Frauen im Filmbusiness - Interview mit der Filmemacherin, Künstlerin, Autorin und Fotografin Ulrike Ottinger über weit mehr als ihren neuen Film Chamissos Schatten, Kinostart: 24.03.2016 - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Interviews



AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 20.03.2016


Frauen im Filmbusiness - Interview mit der Filmemacherin, Künstlerin, Autorin und Fotografin Ulrike Ottinger über weit mehr als ihren neuen Film Chamissos Schatten, Kinostart: 24.03.2016
Sharon Adler,Helga Egetenmeier

Ulrike Ottinger gab uns an einem schönen Freitagmorgen ungezwungen, humorvoll und nachdenklich ein Interview zu ihrer Arbeit, ihrer jüdischen Familiengeschichte, Rollenverhältnissen und ihren Plänen für neue spannende Projekte.




...Dabei ließ sie uns an ihrem ethnologisch geschulten Blick teilhaben, so dass sich unsere Begeisterung für ihre wundervolle Dokumentation "Chamissos Schatten" noch verstärkte und gleichzeitig die Neugier an den Plänen für ihre nächsten Filme entfachte.

Fast genau ein Jahr nachdem Ulrike Ottingers jüngster Film CHAMISSOS SCHATTEN (D 2016) im Rahmen des Berlinale Forum uraufgeführt wurde, präsentierte das Kino Arsenal im Januar 2017 die vier Teile ihrer großangelegten filmischen Expedition in das nördliche Eismeer, an die äußerste Ostküste Russlands, entlang der Halbinsel Kamtschatka sowie deren geografische Brücke hinüber nach Alaska.
Angeregt von den Berichten früherer Forscher führt auch Ottinger ein Logbuch und verknüpft ihren eigenen, künstlerisch-ethnografischen Blick mit den Erkenntnissen und bildlichen Darstellungen der einstmaligen Expeditionsreisenden, darunter Adelbert von Chamisso. So berühren sich Vergangenheit und Gegenwart im Film, werden historische und kulturelle Veränderungen deutlich.
Die Künstlerin und Filmemacherin Ulrike Ottinger wurde 1942 in Konstanz geboren. Ihre Filme erhielten zahlreiche Preise und wurden auf den wichtigsten internationalen Festivals gezeigt und vielfach in Retrospektiven gewürdigt, u.a. in der Pariser "Cinémathèque française" und im New Yorker "Museum of Modern Art". Neben ihrer Filmarbeit inszeniert sie Opern- und Theaterstücke und ist mit Fotoausstellungen international präsent.

Ulrike Ottinger verband Ethnologie und gesellschaftspolitisches Interesse schon immer mit ihrer Kunst. Im Berlin der 70er Jahre waren die Schauplätze für ihre Filme Industriebrachen und sie beschäftigte sich mit dem Leben von Outlaws. Später drehte sie auch in der Mongolei, der Taiga Chinas und in einer nord-japanischen Schneelandschaft, sowie nun rund um die Beringsee.



Ulrike Ottinger, 1942 als Ulrike Weinberg in Konstanz geboren und am Bodensee aufgewachsen, kam unehelich zur Welt – ihre Mutter ist Jüdin und die Nürnberger Rassengesetze verbieten Mischehen. Ihr Vater eröffnet nach dem Krieg ein Dekorationsgeschäft und Ulrike begleitet ihn, wenn er die Decken oder Wände von Kinos bemalt.
Von 1961 – 1969 lebte sie als freischaffende Künstlerin in Paris, arbeitete in den Medien Malerei, Grafik, Fotografie und Performance, ließ sich von Johnny Friedlaender in Radiertechniken ausbilden, besuchte Vorlesungen von Bourdieu, Levi-Strauss und Althusser und schrieb ihr erstes Drehbuch "Die mongolische Doppelschublade". 1969 kehrte sie nach Deutschland zurück und realisierte ihren ersten Film "Lakoon und Söhne" zusammen mit der Multi-Künstlerin Tabea Blumenschein. Die Dokumentation "Berlin Fieber", ein Happening von Wolf Vostell, führte sie 1969 nach Berlin, wo sie seither lebt.
Ihre Filme wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und liefen sehr erfolgreich auf vielen Filmfestivals weltweit. Ihr Werk umfasst nicht nur Spiel- und Dokumentarfilme, sondern auch Theater- und Operninszenierungen. Sie arbeitet ebenfalls als Fotografin, so entstehen bei ihren Dokumentationen begleitende Bilder als visuelle Eindrücke, die in Kunstausstellungen gezeigt wurden.
2010 erhielt Ulrike Ottinger das Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland, 2012 den SPECIAL TEDDY AWARD und 2011 den Hannah-Höch-Preis der Stadt Berlin für ihre künstlerische Arbeiten.



Das AVIVA-Berlin-Interview mit Ulrike Ottinger stellen wir in vier Teilen vor. In Teil 1 erfahren Sie viel über die Filmarbeiten zu "Chamissos Schatten, in Teil 2 sprechen wir ihren biographischen Hintergrund und die Anfangsjahre ihrer Karriere, dann geht es um gesellschaftliche Rollenbilder und zum Schluss erfahren Sie etwas über Ulrike Ottingers Zukunftspläne.

1) Die Dokumentation "Chamissos Schatten"

AVIVA-Berlin:
Sie waren für Ihre Dokumentation "Chamissos Schatten" im Sommer 2014 mehrere Monate in den Regionen des Beringmeers unterwegs. Angeregt von historischen Berichten berühmter Forscher machten Sie sich auf den Weg und schrieben Ihr eigenes Logbuch. In ihrem Film verknüpfen Sie durch diese Jahrhunderte verbindenden Reisenotizen die Vergangenheit mit der Gegenwart.
Wie kamen Sie zu der Idee für dieses doch sehr aufwendige Projekt?

