DIE SIBYLLE. Liebeserklärung an eine große Zeitschrift. Persönliche Erinnerungen und ein Interview mit SIBYLLE-Fotografin und Agentur OSTKREUZ Mitbegründerin Ute Mahler anlässlich der Ausstellung im Willy-Brandt-Haus Berlin - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Interviews



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 14.07.2019


DIE SIBYLLE. Liebeserklärung an eine große Zeitschrift. Persönliche Erinnerungen und ein Interview mit SIBYLLE-Fotografin und Agentur OSTKREUZ Mitbegründerin Ute Mahler anlässlich der Ausstellung im Willy-Brandt-Haus Berlin
Sharon Adler

Die SIBYLLE. Ost-Vogue, Vogue des Ostens. Dass Mode und Modefotografie nicht nur elegant oder praktisch, sondern auch politisch sein konnte, bewies die SIBYLLE von 1956 bis 1995 mit jeder neuen Ausgabe. Im Interview mit Fotografin Sharon Adler spricht die SIBYLLE-Fotografin Ute Mahler über die Abbildung eines selbstbewussten Frauenbilds, den Mut zur Individualität und das Arbeiten mit Symbolen vor dem Hintergrund drohender Zensur.




Berlin-West, Mitte der 1980er Jahre: Eine bunte Insel und drumherum ganz viel graue Mauer. Ich mache meine Ausbildung bei einem Werbe- und Industriefotografen. Frauen sind ganz klar unterrepräsentiert in diesem Beruf und mehr vor als hinter der Kamera. Die Prüfungsthemen langweilig und uninspirierend. Um wieviel freier wirken auf mich die Fotograf*innen und deren Fotos, die Models und die Mode, die in der "SIBYLLE" abgebildet werden. Neidisch schaue ich in den Ostteil Berlins, wo unter diesem klangvollen Namen ein Modeheft erscheint, das so viel mehr abbildet als nur klassische Mode und coole Models.



"SIBYLLE" – schon allein der Name ließ jedes Fotograf*innenherz höher schlagen. Und das nicht nur in dem Teil der Republik, in dem das zum Kultobjekt avancierte Magazin verlegt und produziert wurde, sondern auch im Westen. Das Besondere nämlich war die Verbindung von ganz und gar großartigen Modeaufnahmen in Schwarz-Weiß und Farbe vor einer Kulisse, die an Tristesse nicht zu überbieten war. Film Noir auf grobem Papier, inszeniert mit sehr viel Symbolcharakter.
Mein Herz jedenfalls hatte die SIBYLLE im Sturm erobert. Ab und an bin ich mit einem Tagesvisum in den Ostteil der Stadt gepilgert, um ORWO-Papiere und ORWO-Filme zu kaufen, Produkte einer heute längst vergangenen Ära. Für mich als Foto-Studentin erschwinglich und im Rückblick unverfälscht, einzigartig. Dieses Korn…
Ergattern konnte ich hier und da auch eine der begehrten Ausgaben der SIBYLLE (von denen ich leider heute keine einzige mehr besitze).
Dass die Zeitung von einer jüdisch-deutschen Fotografin ins Leben gerufen wurde, von der 1920 in Breslau geborenen Kostümbildnerin und Modejournalistin Sibylle Boden-Gerstner, war nochmal besonders interessant für mich als Berliner Jüdin, auch wenn das damals natürlich weder im Westen noch im Osten jemals ein Thema war.

Für die, die es nicht wissen und wissen können (weil sie nicht dabei gewesen sind in dieser legendären Zeit): Die "SIBYLLE" war DIE "Zeitschrift für Mode und Kultur" der DDR. Sie erschien von 1956 bis 1995 sechsmal jährlich in einer Auflage von 200.000 Exemplaren im Verlag für die Frau in Leipzig und war so heiß begehrt, dass sie regelmäßig schnell vergriffen und nur noch unter der Ladentheke zu bekommen war, was im DDR-Jargon charmant "Bückware" hieß.

