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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 15.08.2014


Von der Philosophie zum Filmemachen: Interview mit der Regisseurin Nana Ekvtimishvili
Dorothee Kröger

"Georgische Filme mit 14-jährigen Mädchen interessieren niemanden". Im Gespräch über ihren dokumentarischen Spielfilm "Die langen hellen Tage" spricht die Georgierin von der schwierigen Suche...




... nach weiblicher Identität in einer Gesellschaft, in der häusliche Gewalt, Brautentführungen und Waffengeschenke auch heute noch eine Realität konstituieren, die junge Frauen auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden bestimmt.

Nana Ekvtimishvili wurde 1978 in Tiflis, Georgien geboren. Dort studierte sie später zunächst Philosophie, ging dann nach Deutschland an die Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam und machte einen Abschluss in Dramaturgie und Drehbuchschreiben.

AVIVA-Berlin: Wie kam es dazu, dass Sie sich nach dem Philosophiestudium dafür entschlossen nach Deutschland zu gehen und Dramaturgie zu studieren?
Nana Ekvtimishvili: Als ich die Schule beendet habe wollte ich erstmal Bildung sammeln, Bücher lesen, die Welt sehen. Philosophie hat mich damals interessiert, aber das Studium habe ich nach anderthalb Jahren abgebrochen und bin nach Deutschland an eine Filmhochschule gegangen. Ich brauchte unbedingt etwas Künstlerisches, wollte mit Menschen zu tun haben. Film und Kurzgeschichten haben mich immer begeistert. Deshalb dachte ich, das wäre das Richtige für mich: Geschichten schreiben und sie mit Film kombinieren.

AVIVA-Berlin: Gab es einen bestimmten Grund dafür, dass Sie nach Deutschland gegangen sind?
Nana Ekvtimishvili: In den 90ern verließ ich wie viele andere Georgien. Einige gingen arbeiten, andere studieren. Ich wollte unbedingt im Ausland studieren. Deutsch war meine Fremdsprache in der Schule und meine Schwester ist Philologin für die deutsche Sprache.

AVIVA-Berlin: "Die langen hellen Tage" spielt im postsowjetischen Georgien, genauer gesagt in Tiflis im Jahr 1992. Im Zentrum steht die Suche nach weiblicher Identität der zwei Protagonistinnen. Spielen Ihre eigenen Erfahrungen aus dieser Zeit auch eine Rolle?
Nana Ekvtimishvili: Natürlich. Ich war 1992 auch 14 Jahre alt. Ich kann nicht sagen, dass es 100 Prozent ein autobiographischer Film ist. Aber alles, was im Film geschieht, hat mit mir zu tun oder mit meiner Familie, mit meinen Freunden. Es ist alles in meiner unmittelbaren Nähe geschehen.

AVIVA-Berlin: Der Film spielt kurz nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Sie erzählen eine Geschichte zweier junger Frauen, die gesellschaftliche Zwänge überwinden wollen. Wie sah denn das Leben der Frauen der älteren Generation in der Sowjetunion aus?
Nana Ekvtimishvili: Als alles zusammengebrochen ist, waren es die Frauen, die die Familien erhalten haben. Die gearbeitet haben, die Essen für die Familie beschafft haben. Viele Frauen haben im Ausland gearbeitet und das Geld nach Hause geschickt. Ich denke, die Männer waren diejenigen, die sich verloren haben. Die gingen in den Krieg, starben an Straßenauseinandersetzungen in Tiflis, oder Drogen. Es waren die Frauen, die wirklich auf dem Boden blieben.

AVIVA-Berlin: Der Film zeigt die häusliche Gewalt, in der Natia lebt, aber auch Formen der Gewalt, die auf der Straße stattfinden. Ist es Ihre Absicht gewesen, mit dieser Darstellung Kritik zu üben? Und wurden Sie selbst dafür kritisiert?
Nana Ekvtimishvili: Ich wollte einfach darstellen, was ich erlebt habe, was ich damals gesehen habe. Viele fragen mich, ob ich eine Feministin bin und was ich über georgische Männer denke. Als ich das Drehbuch schrieb und wir den Film gemacht haben, hatte ich überhaupt nicht das Gefühl, dass ich jemanden explizit kritisiere oder, dass ich mit dem Finger auf die Männer zeige. Wir wollten die Bilder von damals ohne Kommentar liefern. Unsere Absicht war es, dokumentarisch daran zu gehen.