Ulrike Ottinger: Ich hatte schon mit 20 Jahren starke ethnologische und ethnografische Interessen und las über Wal-Kulte. Als ich in Korea meinen Film "Die Koreanische Hochzeitstruhe" drehte, sah ich im Goethe-Institut das Buch "Reise um die Welt" von Adelbert von Chamisso, den ich bislang nur als Literaten durch die "Wundersame Geschichte des Schlemihl" und durch seine Ballade "Das Riesenfräulein" kannte, und war sehr fasziniert. Ich kannte Chamisso als Künstler, Schriftsteller, Musiker und Intellektuellen dieser Zeit der großen Salons, auch der jüdischen Salons, aber ich kannte ihn nicht als Weltreisenden.

2011 konzipierte ich für das Haus der Kulturen der Welt die vielschichtige Ausstellung "Floating Food". Wasserwege waren früher die am leichtesten befahrbaren Wege und darauf wurden nicht nur Waren transportiert, sondern auch Menschen, und mit ihnen Ideen, Philosophien und Religionen. Diese Wege, auf denen der ganze Kulturtransfer und der Warentransfer geschah, interessierten mich schon immer. Dazu kam, dass ich während meiner Reisen im Norden Chinas die Ewenken traf, die entweder ganz im Westen oder ganz im Osten der Mongolei leben. Die, die ich auf meiner jetzigen Reise besuchte, leben auf Kamtschatka. Und so ist dieses Filmprojekt für mich eine Fortführung meiner Interessen und ich habe das Gefühl, ich stricke an einer Sache immer weiter.

AVIVA-Berlin: "Chamissos Schatten" leistet als historische Dokumentation auch Erinnerungsarbeit, indem nicht nur die frühen Forschungsreisen ihren Platz finden, sondern diese durch das heutige Leben der Menschen an diesen Orten gespiegelt und ergänzt werden.
Wie sind Sie an diese in jeglicher Hinsicht wertvolle Dokumentation herangegangen?

Ulrike Ottinger: Heute ist solch ein Projekt von der Produktionsseite her eher nicht mehr möglich, da bei solchen Reisen der Umfang nicht einzuschätzen ist. Doch solch eine Arbeit liegt durchaus im Bereich des Möglichen, auch wenn sie eigentlich niemand mehr macht. Da es in solchen Ländern doch eine gewisse Willkür gibt, haben Sie, selbst wenn sie alle Visa besitzen und zwei Jahre vorbereitet haben, keine Ahnung, wie es ausgeht. So sind solche Projekte auch der Gefahr ausgesetzt zu scheitern, aber sie haben auch das Potenzial etwas ganz Außerordentliches und Ungewöhnliches zu werden. Und das ist in diesem Fall glücklicherweise geschehen. Ich konnte auf der Reise alles aufnehmen, was ich wollte und die Menschen sind mir mit einer großen Liebenswürdigkeit entgegengekommen.



AVIVA-Berlin: Sie lassen in Ihrem Film den porträtierten Menschen Zeit, sich zu zeigen, etwas zu erzählen, begleiten sie bei ihrem alltäglichen Arbeiten und Leben. Auf was legten Sie bei der Umsetzung Ihrer Dokumentation Ihr Augenmerk?

Ulrike Ottinger: In der von China dominierten Inneren Mongolei erlebte ich, dass die Indigenen oft als minderwertig angesehen werden und das Interesse oberflächlich ist, das man ihnen entgegenbringt. Ein wirklich tiefes Interesse für ihre Situation, für ihr Leben, für ihre Vorstellungen und auch für ihren Alltag, vermittelt sich durchaus, wenn man nicht, wie manche Fernsehteams, einfliegt, schnell ein paar Bilder macht und wieder verschwindet. Wenn man mit den Leuten lebt, lange mit ihnen zusammen ist, dann entsteht auch Vertrauen. Und man stellt keine inquisitorischen Fragen, sondern es ergibt sich alles im Gespräch. Das ist eine Situation, die das Selbstwertgefühl der Menschen bestätigt und unterstützt, denn sie sind Partner auf Augenhöhe.

Daher sprachen sie dann auch über Themen, die lange Zeit nicht akzeptiert waren, nicht wertgeschätzt wurden, und darum ist dieser Film auch etwas so Außergewöhnliches geworden. Die Menschen fingen an, sich zu erinnern: "Meine Großmutter hat das noch so und so gemacht und wir versuchen das auch wieder zu machen".

AVIVA-Berlin: Durch Ihre Herangehensweise erhielten Sie eine Menge an gefilmtem Material von einem wenig bekannten Teil der Welt, mit den klangvollen Namen Aleutische Inseln, Tschukotka, Kamtschatka, eher bekannt sind dabei wohl noch Alaska, die Wrangelinsel und die Beringinsel. Wie sind Sie vorgegangen, um aus Ihrem Material einen Film zu formen?

Ulrike Ottinger: Sie kommen in ein unbekanntes Land, von dem viele Menschen nicht einmal den Namen wissen, geschweige denn, wo dieses Land liegt. Kaum jemand weiß, was in diesem Land vorgegangen ist, was es für eine Geschichte hat und wie es heute dort aussieht. Dann müssen Sie ausholen und einen Film machen und sind irgendwann bei 12 Stunden. Ich hatte 130 Stunden Material und saß eineinhalb Jahre jeden Tag zwischen 10 und 14 Stunden am Schneidetisch. Sehr erleichtert hat mich, dass während den Vorführungen auf der Berlinale und der ersten Vorpremiere im Haus der Kulturen der Welt die Leute sehr interessiert und konzentriert zugehört haben. Wenn etwas so fremd ist, muss man es auch vermitteln, und das scheint wirklich gelungen zu sein.

AVIVA-Berlin: Sie haben einen Teil der Welt gezeigt, an dem die Länder Russland und USA nur 80 Meilen voneinander entfernt liegen. Sie zeigen, dass durch diese Nähe auch historisch gewachsene verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den USA und Russland vorhanden sind.

