituierenden Sitzung einstimmig zur Vorsitzenden, wie die ARK in Berlin mitteilte.
"Die erste Generation danach"
Sharon Adler: Du bist in Deutschland und in den Niederlanden aufgewachsen. Wie hat die Generation deiner Eltern in den 1930er- bis in die 1950er-Jahre gelebt und diese Zeit erlebt, woran haben die Überlebenden angeknüpft?
Elisa Klapheck: Meine Mutter, Lilo Lang, wurde 1935 in Rotterdam geboren und hat mit meiner Großmutter Anita auf einer Odyssee durch Europa, immer wieder in Verstecken überlebt. Sie kam aus einer deutsch-jüdischen Familie, die in den 1930er-Jahren in die Niederlande geflüchtet war. Ein großer Teil der Familie wurde ermordet, mein Großvater David ist in Auschwitz umgekommen. Mein Vater, Konrad Klapheck, war kein Jude. Trotzdem stand auch seine Kindheit im Zeichen eines Überlebens. Seine Eltern waren gegen die Nazis eingestellt. Sein Vater, Richard Klapheck, wurde direkt 1933 als Professor für Kunstgeschichte aus der Kunstakademie in Düsseldorf entlassen und ist wohl auch an diesem Schock 1939 gestorben. Meine Großmutter, Anna Klapheck, ist zusammen mit meinem Vater aus Düsseldorf weggezogen und führte im Erzgebirge eine Art Inkognito-Existenz. 1945 waren meine Eltern beide zehn Jahre alt. In den 1950er-Jahren haben sie sich in Düsseldorf in der Tanzstunde kennengelernt. Es gab in meiner nichtjüdischen Familie eine erstaunlich große Affinität zum Judentum. Mein Vater ist ein berühmter Künstler geworden und später zum Judentum übergetreten. Der Weg dahin war aber irgendwie schon von seinen Eltern vorgeebnet. Und zwar über die Kunst. Für meinen Großvater Richard gehörte die jüdische Kultur ganz wesentlich zur zeitgenössischen Kultur. In diesem Kontext hat er 1913 ein Buch über die Architektur der Alten Synagoge in Essen geschrieben sowie ein Standardwerk über jüdische Baudenkmäler am Niederrhein herausgegeben. Aber auch meine Großmutter setzte jüdische Zeichen. Sie schrieb ein wegweisendes Buch über den heute berühmten Kunstmaler Jankel Adler, der vor der Shoah in Düsseldorf gelebt hatte und mit dem meine Großeltern gut befreundet waren. In meiner Familie war die Kultur der deutsch-jüdischen Symbiose sehr präsent.
Sharon Adler: In welchem Bewusstsein einer jüdischen Identität bist du als Angehörige der Zweiten Generation großgeworden?
Elisa Klapheck: Meine Mutter hat in den 1950er-Jahren das Judentum für sich reklamiert, und sich später, als mein zwei Jahre jüngerer Bruder und ich schon auf der Welt waren, dafür entschieden, es bewusst zu leben und Mitglied der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf zu sein. Juden waren wir jedoch nicht so sehr im religiösen, sondern in einem kulturellen Sinne. Das Religiöse war da, aber es spielte nicht die übergeordnete Rolle. Mein Vater hat es sehr unterstützt, dass wir jüdisch aufwachsen und konnte auch als Künstler dazu beitragen. Kafka und Mahler, das waren zwei große Namen, die bei uns eine Rolle spielten, und dann eine ganze Reihe moderner jüdischer Künstler*innen und Kunsthändler*innen, die auch die Düsseldorfer Kunstszene mitprägten, zum Beispiel der Eat-Art-Künstler Daniel Spoerri, der gerade wieder entdeckt wird. Oder die Galeristin Ileana Sonnabend aus New York, die auf der Suche nach Pop-Art-Künstlern in Deutschland war und meine Eltern besuchte. In der Verbindung mit diesem Umfeld erlebte meine Mutter, die sich immer und überall als Außenseiterin sah, eine Art Zugehörigkeit. Und das hat auch die erste jüdische Identität von meinem Bruder und mir geprägt. Ein bewusstes Außenseiter*innentum, das trotzdem, am Puls der Zeit, mit moderner Kunst die Gegenwart mitbestimmt. Außenseiter*in zu sein, bedeutete für uns einen positiven Status.
Schicksalsgemeinschaft
Die Jüdische Gemeinde Düsseldorf war in den 1960er-Jahren vor allem eine Schicksalsgemeinschaft von Überlebenden der Shoah und Menschen drumherum, die das Trauma der Überlebenden verstehen konnten, darunter auch mein Vater, der in der Gemeinde voll akzeptiert war. Zur Bar Mitzwa meines Bruders, David, der den Namen meines ermordeten Großvaters trägt, gab es ein großes Fest. Meine Mutter war an diesem Tag die Königin in der Synagoge, als sie oben auf der Frauenempore saß und während des Toravortrags meines Bruders ihre ganze Genugtuung verströmte. Ich konnte spüren, dass das für sie das Ende der Shoah bedeutete: ihr Sohn, der heute Bar Mitzwa wird. So intensiv haben wir das in der Zeit gefühlt.
Ich war zehn oder elf Jahre alt, als ich erfahren habe, was damals passiert ist. Bei einem Streit habe ich meinen Bruder geohrfeigt, woraufhin meine Mutter entsetzt ausrief: "Elisa, du schlägst den Schwächeren? Wie ein SS-Mann!". Das ist natürlich eine fürchterliche Aussage gegenüber einem Kind. Aber von meiner Mutter, die ihre ersten zehn Lebensjahre nur unter den Bedingungen der Verfolgung gelebt hatte und bis zu ihrem 11. Lebensjahr so gut wie nicht in die Schule gehen konnte, war keine ausgewogene Elternpädagogik zu erwarten. Es muss für sie nicht einfach gewesen sein zu erleben, wie ich, ein Mädchen mit viel Selbstbewusstsein, unbeschwert aufwuchs, wo ihr das alles verwehrt gewesen und der von ihr vergötterte Vater ermordet worden war. So interpretiere ich heute diese Initialsituation. Jedenfalls riss sie mich zu einem Bücherschrank in unserer Wohnung, worin sich Bücher befanden wie "Der gelbe Stern", "Faschismus, Getto, Massenmord", "Macht ohne Moral", die damaligen einschlägigen Dokumentationsbände. Da habe ich zum ersten Mal diese Bilder der Haufen ermordeter Menschen und der Konzentrationslager gesehen. Ein traumatischer Moment. Meine Mutter war selber entsetzt über ihren Reflex ihrem Kind gegenüber und hat mir dann verboten, nochmal an den Bücherschrank zu gehen. Ich sei noch zu klein, um das zu verstehen.