Aber die "SIBYLLE" musste sich auch Kritik gefallen lassen: Die gezeigte Kleidung war nicht erhältlich. Die "SIBYLLE" arbeitete daher im ständigen Spagat: Entweder Erzeugnisse der heimischen Textilbetriebe vorführen (die dann ins befreundete sozialistische Ausland exportiert wurden), oder Schnittmuster für die patente Selbermacherin anbieten – was auch zu Kritik führte, weil die wenigen erhältlichen DDR-Produkte doch schließlich verkauft werden sollten. In jedem Fall weckten die Inszenierungen und Modeaufnahmen von Modellen in Spitze, Leder, Tweed, Strick, Spiegelseide oder Pelz Begehrlichkeiten, stillten aber gleichzeitig die Sehnsucht nach der großen weiten Welt, der Welt hinter der Mauer.



Dass Mode bzw. Modefotografie nicht nur elegant und praktisch, sondern – zumindest zwischen den Zeilen – auch politisch sein konnte, bewies "SIBYLLE" mit jeder neuen Ausgabe: Neben der abgebildeten Kleidung gab es im Heft essayistische Serien, Reportagen, Landschafts- und Architekturaufnahmen und vor allem Portraits ganz "normaler" Menschen in ihrem Arbeitsumfeld oder von Schauspielerinnen wie Katharina Thalbach oder Angelica Domröse. Angetan hatte es mir vor allem die Serie "Frauen von heute", die Arbeiterinnen in den Fabriken, am Fließband ebenso darstellte wie die Innenarchitektin für Frachtschiffe am Zeichenbrett.
Als Kulissen dienten die rauschenden Schornsteine der Fabriken in der Industriestadt Bittersfeld ebenso wie das urbane Leben in der Berliner Friedrichstraße.
Und all das war dann 1995 vorbei. Nach der Wende behauptete sich "Sibylle" noch einige Jahre, um dann doch für immer eingestellt zu werden.

SIBYLLE ist Kult - damals wie heute. Das Comeback in einer Ausstellung im Willy Brandt Haus vom 7. Juni bis 25. August 2019

Geprägt wurde die SIBYLLE maßgeblich von den dreizehn Fotograf*innen, die über ihre Aufnahmen das Lebensgefühl im Realsozialismus transportiert haben: Sibylle Bergemann, Arno Fischer, Ute Mahler, Werner Mahler, Sven Marquardt, Elisabeth Meinke, Roger Melis, Hans Praefke, Günter Rössler, Rudolf Schäfer, Wolfgang Wandelt, Michael Weidt, Ulrich Wüst.

Gisela Kayser, die Geschäftsführerin und künstlerische Leiterin Freundeskreis Willy-Brandt-Haus, erklärt: "Von den 13 Fotografen leben fünf heute nicht mehr. Arno Fischer und Sibylle Bergemann sind ein bisschen hervorgehoben, weil sie Zentrumsfiguren für all die Fotografen waren. Deshalb also nochmal ein besonderes Gedenken an die beiden. Ansonsten haben alle ihren Raum bekommen und werden gewürdigt."

Die großartige Ausstellung - gezeigt werden 200 Fotos aus den Modestrecken und Reportagen der "Mode- und Kulturzeitschrift" der DDR - gibt nicht nur einen umfassenden Überblick über die Entwicklung der legendären und unvergleichlichen Zeitschrift SIBYLLE, sondern macht auch die Entwicklungsphasen der Modefotografie der DDR sichtbar.
Die von Dr. Ulrich Ptak konzipierte Ausstellung in Kooperation mit der Kunsthalle Rostock, wo sie 2016/2017 zu sehen war, wurde ergänzt und kuratiert von einer der Fotograf*innen, die damals bei der SIBYLLE war, von der langjährigen SIBYLLE-Fotografin Ute Mahler.



Ute Mahler, die seit 1974 als freie Fotografin in Berlin arbeitet, fotografierte von 1984-1900 die Rockmusiker*innen der DDR und Plattencover für das Label AMIGA, machte Reportagen, Mode- und Porträtstrecken für Kunst- und Kulturmagazine der wie SAISON und SIBYLLE. Nach der Wende, 1990, gründete sie mit anderen Fotograf*innen die Agentur OSTKREUZ, arbeitete für die Magazine GEO, MERIAN, STERN und lehrte von 2000-2015 als Professorin für Fotografie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg und ab 2005 als Dozentin an der Ostkreuzschule für Fotografie in Berlin. Ihre Foto-Reportagen, Mode- und Portraitstrecken für Reise-, Kunst- und Kulturmagazine stehen für das authentische, das dokumentarische und das ungeschönte Bild.