Ulrike Ottinger: Ja, die Menschen zu beiden Seiten der Beringsee sind direkt verwandt. Es war immer üblich, dass die Frauen von anderen Inseln kamen, da auf den Inseln nur 50 oder 100 Leuten lebten. Die russischen Frauen auf der anderen Seite sind sehr interessiert daran, rüberzuheiraten. Alaska und Russland gehen nördlich an der Beringstraße zusammen, weiter südlich kommen dann die Aleutischen Inseln, die fast bis zur Spitze von Kamtschatka reichen. Dort ist die Distanz groß, es sind über 2000 Meilen. Die letzten zwei Inseln, die Beringinsel und die Wrangelinsel, sind russisch, und die anderen von dieser Kette sind amerikanisch.



AVIVA-Berlin: Neben der Betrachtung der Landschaft und der Tiere, ist Ihr Schwerpunkt die Kontaktaufnahme mit den dort lebenden Menschen. Wie haben Sie sich mit ihnen verständigt? Können Sie die verschiedenen Sprachen?

Ulrike Ottinger: Ich bin weit davon entfernt die Sprache zu sprechen, erkannte aber ganz viele wichtige Vokabeln, Begriffe oder Bezeichnungen wieder, denn ich hatte einige Zeit zuvor eine Dokumentation in der äußeren Mongolei gemacht. Da habe ich mit Ewenken gearbeitet, die direkt mit den Ewenen verwandt sind, beide Gruppen sind Rentierzüchter mit großen Rentierherden. Sie haben eine identische Kultur und leben über 6.000 Kilometer auseinander. Für Nomaden ist das keine große Distanz. Rentiere legen jeden Tag 30 bis 40 Kilometer zurück. Chamisso hat noch "Renntier" mit zwei "n" geschrieben!



AVIVA-Berlin: In Ihrem Logbuch vom 12. August 2014 schreiben Sie:
"Nach Mitternacht erreichen wir das zweite Lager, ein Holzverschlag, aus dem vier Männer und eine Frau kamen. Sie zündeten neben den allgegenwärtigen rostigen Tonnen ein Feuer an, machten Wasser in vom Ruß geschwärzten Teekannen und Eimern heiß, waren freundlich und gaben mir einen schmutzverkrusteten Teebecher in die vor Kälte erstarrte Hand." (Logbuch U.O., 12.08.2014, Tschukotka).
Für "Chamissos Schatten" waren Sie lange Zeit unterwegs. Wie haben Sie dabei Ihr alltägliches Leben organisiert?

Ulrike Ottinger: Wir haben digital gedreht und mein Assistent musste jeden Abend das Material sichern. Und da ich nur mit festen Objektiven gearbeitet habe, war die Kamera fast genauso schwer wie eine Filmkamera. Dazu mussten wir die ganzen Festplatten dabeihaben. Und so war es eine riesige Menge an Material, das fast unsere Kapazitäten überschritten hat. Einmal waren wir für länger an einem Ort, den wir als Basis nutzten und relativ komfortabel ein Zimmerchen in der Schule bewohnen durften. Als wir mit den Meeresjägern in deren kleinen, nur 4 Meter langen und offenen, Bötchen unterwegs waren, übernachteten wir an Land. Wir haben auch in einem Walfängerlager in einer Hütte übernachtet und mal im Zelt auf einer Sandbank zwischen Lagune und Meer.

AVIVA-Berlin: Sie haben sich während Ihrer Reise und Filmaufnahmen viel mit der Nahrungsproduktion befasst. Wie kamen Sie selbst unterwegs zu Ihrer Nahrung?

Ulrike Ottinger: Wir hatten immer eine Köchin dabei. Und wir waren mit den Leuten unterwegs, die gejagt haben und haben gemeinsam gegessen. Instantsuppen gab es auch. Essen war schwierig, das muss ich sagen, aber das war nicht wichtig.
Die Köchinnen haben eine ganz wichtige Funktion und sind nicht nur für die Ernährung zuständig, sondern sie sind auch so etwas wie Quartiermacherinnen. In Kamtschatka hatte ich auf eine Empfehlung eine Köchin engagiert, die ich erst gar nicht wollte. Ich dachte mir, was brauchen wir eine Köchin, wir können uns dort doch selbst verpflegen. Aber ihr Engagement war ein Segen, da sie sich nicht nur als Köchin entpuppte. Ihr großes Talent war, dass sie fantastisch Deutsch sprach, fantastisch Englisch sprach, eine universitäre Ausbildung hatte und einen wunderbaren Charakter. Und sie konnte immer auf die Leute zugehen. Mit ihr hatte ich etwas, was ich auf den anderen Reisen nicht gehabt habe. Sie hat mir einen Fahrer empfohlen, da es dort nur ganz wenig Straßen gibt, deshalb muss man ein Fahrzeug mieten. Das sind eigentlich Kästen mit alten hohen Rädern, alle bereits 150.000 Mal geflickt und oben drauf mit einem kleinen Kasten, in den wir unsere Sachen einschließen konnten. Und mit diesem sehr guten Fahrer und der Köchin waren wir in Kamtschatka unterwegs und organisatorisch sehr gut versorgt.

AVIVA-Berlin: Gegen Ende des Films kommt ein Mann zu Wort, der Ihnen erzählt, dass er durch die mafiösen Strukturen keine Fischerei-Lizenz bekommt. Er tritt massiver auf als Ihre bisherigen GesprächspartnerInnen. Ich konnte die Gefährlichkeit der Situation nicht einschätzen, und würde gern wissen, wie es zu diesem Interview gekommen ist?