Ich bin dann aber immer wieder heimlich nicht nur an diesen Bücherschrank, sondern auch an ihren Schreibtisch gegangen, wo ich Dokumente über ihre, meine umgebrachte Familie entdeckte, auch Briefe meiner Großeltern aus der Zeit und habe alles gelesen. Ich bekam davon fürchterliche Albträume. Mein Problem war lange, dass ich darüber nicht mit meinen Eltern reden konnte, weil es mir ja verboten war, an diesen Schrank und an den Schreibtisch meiner Mutter zu gehen. In dieser Zeit entstand bei mir die Identität der Zweiten Generation, der Kinder der Überlebenden. So habe ich damals mein jüdisches Leben verstanden. Meine Mutter hatte überlebt, war child survivor, und mein Vater unterstützte sie darin, weiterzuleben. Und auch mein Bruder und ich unterstützen sie, indem wir Juden sind. Dieses Gefühl hatte nichts mit dem geistigen Erbe des deutschen Judentums meiner Vorfahren zu tun. Es hatte keine positive Substanz, außer das reine Überleben angesichts des Traumas.
Das deutsche Judentum, dessen Bedeutung ich ohnehin erst sehr viel später ermessen lernte, war unwiederbringlich untergegangen. Aber wir waren trotzdem noch da. So habe ich uns als Schicksalsgemeinschaft empfunden, auch in der Jüdischen Gemeinde in Düsseldorf. Das war bei allen Kindern so. Wir haben nie darüber gesprochen, wo unsere Eltern während der Nazizeit waren und wie sie überlebt hatten, das war kein Thema. Aber ich spürte, dass wir alle einen solchen ersten traumatischen Moment hatten, als wir erfuhren, was geschehen war. Als im jüdischen Jugendzentrum ein Film gezeigt wurde, in dem auch das Konzentrationslager Buchenwald vorkam, sagte ein sehr stiller Junge, dessen Vater Auschwitz überlebt hatte: "Mein Vater hat mir gesagt, Buchenwald war ein Sanatorium im Vergleich zu Auschwitz." Dann war das plötzlich da, als eine Realität, die wir kannten, ohne selbst dort gewesen zu sein.
Im Religionsunterricht gab es ein paar gleichaltrige Kinder aus Israel, deren Eltern oder ein Elternteil nach Deutschland zurückgekehrt waren. Die Kinder sprachen untereinander ausschließlich Iwrit und redeten immer darüber, dass sie so schnell wie möglich wieder nach Israel zurückgehen wollten. Das war damals der positive Orientierungspunkt der Staat Israel, und dass man dahin gehen würde. Gleichzeitig habe ich empfunden, dass es auch uns hier gibt, die Anderen, die bleiben werden.
Sharon Adler: Welche Erfahrungen hast du als jüdisches Kind auf einer nicht-jüdischen Schule gemacht?
Elisa Klapheck: Ich war sehr extrovertiert, auch etwas altklug, und habe oft im Unterricht Aufmerksamkeit für die Shoah eingefordert. Auf die Frage einer Lehrerin nach der Religion der Kinder – es ging um evangelisch oder katholisch - antwortete ich nicht einfach, dass ich "jüdisch" bin, sondern "mosaisch". Ich habe quasi versucht, mich ein bisschen eloquenter auszudrücken. Die Lehrerin konnte mit diesem "Affront" überhaupt nicht umgehen. Als ich später mit einem anderen Mädchen im Unterricht "schwätzte", sagte die Lehrerin: "Und du Mosain hältst jetzt den Mund." Später erzählte diese Lehrerin ganz offen, sie habe Hitler gewählt. Sie war schon älter und sehr religiös. Hitler sei anfangs der Messias gewesen, doch G´tt nehme einem wieder die Kraft weg, wenn man sie missbraucht, Hitler habe seine Kraft missbraucht. Das habe ich zuhause meinen Eltern erzählt und meine Mutter ist daraufhin sofort zur Schule gegangen. Es war nicht das einzige Mal. Ich habe diese Situation sehr ambivalent erlebt und bin immer noch fassungslos, dass es solche Situationen in den 70er-Jahren gab. Zum Schuljahresbeginn, wenn wir eine neue Lehrerin bekamen, erschien es mir, als hätte die Vorgängerin ihr eine Art Warnung gesagt: "In dieser Klasse gibt es in jüdisches Kind. Passen Sie auf, was Sie sagen."
Als einziges jüdisches Kind in meiner Klasse und mit der besonderen Konstellation in meiner Familie empfand ich so etwas wie ein selbstbewusstes Außenseitertum. Unter den Schülerinnen war ich jedoch eher unbeliebt. Aber für meine Mitschülerinnen war es auch nicht einfach. Ich glaube nicht, dass denen zu Hause etwas über die Shoah erzählt wurde und ich teilte das immer wieder konfrontativ mit. Ich hatte eine Freundin, die einen nichtdeutschen Vater hatte. Meine Mutter hat mir später erzählt, dass er Kollaborateur war, vielleicht sogar ein SS-Mann, und nicht mehr in sein Land zurückkehren durfte. Dieses Mädchen, seine Tochter, hat ausgerechnet die Nähe zu mir gesucht und mit ihr war ich befreundet. Diese Kindheit war schon sehr verquast.