Zwei Tage vor der Eröffnung der SIBYLLE-Ausstellung im Willy Brandt Haus habe ich Ute Mahler während des Aufbaus getroffen und konnte endlich mehr über die Geschichten hinter den Fotos erfahren.



"Bilder lesen lernen" (Ute Mahler)

Sharon Adler: Ihre letzte Ausstellung im Willy-Brandt-Haus war 1997 mit der Ausstellung "Berliner Bilder" der Agentur Ostkreuz. Und nun haben Sie als Kuratorin 200 Fotos aus den Modestrecken und Reportagen der SIBYLLE ausgewählt.

Ute Mahler: Nach der Ausstellung in Rostock vor drei Jahren sind in der Zwischenzeit aus dem Nachlass einiger Fotografen neue Arbeiten aufgetaucht. Das ist natürlich großartig und der Grund, die Ausstellung um neu gefundene, alte Bilder, also Vintage Prints, zu erweitern. Außerdem haben wir uns entschieden, die Kulturseiten zu zeigen. In Rostock hingen ja die Reproduktionen der Doppelseiten, das betraf sehr viel die Mode aber nicht explizit die Kultur.

Sharon Adler: Bilder also, die Sie auch vorher gar nicht gesehen haben?

Ute Mahler: Ich kannte die Bilder nur aus der Zeitschrift. Und gerade die Nachlässe von Elisabeth Meinke und Arno Fischer müssen noch aufgearbeitet werden. Es war viel verschwunden, und deshalb ist das so toll, wenn da ein bisschen Neues Altes auftaucht. Bei Elisabeth Meinke sieht man die Modern Prints auf der einen Seite, die Bilder aus Armenien, die sie dort fotografiert hat und auf der anderen Seite sind die Vintage Prints, die sie damals in einer Dunkelkammer gemacht hat.

Sharon Adler: Wann kamen Sie zur SIBYLLE und welche Erinnerungen kommen bei Ihnen hoch? Welche Gefühle, welche Bilder?

Ute Mahler: Ich habe 1977 meine erste große Serie und den ersten Titel für die SIBYLLE fotografiert, kannte natürlich die Zeitschrift und fand die großartig, und die Fotografen, die da gearbeitet haben, fand ich so toll. Das war Fotografie, weniger Modefotografie mit Konzentration auf das Kleid, sondern eben diese wundervolle Mischung. Diese Fotos haben mich wahnsinnig geprägt. Da wollte ich schon als 23 jährige irgendwann mal hin. Als ich jetzt den Katalog herausgegeben habe, habe ich mir jedes Heft nochmal angeschaut, auch mit ehemaligen SIBYLLE-Redakteuren, und wieder gesehen, welche Qualität das ist.

Sharon Adler: Die Ausstellung versammelt auch die Coverbilder. Wir sehen hier die SIBYLLE-Coverbilder der Jahre 1957, 1969, 1980. Jedes steht für sich und symbolisiert eine Epoche – was geht Ihnen durch den Kopf wenn Sie das so versammelt vor sich sehen?

Ute Mahler: Man sieht ganz deutlich, dass die Moden wechseln, in manchen Jahren war die Grafik lauter, radikaler, war die Fotografie lauter und radikaler. Aber was ich wirklich ganz bemerkenswert finde ist, dass das wirklich großartige Portraits sind. Es sind weniger Posen, sondern sehr portraithaft und sehr intensiv.

Sharon Adler: Absolut, der Fokus liegt auf den Frauen und die Mode ist eher Beiwerk und steht nicht im Mittelpunkt.

Ute Mahler: Ja, man glaubt den Frauen, das was sie tragen. Sie tragen das mit einer Selbstverständlichkeit, als würde es zu ihrer Persönlichkeit gehören und das macht vielleicht auch die Stärke der Portraits aus. Weil man glaubt, dass sie nicht verkleidet sind, sondern dass das auch was mit ihnen zu tun hat. Es ging uns immer darum, Frauen als selbstbewusste und schöne Menschen zu fotografieren.

Sharon Adler: Für Sie war es auch immer wichtig, mit der Fotografie Geschichten zu erzählen und gesellschaftliche, kulturelle Themen authentisch abzubilden. Welche Idee haben Sie mit Ihren Fotografien verbunden?