Ulrike Ottinger: Manchmal ergibt sich zufällig etwas Interessantes und so kam es zu diesem Interview. Ich wollte zum südlichsten Punkt von Kamtschatka, denn da führt die Bolschoija, dieser große Fluss, parallel zum Meer ins Landesinnere. Und dort sind alle aus Russland angekommen, von da aus ist auch Kamtschatka erobert worden und dann später auch Tschukotka. Ich wollte unbedingt dahin, weil das ein wichtiger Ort ist, an dem fast keine Indigenen mehr wohnen, sondern vor allem Russen. Die ganze Atmosphäre dort spiegelte den Niedergang des Sozialismus wider und ich habe mich sehr unwohl gefühlt. Dieser Ort trug schon vorher eine große Brutalität in sich, und der Niedergang hat das alles nochmal verstärkt. Die Leute wussten nicht wie sie damit umgehen sollten. Man spürte diese Aggression und auch die Verzweiflung. Auch wie die Landschaft und die Häuser aussahen, zeigte, dass es dort schwierig war.

Als wir drehten, sahen wir diesen Mann, der etwas zu unserer Köchin sagte, die ich dann fragte, ob er hier fischt. Und dann erzählte er und war natürlich richtig geladen. Und in dem Augenblick, wo wir ihn zu Vladimir Vladimirowitsch fragten, mit dem Putin gemeint ist, drehte er sich um, um zu sehen, ob da jemand steht, der ihn hören könnte.

AVIVA-Berlin: In Ihrem Film sieht man Sie selbst nicht, bemerkt aber, dass die Menschen, die vor Ihrer Kamera stehen, mit Ihnen im Dialog stehen. Wie gehen Sie auf Ihre InterviewpartnerInnen zu?

Ulrike Ottinger: Ich zeige nie mich selbst oder meine Mitarbeiter, doch für mich ist es wichtig, diesen Dialog mit den Menschen zu haben. Wenn ich filme, schaue ich immer mit dem rechten Auge durchs Okular, habe mein linkes Auge auf - und da ich die Kamera immer auf dem Stativ habe - mache ich auch mal eine Geste. Dadurch schaut man die Leute an, lächelt auch und reagiert auf das was sie sagen und konzentriert sich nicht nur auf die Technik. Und das merkt man und das lasse ich auch im fertigen Film drin.



AVIVA-Berlin: Der Film zeigt, wie Sie mit dem kleinen Boot, dem Wetter ausgesetzt, zu einer Sandbank fahren. Die Bedeutung der Natur und des Wetters ergänzen Sie sehr schön durch das dramatische, wie auch aufschlussreiche Logbuch von Georg Wilhelm Steller, der mit Bering unterwegs war und dessen Schiff in einem Sturm so demoliert wurde, dass sie auf einer Insel strandeten und Bering auf der nach ihm benannten Insel gestorben ist. Wie ist es Ihnen mit dem Wetter ergangen?

Ulrike Ottinger: Als wir auf dieser Sandbank bei dem Ehepaar mit dem kleinen Enkelkind waren, kam ein fürchterlicher Sturm auf, mit Regen, Schneeschauern und dichtem Nebel. Wir mussten zurück zu unserem Schiff, wohin wir mit unserem kleinen Boot noch eineinhalb Stunden zu fahren hatten. In dieser Situation waren wir sehr in Eile und hatten nur zwei Stunden, um zu filmen. Und das ist wieder etwas, was die Leute verstehen, weil sie ja in der Natur leben. Es muss jetzt sein und es muss schnell sein. Als ich sagte, es sei so schön mit ihren getrockneten Stellagen mit den Fischen im Vordergrund und sie mit dem Kind dahinter, haben sie gleich gefragt, wo sie sich jetzt für uns hinstellen sollen.

Ich bin immer dafür, dass man Dinge nicht verbirgt. In diesem Fall fand ich es interessant, dass der zeitliche Druck durch das Wetter verstanden wurde. Sie wussten, dass wir zurück zum Schiff müssen. Und das war dramatisch, weil ich dachte, dass wir das Schiff nicht mehr finden würden. Inzwischen gab es dichten Nebel und der Regen tobte. Wir hatten ja die Kameras und technisches Gerät dabei und über Stunden war es so, als ob uns jemand eimerweise Wasser über den Kopf gießt. Solche dramatischen und heftigen Situationen gab es während der Reise eben auch.

AVIVA-Berlin: In Ihrer langjährigen Laufbahn als Künstlerin ist das nicht der erste Film, bei dem Sie für das Buch, die Regie, die Kamera, und die Produktion verantwortlich sind.
Wie würden Sie das Besondere dieses Films benennen?

Ulrike Ottinger: Ich denke, das Besondere an diesem Film ist, dass die große Bedeutung der Subsistenzwirtschaft klar wird. Wir sind hier (in Berlin) völlig getrennt vom Schlachten der Tiere. Wir essen unser Steak oder unseren Fisch, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie diese Nahrung zustande kommt. Dort muss man jeden Tag ein Tier jagen und es schlachten, wenn man essen will. So sind auch die rituellen und religiösen Vorstellungen zu verstehen. Die Menschen haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie ein Tier töten. Es gibt dann Entschuldigungsrituale oder Schamanen, die bestimmte Rituale vollziehen. Das ist natürlich im Sozialismus verloren gegangen, aber es ist interessant, dass auch vieles wiederkommt.

Es gibt aber historische entwickelte Unterschiede zwischen der amerikanischen und der russischen Seite. Alaska auf der amerikanischen Seite war früher Russisch-Amerika. Die russischen Pelzhändler sind wegen der Seeotterfelle dorthin gefahren. Die Indigenen, in diesem Fall die Aleuten, mussten die Seeotter für sie jagen, sie haben selbst keinen Finger gerührt. Das war eine sehr wüste koloniale Ausbeutung von großer Brutalität.

AVIVA-Berlin: Würden Sie diese Reise noch einmal machen, nachdem Sie sich so lange und so genau mit dieser Gegend und ihren Menschen beschäftigt haben?