(Jüdische) Bildung
Ich komme aus einer Familie, wo Bildung übermäßig und in jeder Hinsicht eine Rolle spielt. Auch, dass die Frauen Abitur machen und studieren. Es war völlig klar, dass ich auf das Gymnasium gehen soll. Zuhause wurden Bestnoten eingefordert. Schon bei der kleinsten Regung eines Interesses förderten mich meine Eltern mit entsprechenden Bildungsangeboten. Kunstbände, moderne Literatur, Klavierspielen. Mit 13 wurde ich auf ein internationales Internat geschickt, wo Bildung in einem klassischen Sinne stattfand, allerdings weniger darin, dass ich selber meinen eigenen Bildungsweg gehen hätte gehen können. Die jüdische Bildung, der Religionsunterricht in der Jüdischen Gemeinde hatten mich ganz und gar nicht überzeugt. Nicht umsonst habe ich mich erst Jahre später auf diesen Gebieten selbst gebildet. Ich hatte zwar eine tolle Religionslehrerin, Shoshana Rosèn, aber es wurde eine orthodoxe Vorstellung weitergegeben, die nicht treffend für das war, was mich hätte interessieren können.
"Heimkehren nach Deutschland" und "die innere Verbindung zwischen Judentum und Politik"
Sharon Adler: Du bist 1989, nur wenige Stunden vor der Öffnung der innerdeutschen Grenzen, nach einem mehrmonatigen Aufenthalt aus Israel nach Berlin zurückgekehrt und hast in der Folge als Journalistin vielfach über den Öffnungsprozess der ehemaligen Ostblockstaaten publiziert, besonders mit Blick auf das dortige jüdische Leben. Konntest du dadurch auch an die Geschichte des europäischen Judentums neu anknüpfen?
Elisa Klapheck: Ja, das war auch für mich die Wende in meinem Leben. Auf einmal machte alles Sinn. Auch das, was ich in Düsseldorf erlebt hatte. Wir waren ja alle Kinder von Überlebenden oder die Überlebenden selbst. Ich hatte eigentlich gedacht, ich würde Alija nach Israel machen, habe aber dort festgestellt, dass ich doch deutsche Jüdin bin, dass ich nach Deutschland zurückmuss. Und als ich aus Israel nach Deutschland zurückkam, geschah der Mauerfall. Als Journalistin bin ich dann in all diese Länder gefahren, wo die Juden und Jüdinnen herkamen, die ich in meiner Kindheit erlebt hatte. Meine erste Reise ging nach Riga, ins Baltikum. Ich hatte dort permanent das Gefühl, schonmal da gewesen zu sein, denn ich kannte alte Damen auf der Frauenempore in der Jüdischen Gemeinde in Düsseldorf, die dort vor der Shoah gelebt hatten. Und so habe ich all diese Orte, Lettland, Litauen, Polen, die Bukowina, Czernowitz, Odessa, Rumänien, Moldawien – Bessarabien hieß das damals noch in meiner Kindheit – Galizien, die Westukraine, aber auch die Ostukraine, kennengelernt. Da wusste ich, meine Aufgabe ist es, hier den Kontext zu schaffen und damit auch an die Idee des europäischen Judentums anzuknüpfen. Das wurde zu meinem Weg.
Ich hatte längere Zeit bei der taz gearbeitet, aber habe dann den Job gewechselt und wurde Fernsehjournalistin bei der Deutsche Welle und habe auf der neuen Arbeitsstelle erstmal Niemandem gesagt, dass ich Jüdin bin. Ich wollte mich kennenlernen, wer ich wäre, wenn ich das Jüdische nicht hätte. Ich bin aber in all diese Gegenden gefahren und habe überall Reportagen gemacht. In dieser Zeit habe ich mich neu sortiert. Und dadurch entstand meine Vorstellung, die Identität der Zweiten Generation hinter mir zu lassen, und in etwas überzugehen, das ich heute als "erste Generation ‚danach´" bezeichne – eine Generation, die noch einmal positiv neu ansetzt.
Egalitärer Minjan und die Gründung und der Gedanke von Bet Debora
Sharon Adler: Wann und wodurch hast du Lara Dämmig, mit der du später Bet Debora ins Leben gerufen hast, kennengelernt?
Elisa Klapheck: In der Zeit vor dem Mauerfall, als ich noch stark in diesem Gefühl der Zweiten Generation lebte, bin ich mehrfach inkognito für die taz nach Ostberlin gefahren, um Reportagen über das dortige jüdische Leben zu schreiben. Einmal bin ich am Schabbat in die Synagoge Rykestraße zum G´ttesdienst gegangen. Es gab nur noch einen Platz in der ersten Reihe und dort habe ich mich hingesetzt. Neben mir saß Lara, eine Frau in meinem Alter, die erstmal sehr distanziert zu mir war. Ich fragte, ob ich mit in ihren Siddur schauen dürfte. Ich durfte meinen ja nicht vom Westen in den Osten über die Grenze mitnehmen beziehungsweise hatte Angst, dass dieser mir abgenommen würde. So haben wir uns kennengelernt. Nachdem die Mauer gefallen war, sah ich sie wieder. Sie erzählte mir, dass ein Egalitärer Minjan gegründet werden soll, wo Männer und Frauen gleichberechtigt sind. Dieser Initiative habe ich mich sofort angeschlossen. Wir haben uns dann bei privaten Treffen am Schabbat nach und nach die Tradition erschlossen. Damals habe ich auch zum ersten Mal einen Tallit getragen. Wir experimentierten. Der Egalitäre Minjan ging irgendwann in die Synagoge Oranienburger Straße über. Bei Lara zuhause traf sich damals auch eine Rosch Chodesch Gruppe. In diesem Rahmen lasen wir zu Schawuot das Buch Ruth und diskutierten über die feministischen Aspekte der Erzählung, als Lara uns eine Meldung aus der Gemeindezeitung vorlas. Diese besagte, dass nach einer neuen Satzung für die Vorstände der Berliner Synagogen nur Männer gewählt werden dürfen. Wir waren empört. Gleichzeitig aber wussten wir, dass das genau der richtige Anlass war, um uns jetzt zu zeigen.
