Interview mit Kerstin Grether - An einem Tag für rote Schuhe - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Interviews



AVIVA-BERLIN.de im Oktober 2024 - Beitrag vom 02.07.2014


Interview mit Kerstin Grether - An einem Tag für rote Schuhe
Christina Mohr

Sie hat nicht nur den Pop-Feminismus für Deutschland erfunden, sondern ihn auch gleich noch in ihrem Debüt "Zuckerbabys" sowie in der Musikgeschichten-Sammlung "Zungenkuss" (Suhrkamp 2007) veredelt




Kerstin Grether ist Mitherausgeberin des Standardwerks "Madonna und wir" und war eine der Organisatorinnen der Berliner SlutWalk-Demonstrationen sowie anderer pop-feministischer Happenings.
Kerstin Grether ist außerdem Sängerin und Songwriterin bei Doctorella (Album: "Drogen und Psychologen") und arbeitet seit ihrer Jugend als Popkultur-Journalistin, derzeit u.a. wieder für "Spex".

Das Buch, "An einem Tag für rote Schuhe":

Die Harmonielehre hat Clarissa, besser bekannt als Lilly Vegas, kein Glück gebracht: Die Sängerin des Electro-Swing-Duos Café Prag ist aus heiterem, nur ganz leicht bewölktem Himmel von ihrer großen Liebe Ivor verlassen worden. Mit ihm verlor die in Berlin lebende Deutsch-Britin auch den letzten musikalischen Verbündeten. Es ist ein langer Winter, und es ist noch nicht mal Weihnachten, da nimmt das Drama seinen Lauf...
Auch im Nachfolgeroman zu ihrem Debüterfolg "Zuckerbabys" erweist sich Kerstin Grether als Meisterin des Tabubruchs mit poetischem Nachhall. "An einem Tag für rote Schuhe" ist sowohl ein melancholisches Wintermärchen als auch ein Aufruf zur Revolte! Ein atmosphärisch dichter, psychologisch feinsinniger Roman, eine lyrisch-überdrehte Feier von Freundschaft, Rock´n´Roll, Queerness, Mut, Zusammenhalt und Exzentrik. "An einem Tag für rote Schuhe" ist leuchtendes Manifest gegen die allgegenwärtige Rape Culture. Wie nebenbei wird das Musikgeschäft präzise beschrieben, wie es seine weiblichen Genies auflaufen lässt, sie in den Wahnsinn treibt und mit Gewalt an tradierten Geschlechternormen festhält.

AVIVA-Berlin: Was repräsentieren für dich die roten Schuhe? Das geht doch sicher über modische Vorlieben hinaus...

Die roten Schuhe feiern Triumphe, sie weisen einen magischen Weg nach Hause, wie im "Zauberer of Oz", mit dessen Motiven der Roman auch ein wenig spielt. Nach Hause, zu sich selbst. Rote Schuhe sind sowohl Accessoire als auch Attitude. Vielleicht auch Stimmungs-Attitude. Die Heldin Lilly Vegas trägt rote Schuhe um zu zeigen, ich bin präsent, ich habe keine Angst, ich habe auch keine Angst aufzufallen, ich verstecke mich nicht länger. Ich will lieber tausend fremde Blicke ertragen als mich noch einmal von einer Halluzination in die Ecke drängen zu lassen. Ich komme damit durch jeden Sturm. Sie sind wie eine Heilung für eine Sängerin, die immer wieder in Psychosen gerät und die sich davon nicht die Laune verderben lassen will. Mit den roten Schuhen kommt man auch durch einen Anflug von Wahnsinn hindurch. Sie repräsentieren ihn und durchschreiten ihn zugleich.

Es ist ein Aufschrei von Exzentrik, aber im Laufe der Geschichte, in der es auch rote Hufen, rote Motorradreifen oder den Ort Redfield gibt, wird Lilly Vegas klar, dass rote Schuhe aber auch als erotisches Zeichen missverstanden werden können. So nach dem Motto: "Du willst es doch auch", werden Kleidungsstücke wie z.B. rote Schuhe als Entschuldigung betrachtet, Frauen sexuell zu belästigen. Mit den roten Schuhen treffe ich also auch eine der Aussagen der SlutWalk-Bewegung: Kein Kleidungsstück rechtfertigt sexualisierte Gewalt. Sie sind keine Aufforderung zur Anmache, trotz ihrer Signalfarbe. Und nicht zuletzt sind dann die roten Schuhe auch Symbol für den Aufstand selber, der ja im linken Spektrum stattfindet, für die Demonstrationen, den Aufschrei gegen sexualisierte Gewalt und gegen ein Denken, das Betroffenen eine Mitschuld gibt.