Ulrike Ottinger: Damals war das schon sehr kompliziert. Die hätten uns auch jederzeit als Spione verhaften oder sagen können, dass wir abhauen sollen. Ich bin mir sicher, dass ich heute diese Reise nicht mehr machen könnte. Das Klima dort hat sich verschärft. Nicht wegen der Indigenen, sondern wegen der Russen. Ich hatte einen Empfehlungsbrief vom russischen Botschafter, der sehr liebenswürdig zu mir war. Er fand mein Vorhaben ein tolles kulturelles Projekt und wollte es auch unterstützen. Aber er warnte mich auch und riet mir, mit den Leuten vor Ort zu arbeiten: "Wenn Sie da rausgehen, dann ist da ja kein Mensch mehr, das ist so weit weg von allem". Früher gab es an den Küsten Borderguards mit ihren Stationen. Das sind auch die Gegenden, in denen die ganzen rostigen Fässer zurückgelassen wurden. Die liegen da nun in diesen wunderschönen Landschaften.

Dann gibt es aber auch andere Landschaften, die noch völlig unberührt scheinen, wie zu Zeiten Chamissos, oder Berings, oder Cooks. Genau deshalb braucht man auch die Zeit für diesen Film. Ich denke, heute wäre der Film auch deshalb nicht mehr möglich, weil diese ganze Gegend sehr rohstoffreich, reich an seltenen Erden und an all diesen Stoffen ist. Und es ist durchaus möglich, dass diese Küsten wieder besetzt werden, oder dass man heute andere Formen der Kontrolle findet. Positiv gedacht, könnte man sich dann vielleicht vorstellen, dass die Kinder durch die Veränderung doch eine Ausbildung bekommen. Und dass es dann einige Wenige gibt, die irgendwo studieren können.

2) Ulrike Ottinger, geboren 1942 als Ulrike Weinberg in Konstanz und die frühen Jahre



AVIVA-Berlin: Ich würde ich gern auf Ihren biografischen Hintergrund, Ihre Familiengeschichte zu sprechen kommen. Sie sind 1942 als Tochter einer jüdischen Mutter geboren, haben Filme gemacht wie "Ester. Ein Purimspiel in Berlin" (2002) und "Exil Shanghai" (Deutschland / Israel 1997)...

Ulrike Ottinger: … Der Vater meines Vaters war koscherer Metzger und hatte eine Metzgerei in Konstanz. Er ist 1935, sehr früh, gestorben. Er war so bedrückt, als man ihm alles verboten hat. Und meine Großmutter hat dann, um ihre Söhne zu schützen, behauptet, dass sie nicht von ihm sind. Was natürlich Quatsch war, doch er lebte nicht mehr. Aber sie nahm uns auf, als meine Mutter mit mir schwanger war. Und wir wohnten bei ihr und sie musste ihr Personal entlassen, damit wir da leben konnten. Offiziell hatte meine Mutter einen halbjüdischen - also eigentlich hatte sie gar keinen offiziellen Status, weil sie irgendwann einfach verschwunden ist.

AVIVA-Berlin: Bitte erzählen Sie uns etwas zu Ihrer Familie und was das Jüdische heute für Sie ausmacht.

Ulrike Ottinger: Ich lebe nicht religiös. Ich bin heimlich katholisch getauft worden, da meine Mutter hoffte, dass die vom Kloster mich aufnehmen, wenn mit ihr etwas ist. Doch ich glaube, wir haben unserer Großmutter unser Überleben zu verdanken, sie hat sich für uns zerrissen. Meine Mutter war mit einem Mann verlobt, der die Verlobung aufgelöst hat, weil er ein Feigling war. Zum Glück kann man nur sagen, auf so jemanden kann man verzichten.
Glücklicherweise hat sie meinen Vater kennengelernt, der für meine Mutter nach Konstanz gekommen ist - und zwar zu einem ungünstigen Zeitpunkt, als der Anschluss mit Österreich passierte.
Mein Vater ist dann, um der Einberufung zu entgehen, in die Schweiz gegangen. Wir hatten eine Verwandte dort und zu Fuß waren es von uns nur 5 Minuten in die Schweiz. Doch die Schweizer übergaben ihn direkt an der Grenze der Gestapo mit den Worten "Ein Hund der sein Vaterland nicht verteidigt". Das hat er immer wiederholt. Er wollte auch für meine Mutter alles vorbereiten. Es gab ein paar Leute, die rüber gerudert haben, mein Vater kannte ja alle. Meine Mutter hatte, bevor sie meinen Vater kennengelernt hat, einen Versuch am Schiener Berg gemacht. Das war eine Gruppe aus zwei, drei Kommunisten, die vorausgingen. Dann wurde geschossen und sie haben sich ein paar Tage im Gebüsch völlig verstört versteckt und sind dann wieder zurück.

Mein Vater war mit dieser ganzen Clique der Bodensee-Maler befreundet. Er war kein bekannter Künstler unter ihnen, aber er hat nach dem Krieg seine Dekorationsmalereifirma aufgebaut und tolle Sachen gemacht, zum Beispiel Kinos ausgemalt. Meine Eltern haben gleich nach dem Krieg geheiratet.

AVIVA-Berlin: Sie sind Anfang der 60er Jahre nach Paris gegangen und haben dort studiert. Gerade in Paris gab es ja auch viele Exilanten und Exilantinnen.

Ulrike Ottinger: Das Tolle war, dass meine Mutter mit mir nach Paris ging als ich noch ganz jung war. Sie meinte: "Du musst raus, das ist wichtig, ich will dich nicht verlieren, aber du musst raus. Es ist wichtig, Sprachen zu lernen, dann bist du in der ganzen Welt zu Hause." Sie kannte von vor dem Krieg den Künstler Johnny Friedlaender, der damals dieses berühmte Atelier hatte, und Fritz Picard.