Ute Mahler: Am wichtigsten war mir, diese Zeit mitreinzunehmen, denn nicht nur Mode erzählt etwas über die Zeit, sondern auch die Fotografie dieser Mode. Und natürlich auch über das Frauenbild: wenn man sich in der Geschichte der Modefotografie umschaut, gibt es ja die unglaublichsten unterschiedlichen Ansätze. Auch deswegen sind die SIBYLLE-Fotografen so unverwechselbar, weil jeder eine andere, subjektive Sicht auf das Frauenbild hat. Das ist das spannende, denn wenn wir alle das gleiche erzählt hätten, wäre es langweilig geworden.

Sharon Adler: Ihre Fotos wirken auf mich trotz aller Vorbereitung und Komposition, die dahintersteht gleichzeitig auch wie zufällig entstanden, wie Momentaufnahmen, wie Filmstills. Wie würden Sie Ihre Arbeitsweise beschreiben?

Ute Mahler: Ich war nicht so wahnsinnig vorbereitet, wusste immer ungefähr, was ich für eine Geschichte erzählen will. Erst wenn ich vor Ort bin und den Raum und das Licht und die Person sehe, wie sie im Raum steht oder sich bewegt, dann entsteht etwas. Ich liebe es, den Zufall miteinzubeziehen. Ich freue mich über jede Überraschung, die in das Bild reinkommt. Und ich glaube, das hat auch einen Einfluss auf das Model, weil es wie in der Realität wirkt.

Sharon Adler: Ob grobkörnige Modeaufnahmen von Frauen in Trikotagen oder im klassischen Einreiher vor dem Grau-in-Grau der Plattenbauten oder das dramatisch-kontrastreiche Foto des Models im Spitzenkleid vor dem Magnolienbaum. Ihre Aufnahmen sind fast immer melancholisch und haben diese schöne Tristesse. Was ist Ihr ästhetisches Konzept?

Ute Mahler: Wenn man Modefotografie macht, fängt man immer bei Null an. Man hat ein Model, man hat einen Fotografen, eine Redakteurin und dann hat man einen Raum und dann muss sich irgendwas entwickeln und das ist eine gemeinsame Arbeit zwischen Model und Fotografen. Atelierfotografie hat mich nicht interessiert, ich habe das zwar ab und zu mal gemacht, wegen irgendwelcher Wetterbedingungen, wenn es einfach sein musste. Aber da habe ich mich immer ein bisschen gelangweilt.

Sharon Adler: Es waren Auftragsarbeiten, jedes Heft, jede Bildstrecke war thematisch an die Mode der Saison gebunden. Was waren die größten Schwierigkeiten bei der Umsetzung, bei der Beschaffung von Filmmaterial, Locations, Outfits, Schnittmustern, Models, Accessoires?

Ute Mahler: Inhaltlich war es überhaupt nicht schwierig, denn wir Fotografen haben mit den Redakteuren zusammen das Konzept entwickelt und hatten unglaublichen Einfluss darauf, wo wir was fotografiert haben, mit wem wir fotografieren wollten. Die Wahl der Models war immer den Fotografen überlassen. Schwierig waren die technischen Bedingungen. Die meisten SIBYLLE-Fotografen haben mit Kleinbild fotografiert, damit kann man schnell und ein bisschen unauffällig sein. Schwarz-Weiß auf Kleinbild also. In Farbe ging das nicht, weil man vom Kleinbild-Dia keine große Seite drucken konnte, das war drucktechnisch damals nicht möglich. Und im Heftablauf war eine Doppelseite Farbe, eine Doppelseite Schwarz-Weiß. Das heißt, wir mussten jede nächste Seite das System wechseln, also mit 6x6 fotografieren. Und 6x6 hat eine ganz eigene Bildsprache, es ist viel ruhiger, viel weniger spontan. Das heißt also, alle zwei Seiten war ein absoluter Bruch und deshalb sind manchmal die Serien nicht so ganz aus einem Fluss.

Sharon Adler: So wie ich das verstehe hatten Sie freie Hand. (Wo) mussten Sie Konzessionen eingehen, oder lebten und arbeiteten Sie eher in einer "Bubble", haben die Realität ausgeblendet? Fühlten Sie sich privilegiert?

Ute Mahler: Wir waren privilegiert in dem Sinn, dass wir unsere Arbeit machen konnten, wie wir sie machen wollten. Und das hat damit zu tun, dass die SIBYLLE, die mit 200.000 Auflagen erschien, eine Modezeitschrift war, die von den Verantwortlichen nicht wirklich ernst und wichtig genommen wurde. Ich glaube, die haben sich einfach gedacht "Lasst die mal ein bisschen spielen".

