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Beitrag vom 10.06.2013
Meist bekomme ich, was ich will - Ein Interview mit Bernadette Lafont
Sabine Reichelt
Die Schauspielgröße der Nouvelle Vague ist 2013 in der Titelrolle des Films "Paulette" zu sehen. Ein Gespräch über gesellschaftskritische Filme, die Arbeit mit Claude Chabrol und François ...
... Truffaut und den Glücksfall, jetzt wieder eine Hauptrolle zu spielen.
Das Institut Français wird an diesem Dienstag im Juni, der einem verregneten Wochenende folgt, von Sonne beschienen. Tourist_innen essen Himbeereis aus beigen Waffeln, Geschäftsfrauen und -männer hetzen zielstrebig den Kurfürstendamm auf und ab. Vor der "Salle Boris Vian" im vierten Stock hat sich eine Traube Journalist_innen gesammelt. Uns Wartenden werden Wasser und Petits Fours auf einer Etagere angeboten. Wir haben kleine Terminfenster zugewiesen bekommen, in denen wir unsere Fragen stellen können. Denn die Interviewpartnerin, Bernadette Lafont, ist berühmt, beliebt und begehrt.
1938 in Nîmes geboren macht sie nach einer klassischen Tanzausbildung ihre ersten Kinoerfahrungen in Filmen der Nouvelle Vague. Unter damals ganz jungen Regisseuren wie François Truffaut und Claude Chabrol spielt sie Hauptrollen und wird zur festen Größe des französischen Kinos. In Truffauts erstem Werk überhaupt, dem Kurzfilm "Les mistons" ("Die Unverschämten") von 1957, ist sie die radfahrende Bernadette, der eifersüchtige Jungen in einer Hassliebe verfallen sind. In Chabrols "Les bonnes femmes" ("Die Unbefriedigten") von 1960 spielt sie Jane, eine von vier Verkäuferinnen, die von einem besseren Leben mit Mann träumen und dann von der Wirklichkeit enttäuscht werden.
Mit Nelly Kaplan dreht sie 1969 "La fiancée du pirate" als Marie, die die Bewohner_innen eines Dorfes mit deren kleinbürgerlichen Heuchelei konfrontiert. Es folgen weitere Haupt- und Nebenrollen im Film und seit Ende der 1970er Jahre auch im Theater. Für ihre Rolle in Claude Millers "L´Effrontée" mit Charlotte Gainsbourg erhält sie 1986 den César als beste weibliche Nebendarstellerin. 2003 wird Bernadette Lafont mit dem Ehren-César für ihr Lebenswerk ausgezeichnet.
Nun spielt sie Paulette im gleichnamigen Film von Jérôme Enrico – eine 80-jährige Frau, die verarmt in der französischen Banlieue lebt und aus Geldnot in den Haschisch-Handel einsteigt. Paulette ist unfreundlich, bösartig und rassistisch, wird mit steigenden Einnahmen allerdings zunehmend umgänglicher und toleranter.
Bernadette Lafont muss an jenem Dienstag so viele Interviews geben, dass alle Termine doppelt und dreifach belegt sind. Trotzdem ist sie freundlich und durchaus auch komisch. Mit mir fragt ein gestandener Journalist, der für österreichische Tageszeitungen schreibt. Er hat Chabrol noch persönlich für Interviews getroffen und formuliert seine Fragen kompetent-routiniert spontan auf Deutsch. Ich meine vorbereitet und ein wenig schüchtern auf Französisch. Jörg Taszman dolmetscht exzellent und feinfühlig.
Wir bedauern sehr, dass Bernadette Lafont am 25. Juli 2013 verstorben ist. Unser Interview haben wir am 4. Juni 2013 in Berlin geführt.
AVIVA-Berlin: Rollen für ältere Frauen sind im aktuellen Filmgeschäft nicht gerade dicht gesät. Gesetzt den Fall, Sie hätten die Rolle der Paulette nicht bekommen, wie hätten Sie reagiert? Und wie haben Sie tatsächlich reagiert, als Sie die Rolle bekommen haben?
Bernadette Lafont: Ich bin an einem Punkt, wo ich weiß, dass ich in meiner Karriere mit wirklich schönen Rollen verwöhnt wurde. Wichtig ist aber, dass zu einer schönen Rolle auch ein guter Film gehört, sonst ist das frustrierend. In diesem Fall war ich mir ziemlich sicher, dass ich die Rolle bekomme, denn meist bekomme ich, was ich will. Ich bin ja auch schon sehr lange in diesem Metier tätig. Angenommen, ich hätte den Part nicht erhalten, hätte ich mich mit einer schönen Theaterrolle getröstet oder mit einer schönen Lesung, denn beides bereitet mir auch viel Freude.