Fritz Picard ist eine hochinteressante Figur, über den ich irgendwann einen Film machen möchte. Er war ein Konstanzer Jude, ist früh nach Berlin gegangen und war Buchvertreter bei Cassirer. Meine Mutter machte mich mit Picard bekannt, der die Librairie Calligramme in der Rue du Dragon hatte. Ich lernte bei Picard die ganzen Immigranten kennen, jeden, der mit deutscher Literatur zu tun hatte, ganz gleich ob das Österreicher oder Tschechen oder Deutsche waren. Fritz Picards Frau, Ruth Fabian, machte diese ganzen Wiedergutmachungsberatungen und sie hielten regelmäßig einen Jour-Fixe bei sich zu Hause ab. Da lernte ich alle kennen und freundete mich auch mit dem Walter Mehring an. Dann mit Claire Goll, die damals ihre Biografie "Ich verzeihe keinem" schrieb, die sie mir immer abends vorlies.

Ich habe nie verstanden, warum Claire Goll so bösartig sein konnte, und es hat mich verstört als ich so jung war. Aber der Verlag hat sie auch in diese Richtung gepuscht, die wollten, dass da irgendwelche Bösartigkeiten stehen. Ich sagte ihr, dass ich das so nicht schreiben würde und musste mich dann entfernen, weil ich das nicht mehr aushielt. Doch sie brauchte mich eigentlich sehr. Ich begleitete sie überall hin. Sicher zwei- bis dreimal die Woche war ich bei ihr, nach dem Atelier, denn ich musste ja auch arbeiten, ich musste ein bisschen Geld verdienen.

3) Gesellschaftliche Rollenbilder



AVIVA-Berlin: Sie haben viele Filme gedreht, Dokus wie Spielfilme, die auch Rollenerwartungen beleuchten. Ihr erster Film dazu ist "Madame X - Eine absolute Herrscherin" von 1977, gedreht am Bodensee, der das Chinesische Meer darstellen soll und bei dem Sie das "Abenteuer Frau" betrachten.

Ulrike Ottinger: Mit "Madame X - Eine absolute Herrscherin" habe ich einen Film gemacht, der das Resultat meiner Rückkehr aus Frankreich wurde. Alle meine früheren Freundinnen, die zum Teil mit Unverständnis reagiert hatten, dass ich nach Paris ging, wollten sich eigentlich nur verheiraten. Für mich war das noch nie eine Option, ich wollte immer künstlerisch arbeiten. Und dann kam ich 1969 zurück und sie waren alle sehr frauenbewegt und hatten sich zum Teil schon wieder scheiden lassen.

Für mich war es interessant, nun eine völlig neue Situation zu erleben. Die Stimmung hatte sich geändert in Deutschland. In meinem Film "Madame X - Eine absolute Herrscherin", der 1977 fertig wurde, ging ich mit diesem Aufbruch um und machte ihn als eine Komödie. Manche Frauen, für die es noch nicht selbstverständlich war, dass sie Alternativen haben und die noch unsicher waren mit ihrer neuen Rolle, die sie sich selbst abgerungen hatten - was ich alles verstehe - haben zum Teil sehr aggressiv auf den Film reagiert. Und für die anderen war das die absolute Befreiung.

AVIVA-Berlin: Sie verfolgen einen ethnologischen Ansatz in Ihrer Kunst. Welche Bedeutung haben für Sie bei Ihrem beobachtenden Blick die Geschlechtertypisierungen und Geschlechterzugehörigkeiten?

Ulrike Ottinger: Mit Rollenverhalten bin ich immer spielerisch umgegangen, ich habe Rollen nie ganz ernst genommen. Auch deshalb, weil ich mich in anderen Kulturen auskenne und weiß, dass Rollen etwas Gemachtes sind.
Und so sieht man auch, wie sich bestimmte Dinge in einer Kultur verändern. Die Erlebnisse in der Mongolei fand ich sehr interessant. Bei den Nomaden in der Mongolei sind die Frauen unglaublich selbständig und waren es immer. Dann kam der Sozialismus und sagte: "Wir befreien die Frauen aus ihrer Rolle" - was dort ein völliger Quatsch war. Es gab sicher Länder, wo sie das hätten tun können. Wir kennen alle Kollontai, das ist völlig klar, aber da war es anders. Und etwas, was unter dem Vorzeichen der Frauenbefreiung geschah, ist gleichzeitig etwas geworden, was die Frauen unterdrückte, weil es die Frauen in ein sozialistisches Raster brachte. Und das ist ein Paradox, aber es ist so.

AVIVA-Berlin: Welche Rollen und Zuordnungen sind Ihnen bei Ihrer Reise begegnet?

Ulrike Ottinger: Diese verschiedenen Veränderungen sind übrigens auch das Interessante an dem Film "Chamissos Schatten", darüber kann man auch die Geschichte des Landes verstehen. Zuerst die Brutalitäten und die Ausbeutung durch die Pelzhändler. Natürlich sind die Tschuktschen kriegerisch, die konnten sich besser wehren, als die Aleuten. Denn die wurden auf ihren Inseln nicht groß angegriffen und waren deshalb keine wehrhafte Gesellschaft, sondern orientierten sich eher am Tausch. Doch mit den russischen Pelzhändlern sind die orthodoxen Priester gekommen, die missionierten. Und so wurden dann alle orthodox und sind es bis heute. Getauft zu sein bot einen gewissen Schutz gegen die Pelzhändler, da man mit der Taufe russischer Bürger wurde.

Die Schrift wurde durch einen russischen Priester entwickelt, ihre Schrift. Sie hatten vorher keine Schrift, nur eine mündliche Überlieferung und das ist natürlich etwas ganz anderes. Die Schrift musste erfunden werden, um etwas, was nicht selbstverständlich war, festzulegen, und die neue Lehre war nicht selbstverständlich. Gleichzeitig schienen die russischen Priester gebildeter und toleranter zu sein als die heutigen und scheinen die animistischen Vorstellungen mit integriert zu haben, so dass die Menschen die neue Lehre leichter annehmen konnten. Dazu habe ich mich mit vielen indigenen Ethnologen dort unterhalten.