Sharon Adler: Wurden Fotos auch mal für Propagandazwecke ausgeschlachtet? Und wenn es keine direkten Instruktionen gab, dann doch Erwartungen?

Ute Mahler: Es gab Erwartungen bezüglich "so sind doch unsere Frauen nicht, unsere Frauen sind anders" und das war schon ein Punkt, wo man sensibel reagiert und gefragt hat: Wessen Frauen sind wir? Natürlich gab es Bestrebungen, das alles auch ein bisschen optimistischer zu zeigen. Dass es so grau war ist uns gar nicht aufgefallen, denn wir haben ja da gelebt. Es war ja unsere Realität. Und dann gab es natürlich manchmal die Wünsche der Chefredaktion: "Warum geht ihr denn nicht mal in die schönen hellen Neubauviertel?" Und dann sind wir in die schönen hellen Neubauviertel gegangen und haben da trotzdem unsere Bilder gemacht.

Sharon Adler: Aber das ist ja auch das Großartige an der Geschichte der SIBYLLE, diese winzige Lücke, eine Oase, ein Paradies. Wie lässt sich dieses Lebensgefühl beschreiben, wie das Verhältnis zu Ihrer damaligen Leserinnenschaft?

Ute Mahler: Reaktionen von Leserinnen waren für die SIBYLLE ganz wichtig, weil es darum ging, Mut zur Individualität zu machen, was auch hieß, mal ein bisschen verrückt zu sein. Alles natürlich in Maßen. Wenn man das heute betrachtet, waren das ja nur winzige kleine Schrittchen, aber immerhin. Und die Leute waren sensibler damals, sie haben die Zeichen verstanden. Man hat ja mit Symbolen gearbeitet. Es wirkt heute ein bisschen albern, aber damals hat´s funktioniert und es war richtig und wichtig.

Sharon Adler: Welche Symbole waren das?

Ute Mahler: Naja, zum Beispiel das Foto "Elke steht im Neubaugebiet". Da gibt es keinen Himmel, sondern es ist alles Platte und davor ein Gitter. Das hat man nicht veröffentlich, das war zu symbolisch, obwohl man argumentieren könnte: "Naja aber auf dem Foto steht eine Frau vor einem Neubau und dummerweise ist da dieses Gitter von den Mülltonnen". Die Chefredakteurin hat nur gemeint: "Ich weiß, warum wir es nicht drucken und Sie wissen es."

Sharon Adler: 1990 haben Sie mit anderen EX-DDR-Fotograf*innen in Paris die Agentur OSTKREUZ mit dem Anspruch "Herangehen an die Wirklichkeit" gegründet. Sie sind emeritierte Professorin für Fotografie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg und leiten heute die Meisterklasse Fotografie an der Ostkreuzschule in Berlin. Welchen besonderen Blick wollen Sie neben dem technischen Handwerk vermitteln?

Ute Mahler: Ganz wichtig war mir, dass die Studierenden Bilder lesen lernen. Diese Welt ist voller Bilder und die wenigsten können sie wirklich lesen und noch weniger in Zusammenhänge bringen. Welche Reihenfolge kann eine Arbeit stärken oder schwächen? Und beim Fotografieren war es mir immer wichtig zu vermitteln: Bring etwas Persönliches mit rein, aber verändere nicht die Wirklichkeit. Aber zeig mir, warum du das Bild gemacht hast. Ich will irgendwo auch dich sehen, nicht aufgedrängt ins Bild, sondern ich will sehen, wie du zu den Dingen stehst oder zu der Person. Und wenn das alles klappt und da eine entsprechende Bildsprache ist, dann kann es etwas werden.

Das Private ist fotografisch

Ute Mahler bildet seit über 40 Jahren eine private wie berufliche Einheit mit Werner Mahler. Kennengelernt hat sich das vielfach ausgezeichnete Fotograf*innenpaar Anfang der 1970er Jahre an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig und realisiert seitdem auch nach der SIBYLLE-Zeit regemäßig gemeinsame Projekte.
Sharon Adler: Eigentlich wollten Sie ja Reporterin werden, haben ein Faible für Langzeit-Projekte. Mit Werner Mahler begeben Sie sich auch heute noch regelmäßig gemeinsam fotografische Reportagereisen.
Für das Fotoprojekt "Kleinstadt" sind Sie drei Jahre lang mit Unterbrechungen mit dem Auto von Arzberg über Bitterfeld, Hofgeismar, Pasewalk, Simmern bis nach Wadern und Zehdenick gefahren. Im Gepäck: ein Vorrat an SW-Planfilmen (4x5 inch), eine Großformatkamera. Wonach haben Sie gesucht, welche Stimmung und Lebensgefühl wollten Sie abbilden?

