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Beitrag vom 06.03.2014
Schreiben ist ein Hinwenden zu den Dingen, die mir Angst machen - Katharina Hartwell im Interview
Evelyn Gaida
In ihrem außergewöhnlichen Debütroman "Das fremde Meer" erzählt Katharina Hartwell in zehn Geschichten Variationen einer tiefen Liebe, Variationen der Angst, die ihre lähmenden Finger ...
... zusammenschließt wie der Tod, und Variationen einer Rettung. Erzählen ist für die 29-jährige Anglistin, Amerikanistin und Absolventin des Deutschen Literaturinstituts Leipzig im Gegensatz zum Verstummen ein existenzielles Medium der Veränderung, des Verstehens und der Hoffnung. Im Interview mit AVIVA-Berlin spricht Hartwell über das Mysterium des Schreibens, Sinnkrisen, leitende Themen und das Misstrauen, das ihr speziell als junger Autorin begegnet.
AVIVA-Berlin: Wie bist du zum Schreiben gekommen?
Katharina Hartwell: Ich habe schon immer geschrieben. Als Kind habe ich, sobald das ging, Geschichten erzählt und am Anfang eher Zeichnungen gemacht, dann immer mehr mit Buchstaben (lacht).
AVIVA-Berlin: War das für dich eine natürliche Entwicklung, Schriftstellerin zu werden, oder etwas, das sich langsam herauskristallisieren musste?
Katharina Hartwell: Nein, ich glaube, das war schon relativ schnell klar, weil es für mich immer ein Kommunikationsakt war. Ich wollte nie nur für mich schreiben, sondern immer auch einen Empfänger haben. Als Kind habe ich das, was ich geschrieben habe, Leuten aus meinem Umfeld gegeben, aber es ist dann mit mir gewachsen, dass ich dachte, der Kreis derer, die ich erreichen möchte, soll größer werden. Es hat mich durch die Jugend und das Erwachsenwerden begleitet, dass sich die Wünsche oder Vorstellungen dem angepasst haben.
AVIVA-Berlin: Deine Vita liest sich sehr zielstrebig und erfolgreich. Marie, die Hauptfigur deines Romans, befindet sich dagegen in einer großen Sinnkrise. Wie bist du zu dem Thema gekommen oder wie ist das Thema zu dir gekommen?
Katharina Hartwell: Ich glaube schon, dass das miteinander verbunden ist. Ich hatte auf jeden Fall auch diese Sinnkrise. Die Realität kollidiert immer mit den Vorstellungen, die man selbst hat. Für mich war es so, dass ich lange Zeit sicher war, dass ich promovieren werde und ich habe mich in dem universitären Umfeld in Frankfurt auch sehr wohl gefühlt. Als ich dann meine Magisterarbeit geschrieben habe, habe ich gemerkt, ich schaffe das nicht. Ich kann nicht versuchen, eine akademische Karriere anzustreben und gleichzeitig zu schreiben, weil beide Felder einem wahnsinnig viel abverlangen. Es war schon so, dass man sich fragt, "Was mache ich hier eigentlich? Ist das jetzt das, was ich die nächsten zehn Jahre machen will?" Das war etwas, das ich sehr gut kannte.
AVIVA-Berlin: In deinem Roman kommt viel Übersinnliches, auch Spirituelles vor, was eine sehr konträre Welt zur akademischen ist. Ist dir ein rein wissenschaftsdominierter Zugang zur Wirklichkeit unheimlich?
Katharina Hartwell: Ich habe mich in meinem Studium sehr viel mit Themen wie Geisterfotografie und der kulturellen Rezeption des Übersinnlichen beschäftigt. Das waren Themen, die mich sehr interessiert haben und mich immer noch interessieren. Womit ich im Akademischen gehadert habe, war, dass du sehr stark an diesen formellen Rahmen gebunden bist. Das hat mir überhaupt nicht gelegen, diese Fußnoten und Belege und das richtige Zitieren, dass alles immer hundertprozentig korrekt sein muss. Dadurch habe ich mich sehr eingeengt gefühlt. Meine Protagonistin Marie sitzt manchmal in der Bibliothek und denkt, "Das ist alles so unwichtig" oder "Das ist so tot". Das geht beides zusammen. Ich habe mich sehr für das Thema meiner Magisterarbeit und die Seminare interessiert, aber den bürokratischen Teil habe ich einfach gehasst.