Ein Tag für rote Schuhe ist aber auch einfach ein Tag, an dem eine oder einer sich gut fühlt und Lust hat mit der Umgebung in einen Dialog, in einen magischen Dialog zu treten. Es hat etwas von einem Feuer, das um die Beine spielt. Eine dann wieder von der Attitude zum Accesoire gewordene Gefahr, der man sich gewachsen fühlt.

AVIVA-Berlin: In einem Interview sagst du, dass du in den vergangenen Jahren 300 Tagebücher geschrieben und aus den Aufzeichnungen auch deine Romanfigur gebaut hast - würdest du "An einem Tag..." als autobiographisch bezeichnen? Oder trennst du das lieber?

Das trenne ich auf jeden Fall. Wenn ich eines Tages mal meine "Autobiographie" schreiben sollte, dann werde ich das dick und fett auf dem Cover vermerken. Solang da "Roman" draufsteht, ist es auch Fiktion. Meine Romane sind keine Schlüsselromane. Ich interessiere mich absolut nicht dafür, Situationen, wie sie wirklich stattgefunden haben, abzupinseln oder Personen, die es wirklich gibt, unentfremdet dar- oder gar bloßzustellen. Das birgt die Gefahr, dass man im Roman Rache nimmt an echten Personen. Das schmeckt mir nicht. Ich interessiere mich für gesellschaftliche Zusammenhänge und für Menschen. Der Roman ist ein Nachbau der Wirklichkeit, eine Fiktion, eine Schöpfung. Natürlich aus der Wirklichkeit abgeleitet, natürlich steckt auch viel von mir in den Personen. Oder von Menschen, die ich kenne. Ich habe dieselben Identifikationsstrategien wie beim Songschreiben. Ich lote meine Abgründe aus, versuche an meinen Schmerz ranzukommen, arbeite mich an meinen Themen und Erfahrungen ab. Denn sonst ist alles Schreiben wertlos. Aber die Konsequenz daraus ist nicht, es 1:1 aufzuschreiben, sondern das Gegenteil davon zu machen: ich denke bei jedem Thema an die Seelen- und Geistesverwandten und die Leidensgenossen hin. Es gibt doch bei jedem Problem eine Menge an Leuten, die ebenfalls solche Erfahrungen gemacht hat. Ich überlege mir einen Durchschnitt der Erfahrungen und baue daraus wieder eine individuelle Geschichte. Die aber dann nicht mehr meine Geschichte ist, sondern die von möglichst vielen Menschen. Ich weiß genau, dass viele Sängerinnen, die versucht haben in der Öffentlichkeit durchzuhalten, mit ähnlichen Zuschreibungen zu kämpfen und ähnliche Dinge erlebt haben wie Lilly Vegas.
Es ist also unter vielem anderen auch die exemplarische Geschichte einer Sängerin. In meinem Buch spiele ich auch noch mit der Paranoia. Sie gerät ja wirklich in Psychosen. Ich habe Knut Hamsun "Hunger"-mäßig den sogenannten unzurechnungsfähigen Erzähler gewählt, wie James Wood in seinem Buch "Die Kunst des Erzählens" diese Perspektive nennt. Denn der unglaubwürdige Erzähler ist der einzige Glaubwürdige aus der Sicht des Lesers. Das hat mir einen irren Spaß gemacht.

Oder das Thema "sexualisierte Gewalt": Die meisten Betroffenen von sexualisierter Gewalt kennen diese Schamgefühle, durch die man hindurch muss, um sich darüber mitzuteilen. Dabei gebe ich mir beim Schreiben immer selbst die Weisung, diese Gemeinschaftserfahrungen möglichst unpädagogisch, möglichst schillernd und auch möglichst wiederum unallgemein aufzuschreiben. Weil ja auch jeder Mensch anders ist, und ich will ja auch keine Reportage schreiben. Und so ist es dann am Ende tatsächlich meine Geschichte, nur eine andere als die, die ich erlebt habe geworden. Meine Gefühle sind in dem Buch enthalten, also trifft es das Wort "Tagebuch" dann doch.