AVIVA-Berlin: "Paulette" kritisiert auf humorvolle Art und Weise ein reales Problem: Altersarmut. Wie wichtig ist es Ihnen, dass Ihre Filme auch gesellschaftskritisch sind?
Bernadette Lafont: Jean Eustache, mit dem ich "La maman et la putain" ("Die Mama und die Hure") gedreht habe, hat einmal gesagt, die politischsten Filme sind die, in denen Politik überhaupt nicht erwähnt wird. Und der Eustache-Film, der die moralische Situation in Frankreich nach dem Mai 1968 zeigt, ist so etwas wie die "Gefährlichen Liebschaften" des 20. Jahrhunderts. Meiner Meinung nach gibt es ein paar gute Filme, wie zum Beispiel "Les bonnes femmes" von Claude Chabrol, wo das Soziale durchaus eine Rolle spielt, aber eine rein soziologische Arbeit sollte man den Soziolog_innen überlassen. Denn ein Film hat immer auch den Charakter einer Fabel und ist in jedem Fall "larger than life". Was mich an einem Film wie "Paulette" interessiert, sind die Parallelen zur italienischen Komödie der 1960er und -70er Jahre, zu Filmen wie sie Ettore Scola oder Francesco Rosi gedreht haben, oder wie sie Ken Loach heute in Großbritannien dreht.
AVIVA-Berlin: Sie haben in sieben Filmen mit Claude Chabrol gearbeitet. Wie waren die Dreharbeiten mit einem so interessanten und amüsanten Menschen?
Bernadette Lafont: Die ersten vier Filme haben wir praktisch gemeinsam gedreht. Angefangen bei "Le beau Serge" ("Die Enttäuschten"), über "À double tour" ("Schritte ohne Spur") und "Les bonnes femmes" bis hin zu "Les godelureaux" ("Speisekarte der Liebe"). Später dann auch noch "Violette Nozière". Als ich ihn kennengelernt habe, war ich 18 und er 26. Wir waren alle noch sehr jung, aber er war schon damals brillant, witzig und freundlich, an allen interessiert. Und er hält seinem Filmteam die Treue. Das gilt auch für die Schauspieler_innen. Erst hat er mit mir gedreht, dann mit Stéphane Audran, die er geheiratet hat, später war es dann Isabelle Huppert. Und er war jemand, der unglaublich gern gelebt hat, ein Bonvivant. Wein und Essen waren ihm sehr wichtig. Wenn er einen Drehort auswählte, war eine seiner ersten Fragen: Wo isst man in dieser Gegend am besten? Und das war dann das ausschlaggebende Kriterium. Besonders gut war es, wenn auch Jean Poiret dabei war, ein ebensolcher Gourmet. Das waren immer sehr angenehme Dreharbeiten.
AVIVA-Berlin: Ihr erster Mann, der Schauspieler Gérard Blain, war dagegen, dass Sie Schauspielerin werden. François Truffaut hat ihn aber dennoch davon überzeugen können, dass Sie eine Hauptrolle in seinem Film spielen. Wie ist ihm das gelungen?
Bernadette Lafont: Also ehrlich gesagt ist mir das selbst ein Rätsel. Ich kann es mir bis heute nicht ganz erklären. Ich war 16 Jahre alt, als ich Gérard kennenlernte und kam nicht aus einem künstlerischen Milieu. Mein Vater war Apotheker. Ich mochte das Kino sehr, aber als Mädchen aus der Provinz hatte man nicht den Traum, Filmschauspielerin zu werden. Das war, als hätte ich gesagt, ich will auf den Mond fliegen. Ich habe klassisch getanzt und Gérard wusste sehr wohl, dass ich nicht gut genug war, um damit eine Opernkarriere zu machen. Also hat er mich im Tanzen bestärkt. Aber wir kannten Truffaut, Chabrol, Éric Rohmer, André Bazin und die anderen von der Filmzeitschrift "Cahiers du Cinéma" und sie beschlossen, ihre ersten Filme zu drehen. So bin ich irgendwie zum Kino gekommen. Wie das genau kam, weiß ich bis heute nicht. Nachdem ich allerdings in "Le beau Serge" mitgespielt hatte, hat mich Gérard in den Zug gesetzt und wusste, dass er mich nicht wiedersehen würde, weil mir Kino gefiel. Schon im ersten Kurzfilm von Truffaut, "Les mistons", habe ich mich vor der Kamera wohlgefühlt. Ich war also 19, meine Ehe vorbei und ich bin wieder bei meiner Mutter eingezogen.