AVIVA-Berlin: In deinem Roman geht es viel um Ängste. Ein leitendes Thema der Geschichten ist, aus einem Zustand der Lähmung herauszukommen. In einem Artikel für DIE ZEIT hast du Angst auch als Antrieb bezeichnet. Wann wird Angst für dich zur Lähmung oder zum Antrieb?
Katharina Hartwell: Ich weiß es gar nicht so genau. Aber es ist auf jeden Fall für mich ans Schreiben gekoppelt, im weitesten Sinne, oder eher ans Kommunizieren und die Sprache. Für mich ist es immer so: Bin ich noch in der Lage, das irgendwie zu sprechen? Dann ist es eher ein Antrieb. Ich würde ganz anders schreiben, wenn ich ein glücklicher, ausgeglichener Mensch wäre. Für mich ist das Schreiben maßgeblich ein Hinwenden zu den Dingen, die mir Angst machen. Die Kehrseite ist, dass es Situationen oder Ängste gibt, bei denen ich nicht mehr das Gefühl habe, die inspirieren mich jetzt oder die möchte ich in narrative Strukturen packen. Meist kommt dann aber der Punkt, wo ich darüber sprechen oder schreiben möchte. Wenn er nicht kommt, sind das, glaube ich, die sehr unguten Momente.
AVIVA-Berlin: Du hast also nicht viel Erfahrung mit der Angst vor dem Schreiben selbst, Schreibblockaden und der Furcht vor dem weißen Papier?
Katharina Hartwell: Nein, weil es für mich genau andersherum funktioniert. Für mich ist das Schreiben das Antidote zu allem im Leben (lacht).
AVIVA-Berlin: In den zehn Geschichten geht es auch immer um Variationen einer Rettung. Obwohl für Marie eine Katastrophe eintritt, ist es ein sehr hoffnungsvolles Buch. Schafft Marie sich durch das Schreiben eine Gegenwelt?
Katharina Hartwell: Ja, für mich hat es bisher immer funktioniert. Ich habe immer noch das Gefühl, nichts ist bisher so schlimm gewesen, dass ich denke, es lohnt sich nicht mehr zu schreiben oder zu sprechen, dass einen etwas endgültig verstummen lässt. Also, ich kenne das schon, dass man das Gefühl hat, ich kann nicht mehr… Schreiben ist etwas so Produktives und sehr Hoffnungsvolles für mich und das ist das Erzählen auch für die Protagonistin des Romans. Ich glaube, so lange man in all der Angst und dem Horror so ein zuversichtliches Fundament hat, geht es irgendwie noch. Ich denke immer, wir können Sachen besser machen, indem wir sie erzählen oder indem andere das hören oder lesen, was wir erzählt haben.
AVIVA-Berlin: In deinem Roman wird das Erzählen auch selbst zum Thema. War das von Anfang an so geplant oder war das ein Nebeneffekt der Rahmenhandlung?
Katharina Hartwell: Es war genau andersherum. Die Rahmenhandlung, diese Liebesgeschichte, kam erst sehr viel später. Mein erster Impuls oder die erste Idee war: Ich möchte über das Schreiben oder über das Erzählen schreiben. Was ist die Funktion von Fiktion, von Geschichten? Ich wusste auch, ich möchte diese zehn Geschichten, ich möchte mit unterschiedlichen Erzählformen arbeiten. Dann brauchte ich aber etwas ganz Dringliches oder Großes, was das alles zusammenhält. Ich wollte nicht irgendein komisches Formexperiment machen, sondern diese zehn Geschichten mussten eine Existenzberechtigung haben.
AVIVA-Berlin: Als Marie diese Katastrophe erlebt – wie versetzt man sich in so etwas hinein?
Katharina Hartwell: Ich glaube, das ist das Mysterium. Das Schreiben ist ja immer auch eine Anmaßung. Ich möchte auf keinen Fall nur die Sachen schreiben, die mir selbst passiert sind. Es läuft für mich ganz viel über Empathie und über ein Sich-Hineinversetzen in mögliche Szenarien und mögliche Figuren. Bei Maries Erfahrung wusste ich irgendwie, ich kann das. Ich weiß aber nicht, wie oder warum das funktioniert. Ich weiß nur, dass ich vor bestimmten Dingen zurückscheue und denke, die kann ich halt nicht und das versuche ich auch gar nicht. Man merkt ja, ob man emotional gerade sehr involviert ist und ob die Gefühle authentisch sind. Wenn ich das schreibe, bin ich total aufgerieben und aufgewühlt und mitgenommen. Ich fühle das wirklich und dann kann ich das auch schreiben. Es gibt aber Sachen, bei denen ich sage, das könnte ich nicht. Ich wüsste zum Beispiel nicht, wie es sich für Eltern anfühlt, ein Kind zu verlieren. Da muss ich gar nicht erst aufbrechen und hingehen, ich komme da nirgendwo an. Das fände ich anmaßend ohne einen Boden.