Wir machten also eine Unterschriftenaktion in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und verlangten eine Änderung der Satzung, nämlich dass die Synagogen selbst entscheiden können, ob sie nur Männer als "Gabbaim" (Synagogenvorstand) haben wollen, oder ob sie, wie wir in der egalitären Synagoge Oranienburger Straße, auch Frauen als "Gabbait" zulassen würden. Die Aktion war ein voller Erfolg. In kürzester Zeit hatten wir mehr als einhundert Unterschriften. Unterschrieben haben die WIZO-Frauen und die Frauen in der Sozialabteilung und alle anderen. Es war eine tolle Zeit. Dann wurden wir vom damaligen Vorstand eingeladen, der uns mitteilte, dass die Satzung für diese Wahl erst einmal so bliebe, jedoch danach überarbeitet werde. Aber wir waren nun bekannt, und man wusste jetzt, dass es in der Jüdischen Gemeinde Frauen gibt, die bereit sind, für die Frauenrechte laut zu werden. Damit war das Thema gesetzt.
Mit dieser Aktion gab es jetzt außerdem Frauen, die bereit waren, sich noch stärker für mehr religiöse Gleichberechtigung zu engagieren. So kam die Idee einer europaweiten Tagung für Rabbinerinnen, Kantorinnen und rabbinisch gelehrte Jüdinnen und Juden auf.
1999 die erste Bet Debora-Tagung europäischer Rabbinerinnen, Kantorinnen, rabbinisch gelehrter und interessierter Jüdinnen und Juden
Sharon Adler: Was waren die großen Herausforderungen in der Planung?
Elisa Klapheck: Ich war seit Ende 1997 Pressesprecherin der Jüdischen Gemeinde und erzählte meinem dortigen Chef, Andreas Nachama, der im selben Jahr Vorsitzender geworden war, von dem Vorhaben. Er sagte mir seine Unterstützung zu, fragte aber auch, wen wir eigentlich einladen wollten, schließlich gäbe es doch gar keine Rabbinerinnen in Europa. Es war tatsächlich nur ein Traum. Wen würden wir einladen? Es gab seit 1995 mit Bea Wyler in der Jüdischen Gemeinde Oldenburg eine erste Rabbinerin in Deutschland nach der Shoah. Sie kam aus der Schweiz, hatte am Jewish Theological Seminary in New York studiert. Außerdem wussten wir, dass es in England, im liberalen Judentum, ein paar Rabbinerinnen geben musste. Wir begannen zu recherchieren und erfuhren von einer Rabbinerin in Budapest, Katalin Kelemen, von Pauline Bèbe, einer Reformrabbinerin in Paris, und von einer Rabbinatsstudentin in Prag, Katka Novotna. In Minsk amtierte eine Rabbinerin, Nelly Kogan.
In vielen Städten, sowohl in Westeuropa als auch in Osteuropa hatten sich kleine jüdisch-liberale Gruppen und Gemeinden gebildet, in denen Frauen gleichberechtigt die Tradition ausübten. Es war ein gesamteuropäisches Phänomen. Aus ihm gingen diese "ersten" Rabbinerinnen hervor. Außerdem nahmen wir Kontakt auf mit den Rabbinerinnen Sybil Sheridan, Elizabeth Tikvah Sarah und Sylvia Rothschild in Großbritannien. Dort hatte sich das liberale Judentum ungebrochen weiterentwickeln können. Schließlich hatten wir 20 Namen von Referentinnen, die wir einladen konnten.
Es war ein Mammutakt, das Ganze zu stemmen. Wir haben bei verschiedenen Stellen Gelder beantragt, zwei Wochen vor der Tagung wussten wir immer noch nicht, ob das klappt. Dann kamen 200 Frauen und Männer aus 16 europäischen Ländern. Es war ein unglaubliches Ereignis. Ich habe vier Tage fast nur geweint, so sehr hat mich dieses Aussteigen aus dem Schatten der Shoah und der Neuanfang berührt. Das berührt mich noch heute, das war ein gewaltiger Aufbruch. Wir haben noch eine zweite und eine dritte Tagung in Berlin gemacht. Danach ist Bet Debora "gewandert" – nach Budapest, Wien, Sofia, Belgrad und in die Nähe von London. Circa alle zwei Jahre gibt es in einer europäischen Stadt eine Bet-Debora-Tagung.
Sharon Adler: Wie kam es zur Gründung von Bet Debora, was waren eure Motive für die Gründung, die Ziele, der Traum dahinter?
Elisa Klapheck: Ich glaube, das war sehr unterschiedlich. Natürlich wollten wir den jüdischen Frauen in diesem werdenden Europa eine Sichtbarkeit und Stimme geben. Mein Traum war es, gelehrte jüdische Frauen zusammenzubringen. Eine Vision, in der ein europäisches Judentum gerade auch von einer weiblichen Intellektualität und Gelehrsamkeit mitgestaltet wird. Wir haben bewusst einen Proporz gehalten, genauso viele Teilnehmerinnen aus osteuropäischen wie aus westeuropäischen Ländern eingeladen. Auch war uns der Austausch zwischen den Generationen wichtig. Wir haben bewusst auch ältere Frauen, die vor der Shoah in religiöser Hinsicht Zeichen setzten, eingeladen, zum Beispiel eine Frau aus Israel, die früher in Berlin Jugendg´ttesdienste geleitet hatte.
Auf Dauer traten aber auch Konfliktlinien hervor. Ich hätte mir für Berlin etwas Vergleichbares wie die "Jewish women´s studies" an der Brandeis University in Amerika gewünscht. Aber es wurden eher die Fragen diskutiert, ob Bet Debora intellektuell rabbinisch und religiös sein soll oder mehr säkular. Für mich gibt es da keinen Konflikt, ich wollte beides zusammen denken. Trotzdem gab es unter manchen die Tendenz, nicht "zu" religiös zu werden. Auch wollte ich mehr einen größeren Push in Richtung einer feministisch-politischen Theologie, die auch europäisches Judentum thematisiert. Andere wollten mehr unsere persönlichen Biographien würdigen. Wahrscheinlich ist auch das kein Widerspruch. Aber es war halt auch immer die Frage da, ob wir groß sein wollen oder eher eine kleinere Gruppe, wo wir einen geschützten Raum bilden. Ich bin dann irgendwann ausgestiegen.