AVIVA-Berlin: Neben Ihren Filmrollen spielen Sie auch, wie bereits erwähnt, Theaterrollen. In einem aktuellen Interview mit Paris Match haben Sie gesagt, dass das Theater für Sie eine Offenbarung war. Inwiefern?
Bernadette Lafont: Ich hatte meine Karriere im Kino begonnen und habe bis 1978 überhaupt kein Theater gespielt, weil ich so viel gedreht habe. Deshalb musste ich Theater beim Spielen erlernen. Im Kino ist es leichter, da gibt es keine Gesetze. Im Theater brauchst du aber sehr viel Spielpraxis und musst dir gewisse Techniken aneignen. Außerdem ist es ganz wichtig, das Lampenfieber zu überwinden. Denn da ist die Angst vor dem Publikum, das dir gegenüber sitzt. Lampenfieber überwindet man aber nur dadurch, dass man sehr viel spielt.
AVIVA-Berlin: Was war für Sie die größte Herausforderung beim Verkörpern der Paulette im Film von Jérôme Enrico?
Bernadette Lafont: Bei Paulette darf man nicht vergessen, dass sie eine Entwicklung durchmacht. Am Anfang ist sie ganz verarmt. Das sieht man beispielsweise auch an der Art, wie sie sich kleidet. Im Laufe des Filmes gelingt es ihr, ihre Würde wiederzuerlangen, indem sie Dinge tut, die illegal sind. Aber dadurch kann sie ihre Schulden bezahlen, sich schönere Kleidung kaufen, zum Friseur gehen, ihrem Enkel Geschenke machen. All das musste ich spielen, ohne den Charakter der Figur zu verlieren, was nicht einfach war. Aber dabei haben mir die Szenen geholfen, die für Paulette geschrieben wurden, denn diese waren immer wahrhaftig. Man darf nicht versuchen, die Figur zu verbessern, sie netter zu machen oder klüger. Auch wenn sie schreckliche und rassistische Dinge zu ihrem Schwarzen Enkel sagt. Ich durfte die Figur nicht verfälschen.
AVIVA-Berlin: Hat es Ihnen Spaß gemacht, im Film als Paulette bösartig und gemein zu sein?
Bernadette Lafont: Es hat mir Spaß gemacht, eine Figur zu spielen, die wenig mit mir selbst zu tun hat. Das ist eine größere Herausforderung. Die besten Bösewichte im Kino werden von sehr freundlichen und liebevollen Menschen gespielt. Denn wirklich böse Menschen erkennt man, die können sich nicht verstellen. Und als Schauspielerin muss ich die Partitur spielen, die mir gegeben wird. Sonst fange ich an, selbst Regie zu führen und zu interpretieren. Und das ist nicht meine Aufgabe. Außerdem ist Paulette als Figur nicht besonders interessant. Sie ist weder besonders intelligent, noch besonders aufregend. Sie ist allerdings sehr clever und sie verfügt über einen großen Geschäftssinn. Aber ehrlich gesagt ist sie keine, mit der ich mir viel zu sagen hätte. Ich würde kein Glas mit ihr trinken gehen. Sie wiederum zu spielen, das war großartig!
AVIVA-Berlin: Weiterhin so herausfordernde Rollen und vielen Dank für das Interview!
"Paulette" ist ab dem 18. Juli 2013 im Kino zu sehen.
Mehr Infos und der Trailer unter: www.paulette-film.de
Cliquez ici pour lire la version française
Weitere Informationen:
Bio- und Bibliographie auf www.allocine.fr
Interviews: Bernadette Lafont sprach mit
Paris Match (2013)
www.femina.ch (2013)
tvmag.lefigaro.fr (2013)
www.telerama.fr (2012)
Thierry Ardisson (2002)
Rezensionen zu Filmen mit Bernadette Lafont auf AVIVA-Berlin:
Familientreffen mit Hindernissen (2012)
Triff die Elisabeths (2009)
Wenn wir zusammen sind (2009)
Les Petites Couleurs (2004)
Copyright Foto von Bernadette Lafont: Sabine Reichelt