AVIVA-Berlin: Deine Figuren im Roman kollidieren immer mit gesellschaftlichen Konventionen. Was fasziniert dich an Außenseitern?
Katharina Hartwell: Vielleicht sind es Figuren, an die ich leichter andocken kann, die ich besser verstehen kann. Wenn es um das Empathische geht, habe ich da weniger Schwierigkeiten, mich hineinzuversetzen, weil ich selbst kein so konformer Mensch bin (lacht).
AVIVA-Berlin: Dein Debütroman war ein Erfolg, du machst Lesereisen und gibst Interviews. Warst du darauf vorbereitet?
Katharina Hartwell: Ich dachte, ich wäre gut darauf vorbereitet, aber ich war auf vieles dann nicht vorbereitet. Wenn die Realität kommt, ist sie doch überraschend anders, als man gedacht hat. Ich bin leider ein sehr unzufriedener Mensch. Meine Grundhaltung ist: Ich will immer mehr, immer schneller, immer lauter. Ich mache mir immer noch mehr Druck.
AVIVA-Berlin: DIE WELT betitelte ihre Rezension deines Romans mit "Das Prosamädchen und sein Märchen". Wie erlebst du den Literaturbetrieb und die Rezeption deines Debüts speziell als Autorin?
Katharina Hartwell: Ich empfinde es so, dass es ein sehr großes Misstrauen gibt, ob man wirklich etwas zu sagen hat und ob man wirklich etwas weiß. Ich habe bei Lesungen oder Veranstaltungen oft das Gefühl, dass man sehr kritisch und mit einem ironischen Lächeln befragt wird, ob es denn stimmt, dass man wirklich 600 Seiten lang etwas zu erzählen hatte. Man ist ja auch jung, ich glaube, das kommt noch dazu, das ist eine Kombination von beidem. Und es ist das erste Buch. Bevor das Buch herauskam, war ich aufgeregt, weil ich dachte, mich werden sehr viele Leute zur Quantenphysik befragen, weil das eine Rolle in dem Roman spielt. Aber das ist einfach nie passiert. Auf den ersten drei, vier Lesungen war ich noch irritiert, dass ich immer nur nach der Liebe gefragt werde und was mein Konzept von der Liebe ist. Nach der fünfzehnten Lesung habe ich dann verstanden, dass mich niemals jemand zur Quantenphysik fragen wird.
AVIVA-Berlin: Denkst du, als männlicher Autor wäre das anders gewesen?
Katharina Hartwell: Ich glaube, dass der Roman auf jeden Fall unter einem anderen Schwerpunkt gelesen worden wäre und andere Fragen gestellt worden wären. Mich hat es überrascht, dass der Liebesaspekt so dominant war, weil er nicht Teil des ersten Gedankens war und dessen, was mir als Erstes so wichtig war. Aber ich glaube, dieser Fokus der Rezeption dekonstruiert sich von selbst. Ich weiß ja, was mein roter Faden ist und welche Themen wiederkommen werden. Ich werde in den nächsten Jahrzehnten nicht noch fünfzehn Liebesromane schreiben. Für mich ist mein Debüt eher ein Angstroman, als ein Liebesroman gewesen und der rote Faden wird eher der Verlust, das Verschwinden und der Horror sein. Es ist ja auch viel Horror in dem Buch.
AVIVA-Berlin: In deinem Roman werden Geschlechterrollen vertauscht und vermischt. Treibt das Infragestellen von feststehenden Geschlechterrollen dein Schreiben auch an?
Katharina Hartwell: Klar, Gruppenzuschreibungen generell. Ich glaube eher an die Hyperindividuellen. Die Figuren sind so hyperindividuell, die funktionieren nicht nach so großen Zuschreibungen. Das sind die interessanten Figuren, über die ich etwas erzählen möchte. Deswegen läuft es dann klar gegen klassische Vorstellungen, sowohl bei Frauen als auch bei männlichen Figuren. Das funktioniert auf allen Ebenen so.
AVIVA-Berlin: Wie läuft es mit dem nächsten Roman? Gibt es eine Verbindung zum Debüt?
