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Beitrag vom 06.05.2019
Aufgehender Stern: AVIVA-Interview mit der Schauspielerin Samal Yeslyamova
Anita Oberlin
Überlebenskampf einer kirgisischen Mutter im erbarmungslosen Moskau: Für ihre zutiefst bewegende Darstellung in "AYKA" wurde Samal Yeslyamova in Cannes ausgezeichnet. 2019 wurde das Drama des russisch-kasachischen Regisseurs Sergej Dvorstsevoj auf die Shortlist der Fremdsprachen-Oscars gesetzt. AVIVA-Berlin hat die kasachische Schauspielerin zum Interview getroffen.
"AYKA" ist der zweite Spielfilm von Sergej Dvortsevoy, im April 2019 lief er in den deutschen Kinos an. Das eindringliche Spiel von Hauptdarstellerin Samal Yeslyamova als junge Arbeitsmigrantin Ayka im Moskauer Moloch, die unter widrigsten Umständen um ihre Existenz kämpft, ist überwältigend. In dieser Rolle gelingt es ihr, ihr Publikum ganz für sich einzunehmen. Neben der Auszeichnung in Cannes als Beste Schauspielerin erhielt sie auch den Asian Film Award und den Golden Orange Award des Antalya Film Festivals.
Der bewegende Film stellt den Abgrund dar, in den Menschen gedrängt werden, die von der Gesellschaft ausgestoßen sind. Wie viele andere junge Menschen kommt die Protagonistin in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft aus ihrem Heimatland in die russische Metropole Moskau. Der Versuch, sich ein unabhängiges Leben aufzubauen, bringt sie an die Grenzen dessen, was ein Mensch aushalten kann. Die Lebenssituation der jungen Mutter ist geprägt von Armut, Kriminalität und Gewalt. Nicht zuletzt ihr Status als illegalisierte Einwanderin macht es ihr unmöglich, ihrem Schicksal zu entkommen. Eine Verkettung tragischer Umstände bringt sie in eine ausweglose Situation, in der sie eine unmenschliche Entscheidung trifft.
Samal Yeslyamova, 1984 in der nordkasachischen Stadt Petropawl geboren, zog es 2007 nach Moskau, um am Russischen Institut für Theaterkunst zu studieren. Ihr Leinwanddebüt gab sie in Sergej Dvortsevoys "Tulpan". Der Spielfilm über die PartnerInnensuche junger Menschen in den Weiten der kasachischen Steppe feierte 2008 in Cannes Premiere und wurde mehrfach ausgezeichnet. Danach setzte die junge Schauspielerin ihr Studium fort. Für "AYKA" arbeitete Samal Yeslyamova erneut mit dem Regisseur zusammen. Nach ihrer überzeugenden Darstellung ist noch viel von der in Moskau lebenden Schauspielerin zu erwarten.
Nach der Berliner Filmpremiere von "AYKA" hat sich Anita Oberlin mit Samal Yeslyamova in Leipzig getroffen.
Samal Yeslyamova spricht kasachisch und russisch. Dolmetscherin für das AVIVA-Interview war Dr. Mahabat Sadyrbek, der auch die deutschen Untertitel in "AYKA" zu verdanken sind. Die Sozialanthropologin arbeitet am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle und betreibt derzeit Feldforschung in Berlin.
AVIVA-Berlin: Im Mai 2018 wurdest Du für "AYKA" als Beste Schauspielerin in Cannes ausgezeichnet. Seit Dezember ist der Film auf der Oscar-Shortlist der besten fremdsprachigen Filme 2019 verzeichnet. Was hat sich seitdem verändert?
Samal Yeslyamova: Seitdem erkennen mich Leute auf der Straße. RegisseurInnen schicken mir Anfragen, ich bekomme Rollenangebote. Aber ich arbeite nach wie vor mit meinen KollegInnen aus dem Studium zusammen, die ich schon vor den Auszeichnungen kannte und mein Bekanntenkreis hat sich nicht viel verändert.
AVIVA-Berlin: Zum Film: Ayka hat gerade ein Kind zur Welt gebracht. Sie leidet während des ganzen Films an Schmerzen, sie wird von kriminellen Kreditgebern verfolgt und bedroht. Obwohl sie sich in dieser verzweifelten Situation befindet, wirkt sie immer selbstbewusst, durchsetzungsfähig und sehr entschlossen. Sergej Dvortsevoy und Gennady Ostrovsky haben zusammen das Drehbuch geschrieben. Aber inwieweit hast auch Du die Rolle mitentwickelt?