AVIVA-Berlin: Wie wurde darauf reagiert, dass Sie die Gewalt so offen darstellen?
Nana Ekvtimishvili: Die Reaktion war sehr gut. Die Leute haben angefangen, über die 90er Jahre zu sprechen und von eigenen Erfahrungen zu erzählen zu verarbeiten, zu reflektieren: "Was geschah damals? Was war mit mir los in dieser Zeit?" Es waren auch Leute dabei, die sich Sorgen darüber gemacht haben, was wohl über Georgien gedacht wird, wenn man den Film im Ausland zeigt.

AVIVA-Berlin: Sie haben gesagt, dass Sie eigene Erfahrungen mit eingeflochten haben. Warum war das Thema der weiblichen Identität für Sie selbst so wichtig?
Nana Ekvtimishvili: Wahrscheinlich an erster Stelle, weil ich auch eine Frau bin. Aber ich sehe auch, wie es anderen Frauen geht. Manchmal ärgere ich mich, dass einige von ihnen sagen, es sei doch alles in Ordnung. Vielleicht sagt das diejenige, die nicht von einem Mann verprügelt wird, oder deren Vater ihr eine sichere Kindheit verschafft hat. Aber darüber muss man hinaussehen. Warum ist es eigentlich so, dass man es braucht, von einem Mann "beschützt zu werden"? Auch ohne "Beschützer" sollte man sich wohlfühlen.

AVIVA-Berlin: In Georgien war es lange Zeit üblich, Frauen zu entführen und sie so zur Heirat zu zwingen. Auch heute passiert dies vereinzelt noch. Was können Sie uns über Ihre eigenen Erfahrungen mit den Entführungen erzählen, die Sie im Film zeigen?
Nana Ekvtimishvili: Ich wurde nie selbst entführt, habe das aber im Freundeskreis und in der Familie sehr nah erlebt. Manchmal habe ich überlegt: Ist das wirklich passiert, wie ist das möglich? Ich verstand es nicht. Ist es ein Brauch, ist es ein Verbrechen? Wie stehen die Familien dazu? Das kann doch nicht sein! Wie kannst du als 14-jährige heranwachsende Frau in dieser Gesellschaft überleben, auch innerlich? Dass du einfach du bleibst und dass du deinen Weg findest und nicht den Leuten gehörst, die dich zu irgendetwas zwingen.

AVIVA-Berlin: Lika Babluani und Mariam Bokeria leben als Teenager in Georgien. Inwieweit haben die (Laien)Darstellerinnen durch ihre Erfahrungen heute ihre Rollen mitgestalten können? Spielen sie sich ein wenig auch selbst?
Nana Ekvtimishvili: Auf jeden Fall. Die Schauspieler bringen das Persönliche mit und spielen sich auch ein Stück weit selbst. Wir haben ihnen das Buch nicht zum Lesen gegeben, haben aber lange Zeit mit ihnen geprobt und die Figuren auf diese Weise gemeinsam geschaffen. Sie haben es wirklich von Herzen, mit Gefühl und sehr viel Intuition gemacht. Wir könnten denken: "14-jährige Mädchen wissen noch nichts vom Leben". Doch sie besitzen eine Art Weisheit, die du vielleicht bei Erwachsenen nicht finden kannst. Weil sie so ehrlich, so unvoreingenommen sind. Das haben sie auf jeden Fall mit in den Film reingebracht.

AVIVA-Berlin: Die Thematik des Films beschäftigt Sie, wie Sie sagen, seit Ihrer Jugend. Wie lange haben Sie an "Die langen hellen Tage" gearbeitet?
Nana Ekvtimishvili: 2008 war das Buch fertig. Anderthalb Jahre lang haben wir nach Produktionen in Deutschland und Georgien gesucht, doch das Thema Georgien und zwei 14-jährige Mädchen waren nicht interessant genug. Dann hat Simon in Deutschland und wir beide in Georgien eine Produktionsfirma gegründet und selbst den Film produziert. Wir haben bis 2012 gedreht und 2013 hatten wir Premiere auf der Berlinale.

AVIVA-Berlin: Ihr Film wurde mit einer Vielzahl von Preisen prämiert. Unter anderem den C.I.C.A.E. Prize der "Confédération Internationale des Cinémas d´Art et d´Essai" bei den 63. Internationalen Filmfestspielen Berlin oder der Nominierung für den diesjährigen Oscar. Was fasziniert die Menschen an Ihrem Film?
Nana Ekvtimishvili: Was den Zuschauer fasziniert, ist die Ehrlichkeit der beiden Mädchen, die eigentlich nicht wissen, was sie machen, wie sie leben oder wie sie weitergehen sollen. Ich glaube, Film lebt an erster Stelle von Figuren. Und die Menschen können diese beiden Mädchen sehr gut verstehen und sehr gut spüren. Das war in jedem Land so.