Ich wollte Rabbinerin werden, einen Weg gehen und auch etwas erreichen. Ich habe auch keine Angst, über Fragen der Macht zu reden. Wie kommen Frauen an die Macht? Wenn du Vorsitzende einer Gemeinde wirst oder auch, wenn du Rabbinerin in einer Gemeinde bist oder in anderen solchen Positionen, dann bist du immer mit der Frage konfrontiert: Wie gehst du als Frau damit um? Was verändert das? Über solche Dinge wollte ich reden können. Aber, wie gesagt, da gab es andere Kräfte, die Macht als etwas grundsätzlich zu Hinterfragendes ansahen. Heute bin ich gerade wieder dabei, mich dem Thema "jüdischer Feminismus" zuzuwenden.
Sharon Adler: In dieser Zeit wurdest du auf die weltweit erste Rabbinerin, Regina Jonas, aufmerksam. Wie kam das?
Elisa Klapheck: Als 1972 Sally Priesand in den USA als angeblich erste Rabbinerin gefeiert wurde, war Regina Jonas schon lange in Vergessenheit geraten. Die jüdischen Zeitzeug*innen haben nicht über sie gesprochen, auch Rabbiner Nathan Peter Levinson nicht, der sie aus seiner Zeit in Berlin an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums kannte und während meines Politologiestudiums in Hamburg dortiger Gemeinderabbiner war. Der Nachlass von Regina Jonas wurde von einer protestantischen Theologin, Katharina von Kellenbach, nach der Öffnung der Mauer in einem Archiv in Coswig in Ostdeutschland entdeckt. Das sagt alles. Niemand der Überlebenden hat uns erzählt, dass es schon mal eine Rabbinerin und eine jüdische Frauenbewegung und zahlreiche Vordenkerinnen gab. Das wurde uns in den 1960er-, -70er- und -80er-Jahren vorenthalten. Das wäre die jüdische Bildung gewesen, die mich interessiert hätte.
Im Rahmen der Vorbereitung der Bet-Debora-Tagung habe ich dann Hermann Simon angerufen und gefragt, ob jemand aktuell am Nachlass von Regina Jonas arbeite und ein Buch über sie schreibt. Ich wusste von Katharina von Kellenbach. Ich wusste auch, dass sich inzwischen einige rabbinisch gesehen gut bewanderte jüdische Frauen wie Rachel Monika Herwig oder Pnina Navè Levinson mit Regina Jonas beschäftigt hatten. Er sagte mir jedoch bei diesem Telefongespräch, dass all seine Bemühungen, eine geeignete Autorin zu finden, nicht gefruchtet haben. Und dann fragte er mich unvermittelt, ob ich dieses Buch schreiben wolle. Nach einer gespannten Sekunde des Schweigens sagte ich Ja. Das wurde natürlich zu einem Wendepunkt in meinem Leben.
Als ich im Archiv des Centrum Judaicum Regina Jonas´ halachische, also religionsgesetzliche Abschlussarbeit "Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?", in der sie begründet, warum Frauen Rabbinerinnen sein können, in der Hand hielt, war das ein für mich sehr bewegender Moment. Dass ausgerechnet ich eine Biografie über sie schreiben durfte. Dass ich versuchen würde, alle noch lebenden Zeitzeug*innen zu finden und zu interviewen, und dass ich ihre Arbeit edieren und herausgeben würde. Es war wie eine unmittelbare Begegnung mit Regina Jonas selbst, als hätte mich in diesem Moment ihre Botschaft an meine Generation jüdischer Frauen erreicht. Es wurde dann aber harte Arbeit. Tagsüber war ich als Pressesprecherin in meinem Büro in der Jüdischen Gemeinde tätig, nachts arbeitete ich zuhause an dem Buch.
Sharon Adler: Wann und wodurch entstand im Zuge deiner Arbeit zu Regina Jonas der Wunsch, selbst Rabbinerin zu werden?
Elisa Klapheck: Aus der Frage "Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?" wurde zunehmend die Frage, kannst du das rabbinische Amt bekleiden? Ich hatte seit meiner Studentinnenzeit mit einer Gruppe von jüdischen Freundinnen hobbymäßig die Tora gelesen, auf Hebräisch, und auch kommentiert, sodass ich eine eigene Einstellung zu den biblischen und rabbinischen Schriften gewonnen hatte. Erst, als ich an dem Buch über Regina Jonas arbeitete, wurde ich mir plötzlich meiner eigenen Verantwortung bewusst. Es reicht nicht, eine Erneuerung im Judentum nur zu fordern. Man muss es selbst tun. Und Journalistinnen gab es viele, auch jüdische Journalistinnen. Aber Rabbinerinnen gab es viel zu wenige. Und dann habe ich beschlossen, Rabbinerin zu werden. Damals lernte ich eine Dekanin eines amerikanischen Rabbinerseminars in Deutschland kennen, die gerade in Berlin war und die mich dann mehr oder weniger gleich angemeldet hat. Da wurde mir klar: Alea iacta est der Würfel ist gefallen. Es gibt kein Zurück mehr. Du wirst Rabbinerin.
Damals habe ich mir viele Fragen gestellt: Bin ich religiös genug? Wie wichtig sind die Kaschrut für mich? Und halte ich den Schabbat auch so, wie man sich das im Judentum vorstellt? Ich beschloss, das hinter mir zu lassen, und sagte mir: Das wird sich jetzt zeigen. Du wirst jetzt Frage für Frage für dich klären. Das bedeutete auch, dass ich mich ab jetzt ganz auf die Frage nach der möglichen Rolle der Religion in meiner Generation einlassen würde.
Sharon Adler: Du hast eine mehrjährige Ausbildung am Aleph-Rabbiner-Seminar absolviert. Was zeichnet diese Bewegung aus?