Samal Yeslyamova: Mein Schicksal hat überhaupt keine Berührungspunkte mit dem Schicksal von Ayka, es gibt keinerlei Überschneidungen. Also musste ich diese Rolle so gut es ging durch meine Person verkörpern, indem ich Aykas Welt durch meine Augen sehe und mich mit ihren Schwierigkeiten konfrontiere. Ich denke mein Beitrag war es, diese Welt wahrzunehmen und damit zurechtkommen.
Als Schauspielerin versuche ich, einer Rolle mit meinen Fähigkeiten gerecht zu werden. Angefangen bei den physischen Eigenschaften. Wie könnte sie gehen? Wie könnte sie sich bewegen?
AVIVA-Berlin: Du hast 2008 bei "Tulpan" bereits mit der Kamerafrau Jolanta Dylewska und Regisseur Sergej Dvortsevoy zusammengearbeitet. Was konntest du aus dieser Erfahrungen schöpfen? Wie hast du dich auf die Rolle vorbereitet?
Samal Yeslyamova: Für "AYKA" musste ich mich neu orientieren: Diesmal war meine Rolle eine Frau, die gerade ein Kind geboren hat. Ich musste mich fragen: Wie bewegt sie sich? Wie verhält sich eine junge Mutter, die gerade entbunden hat?
AVIVA-Berlin: Durch die Kameraführung wirkt der Film beinahe dokumentarisch. Die Kamera folgt Dir auf Schritt und Tritt, stolpert mit Dir durch Moskau. Wodurch hat sich die Arbeit mit Jolanta Dylewska ausgezeichnet?
Samal Yeslyamova: Jolanta Dylewska war für Licht, Farbe, für das Bühnenbild verantwortlich. Sie und Sergej Dwortsevoy haben sich viel abgesprochen, aber gefilmt hat hauptsächlich er. Es war beruhigend, dass er so nah dabei war. Wir haben sehr viel geübt und alle Bewegungen immer wieder geprobt. Irgendwann vergesse ich die Kamera, wenn ich weiß, was meine nächste Bewegung ist.
AVIVA-Berlin: "AYKA" ist ein sehr bewegender Film, der betroffen macht. Ayka leidet physisch sowie psychisch. In welchen Momenten oder Szenen bist Du an Deine Grenzen gestoßen und wie bist Du damit umgegangen?
Samal Yeslyamova: Ich habe Sergej Dvortsevoy sehr vertraut. Ohne viel Vertrauen könnte man einen Film wie AYKA denke ich gar nicht drehen. Bei seinen Anweisungen wusste ich immer: er weiß, was er tut. So kann ich als Schauspielerin dem von ihm entworfenen Bild einfach folgen.
AVIVA-Berlin: Moskau spielt eine wichtige Rolle im Film. Es wirkt beinahe, als wäre die Stadt Deine Antagonistin: es ist eiskalt und abweisend. Ayka trifft kaum auf Menschen, die sie wahrnehmen, geschweige denn Anteil an ihrem Leben nehmen.
Samal Yeslyamova: Es ist auch so gewollt, dass die Protagonistin gegen das kalte, unbarmherzige Moskau kämpft. Die russische Metropole ist auch so hart und erbarmungslos für viele Migrantinnen, die dort arbeiten oder auf der Suche nach Arbeit sind, und um ihr Weiterkommen oder sogar ihr Überleben kämpfen. Im Film bekommt Ayka das Baby und muss es aufgrund eben dieser harten Umstände in der Klinik zurücklassen. Das zu tun, ist eigentlich gegen die Natur. Der unaufhörliche Schneefall in Moskau bedeutet im Film: Die Natur ist wütend auf diese Entscheidung von Ayka.
AVIVA-Berlin: Die Lebensumstände von Ayka sind mehr als prekär: sie hält sich in Moskau als illegalisierte Einwanderin auf, hat keinen Cent in der Tasche, wird von skrupellosen Kriminellen verfolgt. Sie kämpft ums Überleben. Weißt du, ob es in Moskau Hilfe für Frauen gibt, die sich in dieser Situation befinden, gibt es Initiativen, an die sie sich wenden könnten?