Ute Mahler: Wir haben in über 100 Städten wir fotografiert und noch viel mehr gesehen. Kreieren wollten wir die Kleinstadt, also haben wir alle Bilder zusammen gepackt und nicht erklärt, was wo ist. Diesen Kompromiss mussten wir leider für das ZEIT-Magazin machen. Weil wir eigentlich zeigen wollten, was die Kleinstadt für uns bedeutet. Was ist die Stimmung? Was bedeutet das so? Darum ging es. Aber ja, es sind Langzeitprojekte. Komischerweise, denn ich bin ein sehr ungeduldiger Mensch, aber in der Fotografie total geduldig. Nur durch das Warten und Geduld bekommt man Bilder.

Sharon Adler: Sie sind (1949) in Berka, in Thüringen geboren und 1964 nach Lehnitz bei Berlin umgezogen, und leben in Lehnitz. Was verbinden Sie mit Kleinstadt – damals und heute?

Ute Mahler: Ich lebe ja in Oranienburg und habe auch nie in einer Großstadt gelebt. Ich bin in Thüringen aufgewachsen und dann gleich nach Lehnitz gezogen. Ich habe natürlich immer mal wieder arbeitsbedingt in Städten gelebt, aber nur kurz. Sobald es ging, bin ich sofort wieder nach Hause gefahren.
Ja, um was ging es in der "Kleinstadt"? Das sind alles Orte, wo die Bevölkerung extrem schrumpft und das ist ein gesellschaftliches Problem. Da wollten wir uns einfach umgucken, was vielleicht dort verloren geht, wenn diese Städte irgendwann sterben.

Sharon Adler: Welches Lebensgefühl wollten Sie abbilden?

Ute Mahler: Bei "Kleinstadt" haben wir uns auf die Jugend konzentriert, denn das ist die Gruppe von Menschen, die es in der Hand hat, die sich entscheiden kann, wegzugehen oder dort zu bleiben. Dafür haben wir einfach in die Gesichter geguckt –und es ist ja offensichtlich – wir haben keine Antworten. Aber das war die Frage und die ist auch in dem Buch und auch in den Bildern der Ausstellung vorhanden – ja, was wird denn jetzt? Wir beantworten die Frage nicht, sondern jeder soll eben selber das herauslesen können, wenn er Lust hat.

Bilder von Frauen

Sharon Adler: Mit "Monalisen der Vorstädte" haben Sie Portraits junger Frauen in fünf Städten Europas aufgenommen. Das Konzept: Gleicher Kamerastandpunkt, gleiche Brennweite, große Blende, unscharfer Hintergrund. Schwarz-Weiß.
Ob für die "SIBYLLE", die "Monalisen der Großstadt" oder die Fotostrecke "Zusammenleben. Portraits von Arbeiterinnen in der DDR". Meist waren bzw. sind es Frauen und deren Lebenswelten/Realitäten, die Sie abbilden. Warum, was war bzw. ist Ihnen hier besonders wichtig?

Ute Mahler: Ich glaube, einfach dadurch, dass ich eine Frau bin, weiß ich wo Grenzen sind. Also, ich nehme meine Grenzen und überschreite die nicht bei der Abbildung von jemandem. Und da meine Grenzen ziemlich weit gesteckt sind, versuche ich das auch immer bei den Abgebildeten, immer nach Absprache. Ich habe das Gefühl, ich kann das machen, weil ich weiß, was es heißt, eine Frau zu sein. Natürlich ist es genauso interessant, Männer zu fotografieren, aber ich fühle mich bei den Portraits von Frauen wohler, weil ich da einfach weiß, dass ich weitergehen kann.

Sharon Adler: Und was sehen Sie in den Gesichtern der Frauen, speziell bei den Monalisen?