Elisa Klapheck: Die Aleph-Ausbildung ist aus der amerikanisch-jüdischen "Renewal"-Bewegung hervorgegangen, die eine Erneuerung im Judentum anstrebt. Sie ist keine Denomination, also nicht liberal oder orthodox, sondern bemüht sich um neue Zugänge zur jüdischen Tradition, gerade auch zu solchen Teilen, die in den vergangenen zwei Jahrhunderten als überholt galten. Mystik und Chassidismus spielen eine wichtige Rolle, aber auch die Halacha, das jüdische Religionsgesetz und jüdische Philosophie.
Rabbinerin Regina Jonas, Philosophin Margarete Susman und Judaistin Pnina Navé Levinson. Vorbilder und Wegbereiterinnen
Sharon Adler: Welche Bedeutung haben diese drei Frauen in deinem Leben? Was verbindet sie? Wie haben sie dich beeinflusst und inspiriert und warum sind ihre Lehren auch heute noch so wichtig für dich?
Elisa Klapheck: Ganz klar hat jede Einzelne für mich eine Lehrerinnen-Funktion. Pnina Navè Levinson war nach der Shoah die erste jüdische Feministin in Deutschland. Sie hat feministische Kommentare für die Jüdische Allgemeine geschrieben und Bücher über jüdisch-feministische Themen veröffentlicht. Auch war sie im jüdisch-christlichen Dialog engagiert. Und sie hatte die Idee für die Gründung der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg – zusammen mit ihrem Mann, Rabbiner Nathan Peter Levinson. Sie haben das zusammen angeschoben. Er ist heute bekannt. Aber über sie spricht kaum jemand, sie ist fast vergessen. Deswegen habe ich mein Seminar auch nach ihr benannt. Ich habe sie erst in den späten 1990er-Jahren kennengelernt. Wir hatten beide dieselbe Lehrerin: Regina Jonas. Pnina kannte sie noch persönlich. Sie war ihre Schülerin und hatte bei ihr in den 30er-Jahren in Berlin Religionsunterricht. Pnina ist also der Missing Link in der Generationenkette zwischen Regina Jonas und meiner Generation. Sie hat mich außerdem ermuntert, das Buch über Regina Jonas zu schreiben.
Ich habe anhand der Beschäftigung mit Jonas halachischer Arbeit, ob Frauen Rabbinerin sein können, die rabbinisch-systematische Argumentation gelernt. Hierfür musste ich tief in die rabbinische Literatur, den Talmud und die Kodizes wie den Schulchan Aruch einsteigen. Das war eine Art rabbinisches Vorstudium. Ich lernte von Regina Jonas, den traditionellen Umgang mit der Halacha auf eine ganz neue Frage in meiner Zeit, die Gleichberechtigung der Frau, zu beziehen.
Während meiner Zeit als Rabbinerin bei der progressiven Gemeinde "Beit Ha´Chidush" in Amsterdam habe ich mich dann zeitgleich dem Werk der Religionsphilosophin Margarete Susman zugewandt, um eine Dissertation über sie zu schreiben. Es war aus meinem Politologiestudium noch etwas uneingelöst geblieben: die Beschäftigung mit dem inneren Zusammenhang zwischen politischer Philosophie und jüdischer Religion. Den hat mir Margarete Susman geboten. Auch sie gehört zu den wichtigen religiösen jüdischen Denkerinnen, die ungerechterweise vergessen waren. Meine Stelle in Amsterdam war nur eine Teilzeitstelle. Während des freien Teils beschäftige ich mich mit den Schriften von Margarete Susman. Sie hatte eine eigene Art, das Politische religiös zu verstehen. Für sie war zum Beispiel Sühne, in Hebräisch Teschuwa, eine revolutionäre Handlung – wie ja auch "revolvere" und Umkehr zusammenhängen. Das war für mich ein spektakulärer Gedanke, den ich gerne an Jom Kippur einbrachte: Sühne, Umkehr, nicht als Buße oder Strafe gedacht, sondern als ein positives Gebot, um die Welt zum Besseren zu verändern. Einmal im Monat fuhr ich von Amsterdam nach Frankfurt. Seit meiner Ordination zur Rabbinerin 2004 lud mich der Egalitäre Minjan in Frankfurt regelmäßig ein, einen Schabbat-G´ttesdienst zu leiten und Schiurim zu halten. Diese Wochenenden weitete ich mit der Zeit immer mehr aus, mietete sogar eine Wohnung, um ungestört meine Dissertation schreiben zu können.
2009 bin ich dann endgültig nach Frankfurt gezogen. Es ist die ideale Stadt, um sich mit Margarete Susman zu beschäftigen – die Stadt der Frankfurter Schule und des Lehrhauses von Frank Rosenzweig. Hier war auch Margarete Susman tätig, schrieb große religionsphilosophische Feuilletons für die Frankfurter Zeitung, hielt Vorträge über jüdische Themen, über das Politische im Religiösen sowie auch über das geistige Potenzial der Frau. Sie gehörte zur Jüdischen Renaissance und wurde – ähnlich wie Regina Jonas zu meiner rabbinischen Lehrerin – zu meiner Philosophielehrerin. Ich habe mich wegen Susman intensiv mit der jüdischen Religionsphilosophie auseinandergesetzt und habe so die jüdische Renaissance erst richtig ermessen gelernt. Sie ist immer noch eine wichtige Inspirationsquelle, vielleicht sogar eine Grundlage für eine heutige religiöse Wiederbelebung des Judentums. Für mich ist ein solches Neuerwägen der Ideen von damals sehr wichtig. Und dafür war Susman exakt die richtige Lehrerin für mich. Obwohl sie schon seit 1966 tot ist. Sie hatte die Shoah in der Schweiz überlebt.
Alle drei – Regina Jonas, Pnina Navè Levinson und Margarete Susman – haben mir eine Sicht für das "Danach" ermöglicht, mit jüdischen Inhalten, die über den Abgrund der Shoah hinaus weiterwirken und von meiner Generation wieder aufgegriffen werden konnten. Jetzt, da ich das alles im Zeitraffer erzähle, erkenne ich im Rückblick aber auch, dass ich mir mithilfe dieser drei gelehrten Frauen das geistige deutsche Judentum, aus dem ich ja selber stamme, aber das mir im jüdischen Unterricht nicht vermittelt wurde, selbständig erschlossen habe. Ich bin selbst darüber erstaunt, hierzu immer genau die richtige jüdische Gelehrte als Inspiration für die jeweilige Auseinandersetzung gefunden zu haben.