Auf der russischen Seite kam das erst mit dem Sozialismus, also in den 30er, 40er, 50er Jahren. Die Leute sollten nur russisch sprechen, das war 80 Jahre später als die Amerikaner es von den Indigenen in Alaska verlangt hatten. Das finde ich interessant, wie die Russen auch diese Bevormundung anfingen und nicht nur das, sie haben die Menschen auch zwangsumgesiedelt. Es gab damals entlang der Küste über 50 kleine Dörfer und Ansiedlungen. Die wurden zusammengeführt zu fünf größeren Einheiten, in denen Russen und Eskimos und Ewenen und Tschuktschen zusammenlebten.

Als nach der Perestroika plötzlich die ganzen Waren ausblieben, haben sie sich wieder auf die Subsistenzwirtschaft besonnen. Und die alten Leute, die in der Gemeinschaft schon nicht mehr geachtet wurden, waren plötzlich wieder wichtig. Sie waren die Einzigen, die noch wussten, wie man sich selbst ernähren kann. Die Jungen haben das alles wieder gelernt und damit kam auch eine gewisse Rückbesinnung auf die Traditionen. In den vielen Gesprächen, die ich geführt habe, wurde deutlich, dass sich alle bemühen, sich zu erinnern: "Wie haben das meine Großeltern gemacht?".

AVIVA-Berlin: Wie war das Selbstverständnis in den Gesellschaften in denen Sie sich für Ihren Film bewegten? Waren Sie als Regisseurin und Kamerafrau akzeptiert? Oder gab es Situationen, in denen Sie sich aufgrund Ihres Frau-Seins degradiert fühlten?

Ulrike Ottinger: Keine Spur. Ich bin die große Vorsitzende (lacht) Nein, nie, das war so eindeutig, weil ich sagte: "Hier kommt das Stativ hin, die Kamera und das wird gemacht. Hier machen wir das, hier machen wir das". Also es war kein Zweifel, nein. Lustig war, dass wir sehr oft für eine Mutter mit zwei Söhnen gehalten wurden, ich mit meinen beiden Assistenten. Und wir haben das auch nie verneint. Wir waren ein gutes Team. Ich hatte zwei gute Leute dabei, die unglaublich engagiert und begeistert waren. Und unter solchen Anstrengungen hat es nie ein böses Wort gegeben, das war eine sehr gute Erfahrung für mich.

4) Zukunftspläne



AVIVA-Berlin: Sie haben Kurzfilme gemacht, Filme in eher üblicher Länge und auch einige sehr lange Filme, wie "Taiga" mit 501 Minuten und jetzt "Chamissos Schatten" mit 720 Minuten. Wie Sie beschreiben, haben sich in Ihrem jüngsten Film viele Ihrer Interessen zusammengefunden. Planen Sie, nochmal ein ähnliches Projekt zu machen?

Ulrike Ottinger: Na ja, man hat viele Projekte, die man machen möchte. Ich will schon lange zwei Spielfilme machen, einer ist "Diamond Dance" - und das war wirklich das Waterloo meines beruflichen Lebens. Das ist eine tolle Geschichte über zwei Zwillingsdiamanten, die durch die ganze Kunstgeschichte wandern: vom Thronkönig Salomons bis zur russischen Revolution und zum New York von heute, dort kommen sie wieder zusammen.

AVIVA-Berlin: Wie weit sind Ihre Pläne mit "Diamond Dance? Um was soll es in dem Film gehen?

Ulrike Ottinger: In "Diamond Dance" möchte ich die ganze jüdische Diaspora zeigen und gleichzeitig auch den Diamantenhandel. Bekanntlich war ja der Bruder von Maimonides, oder Mosche ben Maimon, ein Diamantenhändler, und ist damals auf einer seiner Reisen nach Indien verschollen. Ich habe nie das Geld zusammen gebracht für diesen Film. Das hängt mit unseren Förderungssystemen zusammen, denn wenn man etwas im Land macht, ist es viel leichter Geld zu bekommen. Und wenn man etwas im Ausland macht, ist es schrecklich schwierig. Und das war ein Projekt, das immer gerade so dabei war zu entstehen ... das ist etwas, was ich eigentlich unbedingt noch machen möchte.

Der Begriff "Diamond Dance" kommt aus dem Diamantenhandel und zwar aus dem Diamond Dealers´ Club in New York. Ich habe es selbst gesehen, da stehen lange polierte Tische und an denen sitzen sich die Händler gegenüber. Darauf liegen, auf Seidenpapierchen, die Diamanten und die gehen hin und her und das ist der Diamond Dance.

Ich war in Rotterdam, in Israel, in London, Antwerpen und ich habe auch sehr genau über De Beers recherchiert. Sicher habe ich acht Jahre für das Projekt recherchiert. Und ich denke, das ist das beste Drehbuch, das ich je in meinem Leben geschrieben habe. Ich hatte damals einen Traumcast zusammen, ich habe alles fotografiert, alles ist hier dokumentiert. Ich habe über diesen Film damals an die 400.000 Mark verloren und habe unheimlich ackern müssen, um meine Schulden zu bezahlen. Aber den möchte ich wirklich noch gerne machen.

Der Film hätte alles was ein toller Film braucht und gleichzeitig bringt er eine ganze Kulturgeschichte zusammen. Die ganze Geschichte der Diaspora ist drin und es wäre schön, ihn zu machen. Ich hatte damals von F. Murray Abraham, über Dianne Wiest und Anjelica Huston auch die Neville Brothers als singende Bodyguards. Dann habe ich diesen tollen schwarzen A-cappella-Chor getroffen und war in New Orleans. Ich habe wirklich die ganze Welt bereist, um alles zusammen zu bringen, wie Buscemi und andere, die heute alle ganz berühmt sind, die damals noch gar nicht bekannt waren und die kurz danach alle von Scorsese gecastet wurden. Ich habe sie alle selbst fotografiert, meine ganzen Casting-Sessions mit denen. Und ich habe Bände von Material. Ich war in 47th Street, ich war sogar im Diamond Dealer´s Club, wo man eigentlich so gut wie nicht reinkommt in New York. Ich habe alles erreicht, was ich wollte und hatte alle Unterstützung, aber es hat ein bisschen, ich muss es leider sagen, in Deutschland am Engagement gefehlt. Ich würde es heute auch nicht mehr selbst produzieren wollen. Ich hatte auch nacheinander zwei gute Produzenten in den USA, aber so etwas hat noch niemand gemacht.