Ute Mahler: Eigentlich geht es mir immer um einen Ausdruck, der mich überrascht. Also etwas, was man nur mit einem ganz großen Respekt und großem Vertrauen bekommt. Wenn jemand sich im Gesicht so äußert, dass es von ganz innen ist. Was ganz sehr mit ihnen zu tun hat, und das ist schwer zu bekommen Im Grunde genommen interessiert mich das in jedem Gesicht, also so ein Stück zu sehen, wo ich das Gefühl habe, das ist jetzt wie ein Geschenk, das zu kriegen.

Fotografie – Abbildung von Realitäten versus Inszenierung

Sharon Adler:
Thema Verantwortung in der Modefotografie. Dass Modefotografie auch politisch sein kann, hat die SIBYLLE immer wieder gezeigt. Wie schätzen Sie das heute ein, vor dem Wissen um die miserablen Arbeitsbedingungen der Menschen in den Fabriken in der Fashion-Industrie weltweit, aber auch bezogen auf Tierschutz, denken wir zum Beispiel an Merinowolle. Hätten da nicht auch die Agenturen, die Einkäufer*innen, die Konzerne, die Fotograf*innen, eine gewisse Verantwortung, so etwas abzubilden?

Ute Mahler: Ich glaube, die Verantwortung muss bei jedem einzelnen liegen. Nur wenn es wirklich viele sind und man sich darüber bewusst wird, kann man etwas verändern. Oder wenn es Redaktionen geben würde, die sich manchen Dingen gegenüber verweigern. Und machen wir uns nichts vor, Fotografie hat in der gesamten Zeit in der es sie gibt, erst zwei oder dreimal wirklich etwas verändert. Da waren Jacob Riis oder Lewis Hine mit Fotos von Kinderarbeit, der hat in Amerika in Fabriken so um 1905 etwa fotografiert undercover und das sind unglaublich berührende, beeindruckende, erschreckende Bilder und die haben dafür geführt, dass in Amerika ein Gesetz gegen Kinderarbeit verabschiedet wurde. Dass es wirklich zu Veränderungen kommt, schafft Fotografie nicht, aber man würde es schaffen, dass es mehr ins Bewusstsein rutscht.



Wende und Öffnung der Mauer

Sharon Adler: In dem von Elke Bitterhof herausgegebenen Buch "Goodbye DDR. Erinnerungen an den Mauerfall" gibt es einen Beitrag von Ihnen aus dem Jahr 2014, Titel "Mein Mauerfall". Sie erzählen, wie Sie in der Nacht der Grenzöffnung der DDR nach einer Fotoproduktion sofort losgefahren sind, das Auto aber wegen Benzinmangels stehenblieb, Sie von wildfremden Menschen Benzin bekamen und sich schließlich nachts um 4:00 am Café Kranzler am Kudamm wiederfanden. Was sind Ihre Erinnerungen an diese Nacht, an Ihre Gefühle in den Tagen danach, war das mehr Euphorie oder Skepsis?

Ute Mahler: Ich fand es einfach toll, es war Euphorie. Wir waren 40, als die Mauer fiel und es war super, nochmal neu anzufangen. Ein bisschen besorgt waren wir natürlich auch. Wir haben Ostkreuz gegründet, weil man als Gruppe einfach stärker ist und wir haben darauf vertraut, dass es doch klappen könnte und das hat ja auch funktioniert. Ich habe ganz großartige Leute getroffen und die dann portraitiert und habe ja sehr viel für den STERN gemacht. Und deshalb war auch für mich klar: Das war´s mit der Modefotografie. Jetzt mache ich Reportage und Portraits.
Nur weil ich der SIBYLLE und den Redakteuren sehr verbunden war, habe ich noch ein bisschen weitergearbeitet.
Es war eine Periode in meinem Leben und die war nun vorbei. Es gab drei Phasen in meinem Leben. Die erste Phase wo ich Geld mit der SIBYLLE, also mit Modefotografie verdient habe und parallel dazu dieses große freie Thema über 18 Jahre "Zusammen leben" fotografiert habe nur für mich, nur für Freunde, nur für Ausstellungen, ohne jemals daran zu denken, das zu verkaufen. Sondern es war mir wichtig, ich musste das und wollte das machen. Dann kam die atemlose Zeit ab 1990. Das war wirklich atemlos – um das jetzt mal von dem Helene Fischer besetzten Wort auszudrücken. Das war ganz irre, weil da so viel entdeckt wurde und man sich wieder neu überprüfen musste. Und dann die Entscheidung, nicht mehr im Auftrag zu arbeiten, sondern den Lebensunterhalt mit Lehre zu verdienen und nur noch freie Arbeiten zu machen. Und da bin ich jetzt mittendrin.