Nach der Doktorarbeit über Margarete Susman erhielt mein Leben noch einmal einen neuen Schub. Mit dem erworbenen Doktortitel wurde ich auf einmal zu lauter Lehraufträgen an Universitäten eingeladen, unter anderem nach Frankfurt und dann irgendwann auch nach Paderborn. Dort, am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften, sollte eine Professur für Jüdische Studien eingerichtet werden. Auf die habe ich mich beworben, und plötzlich war ich Professorin. Mit 54 Jahren. Deswegen kann ich nur jeder Frau, egal welchen Alters, raten, sich alles zuzutrauen. Es gibt keinen Grund, es nicht zu schaffen. G´tt spielt mit. Das heißt allerdings nicht, dass Frauen deshalb denselben Platz wie Männer erreichen. Die gläserne Decke ist ebenfalls eine Erfahrung, die ich sehr gut kenne.
Jüdischer Feminismus zwischen Tradition und Moderne
Sharon Adler: Seit 2021 gibt es am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften (ZeKK) der Universität Paderborn, wo du die Professur für Jüdische Studien innehast, das "Pnina Navè Levinson Seminar für Jüdische Studien". Die Gründung geht auf deine Initiative zurück. Was hat dich dazu bewogen, und was soll gelehrt und diskutiert werden? Was ist geplant?
Elisa Klapheck: Es ist für mich vor allem ein Ort interessanter Begegnungen und des Austauschs. Ich war ja all die Jahre ausschließlich in einer jüdischen Welt unterwegs. Jetzt habe ich Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Theologien, auch dem Islam, und frage nach einer möglichen Rolle des Jüdischen für diese Theologien – und sehe gleichzeitig, dass auch das Judentum nur im größeren Kontext zu verstehen ist, dass also keine Religion für sich alleine steht, sondern jede auch Elemente der anderen in sich trägt. Aber auch der Austausch mit den nichttheologischen Kolleginnen ist mir wichtig. Es gibt dort ein interessantes Zentrum für Geschlechterstudien, und ich veranstalte gerade eine Ringvorlesung über jüdische Religion, Feminismus und Gender-Studien. Diese findet im Rahmen meiner Reihe "Judentum am Dienstag" statt. Es um die Fragen wie: Welche eigenen Anstöße bieten die jüdische Tradition, die jüdisch-feministische Theologie und auch die politische Tradition des Judentums für die Genderdebatte heute? Was bedeutet queeres Judentum? Ist Diversity ein Ansatz für Diskurse über religiöse Wirklichkeit? Dazu soll auch ein Buch erscheinen.
Ein weiterer Schwerpunkt wird sein, wie die jüdische Religion im europäischen Kontext stärker ihre politische und säkulare Seite formulieren kann und muss. Es geht um die Frage, inwiefern die Bibel und die rabbinische Literatur vergleichbare Quellen des Rechtsstaates und der Demokratie sind, wie die griechischen und römischen Schriften. Auch das ist noch ein Anliegen aus meinem früheren Politologiestudium. Mich hat immer auch die politische Seite der jüdischen Tradition interessiert. Auch mein jüdischer Feminismus ist letztlich eine Folge dieses Interesses. Meine politischen Werte sind unmittelbar verbunden mit meinen religiösen. So ist zum Beispiel Emanzipation für mich ein religiöser Wert, sogar eine religiöse Pflicht. Mit dem Exodus aus der Sklaverei, den das zweite Buch Mose beschreibt und den wir an Pessach feiern, haben wir nicht nur ein Recht auf Freiheit, sondern eine Pflicht zur Freiheit. Das ist gerade heute, da die Demokratie gefährdet ist, von erneuter Aktualität. Solchen Themen versuche ich in meiner Schriftenreihe "Machloket / Streitschriften" Raum zu geben.
Auch auf anderen Feldern versuche ich, heutige gesellschaftliche Fragen im Lichte der jüdischen Tradition zu diskutieren. Aus diesem Grund habe ich vor einigen Jahren den Verein "Torat HaKalkala – Verein zur Förderung der angewandten jüdischen Wirtschafts- und Sozialethik e.V." mit initiiert. In der heutigen Wirtschaftsrealität muss man ebenfalls die Frage nach dem religiösen Anteil stellen. Ich frage auch, ob die jüdische Auseinandersetzung damit etwas zum heutigen Verständnis beiträgt. Der Talmud hat immerhin drei große Traktate nur über die damalige Wirtschaftsrealität und wie darin die jüdischen Werte umgesetzt werden sollten.
Kurzum – heute macht für mich weniger die Schicksalsgemeinschaft mein Judentum aus, auch wenn das nie aufhört, sondern mindestens ebenso die kreative und intellektuelle Auseinandersetzung mit den Inhalten des Judentums und wie sie im 21. Jahrhundert neu auf die gesellschaftliche Wirklichkeit bezogen werden können. Im Rückblick sehe ich, wie sich meine jüdische Identität aus den teilweise verstörenden Konstellationen meiner Kindheit immer weiterentwickelt hat. Aber das war keine fertige Identität, die ich nur anzunehmen brauchte. Es war sehr viel Ringen damit verbunden – auch die Frage nach G´tt – und die Notwendigkeit, zu hinterfragen und neue Kontexte zu schaffen, damit sich das Jüdische in den heutigen Zusammenhängen weiterentwickeln kann. Ich fühle mich damit mittendrin und noch lange nicht an einem Ziel.
Zitierweise: "Elisa Klapheck: "Heute sind wir keine Schicksalsgemeinschaft mehr"", Interview mit Elisa Klapheck, in: Deutschland Archiv, (Datum), 28.01.2022, Link: www.bpb.de
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Biographisches: Elisa Klapheck, geboren 1962 in Düsseldorf, wuchs in Deutschland und in den Niederlanden auf, wo sie Politikwissenschaften und öffentliches Recht, später auch Judaistik studierte.