AVIVA-Berlin: Was waren die größten Herausforderungen?
Nana Ekvtimishvili: Die Schwierigkeit war die Finanzierung. Wir wussten nicht, ob wir den Film drehen können, weil es in Georgien nur eine Filmförderung gibt, Georgia National Film Center. Die hat sehr wenig Geld und konnte bisher nur zwei Filme finanzieren. 2011 haben wir die Förderung bekommen, das waren nur 100 000 Euro. Dann haben wir in Frankreich eine Koproduktion gefunden und in Deutschland haben die Sender ZDF/arte und das BKM das Projekt gefördert.

AVIVA-Berlin: Stellen Sie sich vor, Sie würden in 20 Jahren einen Film über das heutige Georgien machen. Wovon würden Sie erzählen wollen?
Nana Ekvtimishvili: Rache ist ein großes Thema. Es hat in letzter Zeit viele Regierungswechsel in Georgien gegeben. Ich frage mich immer, wie wird Macht ausgenutzt, wie damit umgegangen? Heute ist derjenige Präsident oder derjenige ein Minister…will er sich jetzt dafür rächen, wie er in früherer Zeit behandelt wurde? Spielen die Rachegefühle mit, oder nicht?

AVIVA-Berlin: Können Sie sich auch andere Themen vorstellen?
Nana Ekvtimishvili: Sexuelle Minderheiten und wie sich die Kirche diesen gegenüber verhält. Vor einem Jahr, am 17. Mai, gab es eine Demonstration. Es ging um schwule und lesbische Rechte, gegen die die Kirche ist. Dabei wurden Leute verprügelt.
Viele Menschen in Tiflis meinen: "Ja, die sollen machen, was sie wollen. Aber sie sollen nicht in die Öffentlichkeit treten". Mit Outing können sie überhaupt nicht umgehen. Viele dürfen überhaupt nicht sagen und äußern, wie sie sind. Sie werden regelrecht, vor allem von der Kirche, aufgefordert, sich versteckt zu halten.

AVIVA-Berlin: Sie selbst studierten eine Zeit lang an der HFF Potsdam. Wie hat sich ihr Blick auf Georgien durch Ihren Aufenthalt in Deutschland verändert?
Nana Ekvtimishvili: Diese Zeit war für mich sehr wichtig. Die Distanz zu meiner Heimat hat sehr vieles für mich verständlich gemacht. Die Distanz hilft einem zu verstehen, was einem wichtig ist oder nicht. Als ich nach einer Weile zurück nach Georgien ging, viel mir plötzlich auf, dass in Tbilisi überall Berge zu sehen sind, dass die Landschaft so anders ist... wenn in meiner visuelle Wahrnehmung solche Dinge passieren, dann passieren auch Veränderungen in meiner inneren Wahrnehmung.

AVIVA-Berlin: "Die langen hellen Tage" ist Ihre vierte filmische Produktion. Neben einem weiteren Spielfilm haben Sie einen Kurzfilm und eine Dokumentation gemacht. Welche filmischen Erfahrungen haben Sie in "Die langen hellen Tage" eingebracht?
Nana Ekvtimishvili: Du bringst alle Erfahrungen ein, die Du in deinem Leben gemacht hast. Egal ob das mit einem Film zu tun hat oder nicht. Die Erfahrung einen Film gedreht zu haben, ist wichtig für den nächsten Film. Vielleicht löst du die Probleme dann anders beim nächsten Film. Insgesamt wirst du sicherer. Aber die Erfahrungen, die du generell in deinem Leben gemacht hast, sind auch sehr wichtig, da beim Filme machen nicht nur technische, sondern auch menschliche Fragen auftreten. Die menschliche Erfahrung brauchst du am allermeisten.

AVIVA-Berlin: Können Sie uns einen Ausblick auf Ihr kommendes Buch oder einen kommenden Film geben? Woran arbeiten Sie gerade?
Nana Ekvtimishvili: Ich habe einen Roman geschrieben, der demnächst in Georgien erscheinen wird und ein Buch für den nächsten Film ist auch in Arbeit: "Meine glückliche Familie" wird der Film heißen und einen Einblick in eine georgische Großfamilie in der heutigen Zeit bieten.

AVIVA-Berlin: Nana Ekvtimishvili, vielen Dank für das Gespräch!


"Die langen hellen Tage" startete am 12. August 2014 im Kino. Weitere Infos zum Film unter:

www.dielangenhellentage.de und auf Facebook

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"Die langen hellen Tage"

Copyright Foto von Nana Ekvtimishvili: Dorothee Kröger



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Beitrag vom 15.08.2014

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