AVIVA-Berlin: Autobiographisch oder nicht: Der Roman bringt viele Themen zusammen, die ja z.T. auch schon in "Zuckerbabys" angelegt waren - hattest du ein solches "Großwerk" im Sinn oder kam das erst beim Schreiben?

Ich hatte von Anfang an ein "Großwerk" im Sinn. Wie im wirklichen Leben gibt es ja nicht nur ein Thema, aus dem menschliche Erfahrung sich bildet. Ein Roman ist ja ein Kunstwerk, in dem sich viele Themen zu einer Erzählung, einer Geschichte verdichten. Ich halte nichts davon, von Anfang an klein an Romane ranzugehen. Ich denke ja immer, mehr ist mehr. Aber dafür musste ich mir auf der Ebene der Konstruktion auch ein "Weniger" erarbeiten: Die ganze Geschichte spielt bewusst in einem einzigen Wintermonat zwischen den Jahren. Sie spielt in drei überschaubaren Vierteln in Berlin, auch wenn Lilly einmal eine Reise aus Berlin heraus macht, wo sie auch prompt verrückt wird. Der Roman wirft also einen Augenblicks-Blick auf all diese Themen. Denn wenn man in einem Atemzug über die Wucht einer plötzlichen Freundschaft, Liebeskummer, sexualisierte Gewalt, "das Böse" an sich, Schulhofmobbing, Freundschaftsverrat, Schlaflosigkeit, Nachtmenschentum, Protestkultur, Zwillingsdasein, Psychosen, Homosexualität, Erinnerungsbuch für Amy Winehouse, Rock`n´ Roll und die spezifischen Ausschlüsse von Frauen in der Musikwelt schreibt, dann braucht die Geschichte ein wiedererkennbares, verdichtendes Setting, bei mir sind das auch die schönes Cafés in Berlin, ein sehr kalter, sehr schneereicher Winter in Berlin, eigentlich ganz einfach. Überschaubar. Ich wollte mal all diejenigen ärgern, die sich über die "Latte Macchiato-Boheme" erheben. Immerhin ist ja der Erfinder des Romans, Balzac, an seinem Kaffeekonsum gestorben. Da kann man schon mal den Kaffee zum Königsgetränk erheben. (lacht) Wenn ich mir das Buch jetzt so durchlese, dann freue ich mich darüber, wie atmosphärisch das alles ist. Als ob in dem dichten Schnee genug Platz wäre für all die Fußspuren. Lustig, sowas mitten im Hochsommer zu veröffentlichen.

AVIVA-Berlin: Wie gelingt es dir, alle Fäden weiterzuverfolgen? Wie arbeitest du- falls du das preisgeben möchtest?

Das größte Kompliment, das ich zu den roten Schuhen erhalten habe, war von meiner Lektorin Sonja Vogel, die meinte: "Respekt, der Roman ist rund. Alle Handlungsstränge gehen auf." Ich glaube man merkt beim Lesen, dass es mir zunehmend Spaß gemacht hat, alle Handlungsstränge und Gedanken immer weiter zu verfolgen und miteinander zu verbinden. Es gibt beim Romaneschreiben immer den Punkt, wo man locker lassen und zulassen muss, dass die Figuren und die Geschichte ein Eigenleben entwickeln. Die Begegnungen und die Gespräche zwischen Jasmina und Lilly haben sich beim Schreiben als stabiles Gerüst erwiesen. Als Herzschlag des Buchs.