2012 promovierte sie summa cum laude mit einer Dissertation über die jüdische Religionsphilosophin Margarete Susman. Nach Stationen mit Lehraufträgen an Universitäten bundesweit ist Elisa Klapheck seit 2016 Professorin für Jüdische Studien an der Universität Paderborn, wo sie im Jahr 2021 die Gründung des "Pnina Navè Levinson Seminars für Jüdische Studien" initiierte. Im Wintersemester 2021/2022 fand dort die öffentliche Ringvorlesung "Judentum am Dienstag" zum Thema "Judentum, Feminismus und Genderstudien" statt.
2004 wurde Elisa Klapheck vom Aleph Rabbinic Program in den USA zur Rabbinerin ordiniert. 2005 ging sie nach Amsterdam, wo sie als erste Rabbinerin in der niederländisch-jüdischen Geschichte angestellt war. Während ihrer vierjährigen Tätigkeit für die Amsterdamer Jüdische Gemeinde "Beit Ha´Chidush" (Haus der Erneuerung) kam sie regelmäßig nach Frankfurt, um den Egalitären Minjan durch die Vermittlung jüdischer Kenntnisse, etwa für die Gestaltung von G´ttesdiensten oder den Umgang mit inhaltlichen Entwicklungen der jüdischen Tradition, zu stärken. 2009 kehrte sie nach Deutschland zurück und ist seitdem offiziell Rabbinerin der liberalen Synagogengemeinschaft "Egalitärer Minjan" in der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main. Zuvor hat Elisa Klapheck bereits in den 1990er-Jahren als Mitbegründerin der liberalen Synagoge der Oranienburger Straße in Berlin einen Egalitären Minjan mit ins Leben gerufen. 1999 gründete sie zusammen mit Lara Dämmig und Rachel Herweg die Gruppe "Bet Debora", die im Jahr später die erste "Tagung europäischer Rabbinerinnen, Kantorinnen und rabbinisch gelehrter Jüdinnen und Juden" ausrichtete.
1997 wurde Elisa Klapheck Pressesprecherin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Chefredakteurin der Gemeindezeitschrift jüdisches berlin. Als Journalistin schrieb sie für Zeitungen wie die Jüdische Allgemeine Wochenzeitung, den Tagesspiegel, die taz und AVIVA-Berlin und arbeitete für Rundfunk und Fernsehen, darunter die Deutsche Welle. Sie hält Vorträge zu gesellschaftlichen Themen aus jüdischer Sicht und schreibt regelmäßig rabbinische Kommentare in den Medien. Von ihr erschienen sind unter anderem die Bücher "Fräulein Rabbiner Jonas –Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?" (1999), "Bertha Pappenheim – Gebete / Prayers" (2003) und "So bin ich Rabbinerin geworden. Jüdische Herausforderungen hier und jetzt" (2005), "Wie ich Rabbinerin wurde" (2012), "Margarete Susman und ihr jüdischer Beitrag zur politischen Philosophie" (1. Auflage 2014; 2. Aufl. 2021). 2022 erschien ihr Buch "Zur politischen Theologie des Judentums"
Seit 2015 gibt sie die Schriftenreihe "Machloket / Streitschriften" heraus, in der sie Gegenwartsautor*innen dazu einlädt, eine inhaltliche Auseinandersetzung zur Weiterentwicklung der jüdischen Tradition zu führen. Damit eröffnet sie ein Forum für jüdische Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Gegenwartsfragen.
Elisa Klapheck wurde am 30. Juni 2023 als erste Frau zur Vorsitzenden der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK) gewählt. Sie ist auch associate member des Rabbinic Board von Liberal Judaism in Großbritannien. Außerdem ist sie Vertrauensdozentin des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks für jüdische Begabtenförderung (ELES).
Darüber hinaus hat Elisa Klapheck mit Frankfurter Juden/Jüdinnen und Nichtjuden/Nichtjüdinnen "Torat Hakalkala – Verein zur Förderung angewandter jüdischer Wirtschafts- und Sozialethik e.V." gegründet.
Elisa Klapheck ist mit dem Rechtsanwalt Abraham de Wolff, dem Sprecher des Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, verheiratet.
strong>Publikationen von Elisa Klapheck
Zur politischen Theologie des Judentums, Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2022
Margarete Susman - Religious-Political Essays on Judaism, edited by Elisa Klapheck, translated by Laura Radosh, palgrave macmillan, London 2022
Margarete Susman und ihr jüdischer Beitrag zur politischen Philosophie
Hentrich & Hentrich, Berlin 2014 (2. Aufl. Paperback, 2021)
Wie ich Rabbinerin wurde (Herder, Freiburg 2012, 2. mit einem neuen Kapitel erweiterte Auflage von So bin ich Rabbinerin geworden. Jüdische Herausforderungen - hier und jetzt, Herder, Freiburg 2005)
- Sidur Ha´Chidush, Gebetbuch der progressiven jüdischen Gemeinde Beit Ha´Chidush in Amsterdam, Hebr. m. Umschrift, niederländische und englische Übersetzung sowie zahlreiche originelle und vertiefende Kommentare zu den einzelnen Gebeten, 1. u. 2. Aufl., Amsterdam 2007
- Fräulein Rabbiner Jonas. The Story of the First Woman Rabbi, Jossey-Bass, Wiley, San Francisco 2004
- Regina Jonas. Die weltweit erste Rabbinerin, Hentrich & Hentrich (Miniaturen Bd. 4), Berlin 2003
- Bertha Pappenheim – Gebete / Prayers, hrsg. zusammen mit Lara Dämmig, Hentrich & Hentrich, Teetz 2003
- Fräulein Rabbiner Jonas - Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?, Hentrich & Hentrich, Teetz 1999 (2. Auflage 2000)
Schriftenreihe MACHLOKET / STREITSCHRIFTEN
hg. von Elisa Klapheck im Verlag Hentrich & Hentrich
Mehr Informationen unter: www.elisa-klapheck.de
Copyright Fotos von Elisa Klapheck: Sharon Adler