Samal Yeslyamova: Sergej Dvortsevoy hat den Film auf Grundlage einer wahren Begebenheit gedreht. Er bezieht sich auf die Statistik in einem Zeitungsartikel, in dem es darum geht, dass 248 kirgisische Migrantinnen ihre Babys in Moskauer Geburtskliniken aufgegeben haben, weil sie nicht mehr wussten, wie sie zurechtkommen würden. Vielleicht gibt es inzwischen Organisationen, die diese Frauen unterstützen. Im Fall von Ayka ist das Kind nicht geplant und nicht gewollt. Es steht im Weg. Es spielt auch Scham eine Rolle. Sie ist nicht verheiratet, wollte nicht, dass jemand vom Baby erfährt.
AVIVA-Berlin: Du bist in Kasachstan geboren und hast in Moskau studiert. Wie hast Du Moskau erlebt, als Du selbst gerade dort hingezogen bist und was bedeutet es jetzt für Dich, in Moskau zu leben?
Samal Yeslyamova: Moskau ist eine aufregende Stadt für mich. Anfangs bin ich freundlich aufgenommen worden. Ich hatte das Glück, ein Stipendium zu bekommen und umsonst dort studieren zu können. In dieser Hinsicht gab es in meiner Biographie bisher gar keine Schwierigkeiten, ich habe mich schnell gut in die Gesellschaft integriert gefühlt.
AVIVA-Berlin: Inwiefern siehst du den Film als Kritik an der russischen Gesellschaft in ihrem Umgang mit marginalisierten Bevölkerungsgruppen?
Samal Yeslyamova: Als der Film in Moskau gezeigt wurde, haben viele ZuschauerInnen gesagt, dass es ihnen nicht bewusst ist, dass es vielen Menschen so schlecht geht in ihrer Gesellschaft. Scheinbar wird diese Schicht, zu der Ayka gehört, kaum als Teil der russischen oder der Moskauer Gesellschaft wahrgenommen. Menschen wie Ayka werden missachtet, es wird nicht gefragt, wie sie leben, womit sie ihr Geld verdienen, womit sie kämpfen müssen. Vielleicht werden nun einige mehr hinterfragen, wie es diesen Menschen geht.
AVIVA-Berlin: Was wünschst Du Dir für den Film?
Samal Yeslyamova: Ich persönlich wünsche mir, dass die Leute immer wieder an die Menschlichkeit denken. Dass sie in der Lage sind, mitzufühlen und Erbarmen mit Menschen in ihrem Umfeld zu haben. Geld zu verdienen ist nicht das wichtigste im Leben, es gibt viel wichtigere Dinge als Geld. Und das ist Mitmenschlichkeit, Barmherzigkeit und auch die Beziehung oder die Bindung zwischen den einzelnen Menschen zueinander und miteinander.
AVIVA-Berlin: Bleibt mir zu wünschen, dass noch Viele "AYKA" sehen werden und zu fragen, was Deine nächsten Vorhaben sind.
Samal Yeslyamova: (lacht) Arbeiten!
Das wünsche ich mir als Teil dieses Filmes natürlich auch, weil wir sehr viel Herzblut in diesen Film gesteckt haben und über sehr lange Zeit daran gearbeitet haben, über sechs Jahre. Unsere ganze Energie und Liebe haben wir dem Film gegeben. Für diese sechs Jahre war der Film Teil meines Lebens.
AVIVA-Berlin: Vielen Dank für das Gespräch!
"AYKA" läuft seit dem 18. April 2019 in deutschen Kinos.
Mehr Infos zum Film unter: www.mm-filmpresse.deWeiterlesen auf AVIVA-Berlin:Die AVIVA-Filmrezension von "AYKA"Die für ihre Rolle dreifach ausgezeichnete Hauptdarstellerin Samal Yeslyamova spielt unter der Kameraführung von Jolanta Dylewska ("Die Spur") in einem tief bewegenden Film von Sergey Dvortsevoy ("Tulpan") eine junge Frau, die durch extreme Umstände dazu gebracht wird, eine drastische Entscheidung zu treffen. Unbedingt sehenswert!