Ich hätte dieses Buch, das ja auch seine Frische und seine Frechheit aus dem Inneren der Protestbewegungen der zehner Jahre zieht, so nicht schreiben können, ohne selber mehrere, auch verschiedene, Demonstrationen mitzuorganisieren. Denn dadurch hatte ich über Jahre hinweg einen realen Austausch zum Thema sexualisierte Gewalt im Speziellen und Gewaltverhältnisse im Allgemeinen. Was vor allem beim Thema "sexualisierte Gewalt" sehr hilfreich war. Denn es ist ja ein "Stille Kämmerlein"- Thema. Aber wenn man Pressesprecherin des SlutWalk war, dann erschüttert es einen nicht mehr so, darüber zu reden. Ich konnte das dann ganz leichtfüßig erzählen, was ich 20 Jahre lang kaum zu denken wagte. Es kam mir dann sogar sehr einfach und privat vor, weil, wenn man mal vor einer Reuters oder einer Spiegel-Online-Kamera gestanden hat, dann fühlt es sich wie die totale Freiheit an, das Thema für sich selbst in einem Roman gestalten zu können. Ohne den naturgemäß richtigen "Druck" einer Gruppe oder einer Bewegung dahinter. Es hat mich in der Annahme bestätigt, dass man, wenn man eine schwierige Sache in Angriff nehmen muss, sie sich dadurch erleichtert, dass man sie zunächst noch mehr verkompliziert.

Der Literaturbetrieb in Deutschland, vor allem die Verlage, ist ja wahnsinnig konservativ, das darf man bei aller gutgelaunten und aufgeregten Debattenkultur nicht vergessen. Die kriegen es gleich mit der Angst zu tun, wenn einmal eine feministische Protagonistin durch einen zeitgenössischen Roman stapft, die nicht davon abzubringen ist, dass wir in einer sexistischen Gesellschaft leben. Es herrscht ja die auch berechtigte Auffassung eine gute Romanfigur müsse ambivalent sein. Damit gehe ich d`accord. Womit ich aber nicht einverstanden bin, ist die Auffassung, dass eine Romanfigur, die eine politische Meinung vertritt, dadurch zu einer allzu eindeutigen, abgrundlosen Figur verkommt. Da kommen wieder die Vorurteile gegenüber Feministinnen ins Feld, die auch meiner Erfahrung nach die meisten Frauen im Literaturbetrieb hegen und pflegen.

Nun halte ich also dagegen, dass ein Mensch mit einer eindeutigen politischen Meinung zu einem Thema trotzdem noch eine ambivalente Figur sein kann. Es sind ja in der Wirklichkeit die Feministinnen, die die Möglichkeiten des Lebens erweitert haben. Es kann mir echt kein Mensch und auch kein verkappter Konservativer bei irgendeinem Verlag, der aber natürlich ganz liberal sein will, erzählen, dass der Kampf für die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen eine Verengung der menschlichen Möglichkeiten im Roman bedeutet.
Lustigerweise sind es gerade Männer, die mit meinem Roman anscheinend viel anfangen können. Das freut mich sehr und straft all jene Lügen, die befürchteten, es könnte sich um männerfeindliche Erweckungsliteratur handeln. Allein die Vielfalt der Medien, die in dem Buch vorkommen: Songzeilen, Aufsätze, eigene Lyrics, Demonstrationsprotokolle, zeigen ja, dass ich durchaus vorhabe, den Pop-Roman zu erneuern. Meine Popromane handeln nicht nur von der Gegenwart, sondern auch von der Zukunft. Und der kommende Aufstand wird weiblich sein, oder er wird nicht sein.

AVIVA-Berlin: Auffällig sind deine poetischen Bilder/Beschreibungen, z.B. wie Lilly Vegas "wie von einer Malerin aus den Zwanziger Jahren gemalt" im Café sitzt. Formst du erst solche Bilder oder schreibst du in längeren Zusammenhängen?

Ich habe eine sehr bildhafte Art zu denken. Die Metaphern fallen mir beim Schreiben in längeren Zusammenhängen spontan ein. Das ist eine assoziative Gabe, ohne die ich mir wahrscheinlich den Beruf der Schriftstellerin nicht zutrauen würde. Die Metaphern, Bilder, Ebenen laufen mir einfach zu. Sie müssen spontan einleuchten um zu wrken. Ich arbeite aber schon durchaus mal länger an einer Metapher und arbeite sie in verschiedene Richtungen aus.


Kerstin Grether
An einem Tag für rote Schuhe

Ventil Verlag, 1. Auflage erschienen Mai 2014
Gebunden, 368 Seiten
ISBN-13: 978-3955750152
www.ventil-verlag.de

Der Song zum Buch: "Ich brauche ein Genie"/ Doctorella
www.youtube.com

Mehr zu Kerstin Grether unter:
www.kerstin-grether.de

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