Katharina Hartwell: Es läuft gut (lacht). Ich bin fertig mit dem Erstentwurf. Es ist schon ein sehr anderes Buch. Ich finde es schön, wenn Autoren einen überraschen. Ich denke, es gibt schon Parallelen und ich kann wahrscheinlich nur auf ein bestimmtes Arsenal von Figuren zugreifen, aber der Ton ist anders und es ist eine ganz andere Atmosphäre.
AVIVA-Berlin: Brauchst du einen bestimmten, zündenden Moment, um so etwas anzugehen? Wie arbeitest du?
Katharina Hartwell: Unterschiedlich und meistens eine Kombination von verschiedenen Dingen. Es gibt auf jeden Fall einen Fundus an Themen, die mich interessieren. Familie ist wichtig für mich und das Verschwinden, Dinge, die verloren gehen. Das können Orte, Menschen, Sachen sein. Das ist wie eine Leinwand, aber schließlich muss es ein bestimmtes, zündendes Detail geben. Manchmal reicht eins, manchmal ist es ein bestimmter Aspekt, der lange hängt und man weiß, es fehlt noch irgendetwas, das dann dazukommt. Dann fügen sich die Dinge. Bei dem neuen Roman hat mich eine Dokumentation, die ich gesehen habe, nicht mehr losgelassen, mich so beunruhigt und auf eine ungute Weise fasziniert, dass ich dachte, ich verstehe das überhaupt nicht. Meist ist es, glaube ich, dass ich denke: Ich verstehe das überhaupt nicht. Eine Sache, der ich auf den Grund gehen möchte: Wie Menschen in bestimmten Situationen funktionieren. Es muss immer so sein, dass ich überhaupt keinen Boden sehe, da zwei Jahre lang reinspringen und versuchen kann, es zu verstehen, ohne dass es mich langweilt. Es darf mich nicht langweilen.
AVIVA-Berlin: Also Dinge, die du noch nicht aufgeschlüsselt hast?
Katharina Hartwell: Dinge, die mir rätselhaft sind, die ich aber wiedererkenne. Zum Beispiel die Familie ist so rätselhaft. Diese Strukturen, die da arbeiten, und trotzdem erkenne ich sie wieder: Oh ja, genau so, Eltern und Kinder, Geschwister, genau so. Warum ist das überhaupt so? Das ist es, was mich dann derartig aufreiben kann. Ich bekomme das durch das Schreiben in den Griff. Indem ich mir konkrete Situationen und Figuren ausdenke, die in Dialogen miteinander kollidieren lasse, komme ich Sachen auf die Spur. Idealerweise habe ich am Ende des Romans das Gefühl, ich habe das für mich jetzt verstanden.
AVIVA-Berlin: Setzt es dich manchmal unter Druck, jetzt einen Verlag zu haben, etwas liefern zu müssen?
Katharina Hartwell: Nein, das tangiert mich nicht so sehr. Mir kann überhaupt nichts und niemand den Druck machen, den ich mir selber mache. Es ist eher so, dass die Leute von außen, die Agentin oder mein Lektor, sagen, "Beruhige dich. Schalte mal einen Gang runter" (lacht). Es gibt eher von mir selbst aus so viele Dinge, die ich machen will, die mich interessieren, dass ich dadurch großen Zeitdruck habe.
AVIVA-Berlin: In dem Sinn: Reicht das Leben aus, um das noch alles…
Katharina Hartwell: Ganz genau.
AVIVA-Berlin: Herzlichen Dank für das Interview, alles Gute und weiterhin viel Erfolg!
Katharina Hartwell, 1984 in Köln geboren, studierte in Frankfurt a.M. mit Auszeichnung Anglistik und Amerikanistik und in Leipzig am Deutschen Literaturinstitut. 2010 erschien ihr Erzählungsband "Im Eisluftballon". Katharina Hartwell war u.a. Gewinnerin des MDR-Literaturpreises, Stipendiatin der Jürgen-Ponto-Stiftung und des Landes Hessen. 2013 war sie Sylter Inselschreiberin und Stipendiatin am Literarischen Colloquium Berlin. Ihr Debütroman "Das fremde Meer" erschien im selben Jahr.
Katharina Hartwell
Das fremde Meer
Berlin Verlag, 2013
Hardcover, 567 Seiten
9783827011374
22,99 Euro
Diesen Titel können Sie online bestellen bei FEMBooks
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