Ausstellung "SIBYLLE" vom 7. Juni bis 25. August 2019
200 Fotos aus den Modestrecken und Reportagen der "Mode- und Kulturzeitschrift der DDR"
Gezeigt werden die Arbeiten von dreizehn SIBYLLE Fotograf*innen: Sibylle Bergemann, Arno Fischer, Ute Mahler, Werner Mahler, Sven Marquardt, Elisabeth Meinke, Roger Melis, Hans Praefke, Günter Rössler, Rudolf Schäfer, Wolfgang Wandelt, Michael Weidt, Ulrich Wüst.
Veranstaltungsort: Willy Brandt Haus
Stresemannstraße 28
10963 Berlin
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag, 12 – 18 Uhr
Eintritt frei, Ausweis erforderlich
Weitere Infos unter: www.fkwbh.de

Mehr Informationen zu Ute Mahler und der Agentur OSTKREUZ unter: www.ostkreuz.de/fotografen/ute-mahler

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SIBYLLE. 200 Fotos aus Modestrecken und Reportagen in der Ausstellung vom 7. Juni bis 25. August 2019 im Willy Brandt Haus
SIBYLLE, die wohl bekannteste Mode- und Kulturzeitschrift der DDR, feiert ihr Comeback in einer großartigen Ausstellung. Im Mittelpunkt stehen dreizehn Fotograf*innen: Sibylle Bergemann, Arno Fischer, Ute Mahler, Werner Mahler, Sven Marquardt, Elisabeth Meinke, Roger Melis, Hans Praefke, Günter Rössler, Rudolf Schäfer, Wolfgang Wandelt, Michael Weidt, Ulrich Wüst. Sie alle prägten den fotografischen Stil des Magazins entscheidend.

Sibylle. Zeitschrift für Mode und Kultur 1956 -1995. Sibylle Bergemann, herausgegeben von Frieda von Wild, Lily von Wild
Vergangen, aber nicht vergessen. Anlässlich des 75. Geburtstages, den Sibylle Bergemann am 29. August 2016 gefeiert hätte, und des Jubiläums "25 Jahre OSTKREUZ – Agentur der Fotografen", erschienen großartige Publikationen (2017)

Sibylle Bergemann - Die Polaroids
Der Nachlass der wohl berühmtesten Modefotografin der DDR und Mitbegründerin der Berliner Agentur Ostkreuz, erschien bei Hatje Cantz anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im C/O Berlin im Jahr 2011.

Nie wieder Sibylle
"Träum nicht, Sibylle" heißt der Dokumentarfilm über die Geschichte der unkonventionellen Frauen-Zeit-Schrift Sibylle, die in der DDR ein Hit war. (2003)

Publikationen



Sibylle
Zeitschrift für Mode und Kultur 1956 –1995

Herausgeberin Ute Mahler und Uwe Neumann (Kunsthalle Rostock)
Hardcover, Ca. 350 Seiten, ca. 570 Abbildungen 24 × 31,6 cm
Texte: Andreas Krase, Anja Maier, Ulrich Ptak, Thomas Winkler
Grafik: Hermann Hülsenberg Studio, Berlin
Hartmann Books, erschienen 20.12.2016
ISBN 978-396070-0074
Euro 39,80
www.hartmannprojects.com



Sibylle Bergemann
Herausgeberinnen: Frieda von Wild, Lily von Wild, Loock Galerie
AutorInnen: Ingo Taubhorn, Jutta Voigt, Sonia Voss
Kehrer Verlag, erschienen 2016
Festeinband, 24 x 30 cm, 188 Seiten, 22 Farb-, 3 S/W- und 81 Duplexabbildungen
Deutsch/Englisch/Französisch
ISBN 978-3-86828-743-1
Euro 48,00
www.artbooksheidelberg.de





Copyright Fotos: Sharon Adler
Transkription des Interviews: Saskia Balser
Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in der Jungle World Nr. 26 vom 27. Juni 2019, DSCHUNGEL: jungle.world



Interviews

Beitrag vom 14.07.2019

Sharon Adler