AVIVA-Berlin: Mit ProQuote-Regie gibt es einen Zusammenschluss, der für einen höheren Anteil von Frauen in der Regie bei Filmproduktionen kämpft. Sehen Sie das als einen Punkt, dass die Geschlechterzuordnung manchmal Frauen benachteiligt bei der Mittelvergabe?

Ulrike Ottinger: Ja, selbstverständlich, das ist offensichtlich. Nur in meinem Alter ist man vielleicht ein bisschen raus aus der Diskussion. Mir spricht heute niemand mehr mein Können ab. Das wurde früher gemacht, weil ich Sachen anders machte. Bei Männern ist es genial und bei Frauen ist es so, dass sie es eben "nicht besser können". Aber das hat sich bei mir zumindest gegeben, weil ich einfach zu viel gemacht habe. Aber gleichzeitig würde ich sagen, die Geldvergabe ist eindeutig immer noch vom Geschlecht abhängig, Männern traut man mehr zu als Frauen.

Und obwohl mir heute niemand mehr mein Können abspricht, gibt es Gründe, warum ich Projekte wie "Diamond Dance" nicht realisieren kann. Ich habe noch ein anderes Projekt, ein Vampir-Projekt, an dem wir auch wahnsinnig lange rumgestrickt haben und die Finanzierung auch immer noch nicht zusammen haben. Eine Dokumentation kriegt man irgendwie zusammen, dafür braucht man nicht so viel Geld. Doch durch die Länge und durch die komplizierte Reise bei "Chamissos Schatten" bin ich jetzt mit 150.000 Euro Over Budget und ich habe keine Ahnung woher das wieder reinkommen soll.

AVIVA-Berlin: Wir danken Ihnen herzlich für die interessanten Einblicke in Ihre Arbeit und in Ihr Leben und wünschen Ihnen für Ihre zukünftigen Projekte alles Gute - und freuen uns schon darauf!



Weitere Informationen zu "Chamissos Schatten":
Gestaffelter Kinostart: 24.März - 14.April - 12.Mai 2016
Die Termine und Orte erfahren Sie unter:
www.realfictionfilme.de

Ulrike Ottinger im Netz: www.ulrikeottinger.com und www.facebook.com/ulrikeottinger

Sechs Filme von Ulrike Ottinger sind in einer Vorzugsedition neu auf DVD erhältlich.
Mit Unterstützung der FFA wurden aufwendige Digitalisierungen vorgenommen, das analoge Negativmaterial wurde in 2K abgetastet und digital restauriert, so dass die Filme nun erstmals in hervorragender Qualität auf DVD vorliegen.
DORIAN GRAY IM SPIEGEL DER BOULEVARDPRESSE (1984, 150 Min.)
BILDNIS EINER TRINKERIN (1979, 107 Min.)
CHINA. DIE KÃœNSTE - DER ALLTAG (1985, 3-teilig, 270 Min)
CHINA. THE ARTS - THE PEOPLE (1985, 3-teilig, 270 Min)
DIE BETÖRUNG DER BLAUEN MATROSEN (1975, 49 Min.)
LAOKOON & SÖHNE (1973, 47 Min.)
BERLINFIEBER – WOLF VOSTELL. Eine Happening Dokumentation (1973, 12 Min)

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Ulrike Ottinger - Weltreise Die Berliner Künstlerin, Fotografin, Kuratorin und Filmemacherin entwickelte aus ihrer Reise an die Küsten rund um die Beringsee im Sommer 2014 mehrere Großprojekte, die in der Staatsbibliothek zu Berlin und in der Galerie Johanna Breede Photokunst zu erleben waren, ergänzt durch eine Filmreihe im Arsenal und dem nachfolgenden Start ihres neuesten, dazugehörigen Films im März 2016.

Unter Schnee, ein poetischer Dokumentarfilm von Ulrike Ottinger über das japanische Etchigo, das die Hälfte des Jahres "Unter Schnee" liegt. (2011)

"Die koreanische Hochzeitstruhe" (2009). Ursprünglich wollte Ulrike Ottinger nur einen Kurzfilm drehen, einen Beitrag für das Internationale Frauenfilmfestival in Seoul. Auf ihrer Koreareise sammelte sie aber so viel Material, dass ein abendfüllender Dokumentarfilm entstanden ist.

"Südostpassagen" ein Dokumentarfilm von Ulrike Ottinger In ihrem dreiteiligen essayistischen Dokumentarfilm erzählt die Regisseurin von kulturellen Begegnungen - auf einer Reise von Berlin durch Osteuropa, mit zwei Stadtexpeditionen: Odessa und Istanbul (2005)

"Zwölf Stühle" ein Spielfilm von Ulrike Ottinger (2005)

Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland für Ulrike Ottinger am 6. Januar 2009 im Januar 2009 - AVIVA-Berlin reflektiert ihre Arbeiten.

Gender Bias without Borders - erste weltweite Studie zur Diskriminierung gegen Frauen in der globalen Filmindustrie

Pro Quote Regie - Zusammenschluss von Regisseurinnen in Deutschland


Interviewfragen: Helga Egetenmeier und Sharon Adler
Copyright Fotos von Ulrike Ottinger: Sharon Adler
Transkription des Interviews: Christine Langer




Interviews

Beitrag vom 20.03.2016

AVIVA-Redaktion