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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 07.06.2013


E-Interview mit Johanna Urban
Ilka Fleischer

´Lippenstift statt Treppenlift´ lautet die Devise von Johanna Urbans 80jähriger Mutter. Das gleichnamige Buch handelt von ihrem Bemühen, diesem Motto auch nach der Diagnose Demenz treu zu bleiben.




Das gleichnamige Buch handelt von ihrem Bemühen, diesem Motto auch nach der Diagnose ´Demenz´ treu zu bleiben und sich von nichts und niemand – und schon gar nicht von der eigenen Tochter – ´alt und krank´ machen zu lassen. Im Mittelpunkt steht dabei das Ringen der Autorin, dem zunehmenden Unterstützungsbedarf ihrer Mutter gerecht zu werden und bei deren zuweilen renitenter Haltung weder die Nerven noch den Job zu verlieren.

Im Interview mit AVIVA-Berlin verrät Johanna Urban, wie sich ihr Mutter-Tochter-Verhältnis im Laufe der Jahre gewandelt hat, und wie es ihr (oft erst im Nachhinein) gelingt, die kleinen Schrullen und großen Sturheiten der Mutter von der humorvollen Seite zu nehmen...

AVIVA-Berlin: "Manchmal ist es zum Weinen mit Mama...und manchmal ist es einfach nur zum Heulen..." schreiben Sie zwar an einer Stelle, aber ansonsten überwiegen in Ihrem Buch heitere Episoden aus dem Alltag mit Ihrer demenzkranken Mutter. Inwieweit gelingt Ihnen die humorvolle Perspektive in Ihrem Alltag? In welchen Situationen bleibt Ihnen das Lachen aber auch mal "im Halse stecken"?
Johanna Urban: Es ist jetzt nicht so, dass ich neben meiner Mutter sitze und ständig kichere, weil alles so absurd-komisch mit ihr ist. Witze über die Situation zu reißen, das gelingt mir immer erst im nachhinein. Wahrscheinlich ist das meine Weise, die Sache zu verarbeiten und mir selber Mut zu machen. Ich hoffe, dass sich das in dem Buch auf Leser, die ebenfalls demenzkranke Angehörige haben, ein bisschen überträgt.
Schwer geschluckt habe ich erst vor ein paar Tagen, als meine Mutter bei einem Spaziergang, bei dem sie eine Stunde lang in Endlosschleife behauptete, eine Wohnungs-Nachbarin hätte ihre Unterwäsche gestohlen (was natürlich nicht stimmte), inne hielt und ganz klar sagte: „Liebe Zeit, was rede ich eigentlich für einen Unsinn?! Ich wünsche dir, mein Kind, dass du diese Krankheit niemals bekommst!“

AVIVA-Berlin: Eingangs berichten Sie von einer wichtigen Dienstreise, die Sie fast verschoben hätten, um sich (noch besser) um Ihre Mutter kümmern zu können. Wie gelingt es Ihnen - bei aller Fürsorge für Ihre Mutter - Ihr "eigenes" Leben nicht zu vernachlässigen?
Johanna Urban: Kaum! Ich bin tatsächlich extrem eingespannt und habe ziemlich oft das Gefühl, dass alles andere zu kurz kommt. Erst kürzlich beispielsweise brauchte meine Mutter dringend ein Gebiss, deshalb war ich mit ihr gefühlte 25 Mal beim Zahnarzt. Jetzt hat sie strahlendweiße nagelneue Zähne. Und ich habe Karies, denn meine eigenen Zahnarzttermine musste ich aus Zeitmangel ständig stornieren.

AVIVA-Berlin: Inwieweit konnten und können Sie auf das Verständnis von ArbeitgeberIn, KollegInnen, FreundInnen und Familie bauen? Wie leicht fällt es Ihnen selbst, Hilfe von Außen anzunehmen? Und inwiefern fühlen Sie sich gesellschaftlich gut unterstützt oder eben auch "allein" gelassen?
Johanna Urban: Grundsätzlich gibt es schon viel Verständnis – es sind ja auch so viele andere betroffen! Wenn man sich mit den Leuten über das Thema unterhält, bekommt man das Gefühl, in jeder Familie gibt es gebrechliche, kranke oder demente Omas und Opas bzw. Mütter und Väter. Aber das erklärt auch, warum Hilfe von Außen eher rar ist – dazu hat wirklich keiner Zeit.
Hilfe anzunehmen (wenn es denn mal welche gäbe) fällt mir übrigens extrem leicht! Ganz anders als meiner Mutter, die jeden Helfer am liebsten rauswerfen würde, weil sie denkt, sie schafft alles noch immer ganz allein.

AVIVA-Berlin: Im Unterschied zu vielen anderen Familien leben Sie - wenn auch nicht unter einem Dach - so doch zumindest in einer Stadt mit Ihrer Mutter. Was würden Sie Betroffenen und Angehörigen empfehlen, die kompliziertere Ausgangsbedingungen haben? Inwieweit können professionelle Dienstleister die familiäre Unterstützung Demenzkranker ersetzen? Worin liegen deren Vorzüge, worin die Nachteile?
Johanna Urban: Mein Buch erzählt von einer Zeit, in der meine Mutter erst leicht dement war. Und selbst da ging es nicht ohne Unterstützung, obwohl wir in der gleichen Stadt wohnen. Professionelle Hilfe finde ich großartig, man sollte unbedingt alles annehmen, was man sich leisten kann bzw. was die Kasse bezahlt. Meine Mutter selbst wurde zweimal täglich von Schwestern der Caritas besucht, und ich war immer wieder positiv überrascht, wie nett und einfühlsam sie mit ihr umgingen. Sie waren einfach Profis – ganz im Gegensatz zu mir.
Wenn man weit entfernt wohnt, dann setzt der Moment, in dem man die Mutter oder den Vater fremder Hilfe, etwa in einem Heim, anvertrauen muss, sicher etwas früher ein. Aber das muss nicht schlecht sein! Es ist ja so, dass die meisten Betroffenen in den Seniorenheimen regelrecht aufblühen und erstmal wieder geistig fitter werden. Da gibt es Gymnastik, Mahlzeiten in Gesellschaft, geschultes Personal und ständige Ansprache – sowas kann kein Angehöriger leisten, zumal dann nicht, wenn er berufstätig ist. Und es ist auf jeden Fall besser für das Verhältnis zu den Kranken, wenn man zum Plaudern und Spazierengehen vorbeikommt, und nicht, um sie zu waschen oder trockenzulegen. Das mögen sie nämlich nicht, und man selbst mag es auch nicht so.

Vorsichtig wäre ich mit Schwestern aus dem Ausland, die bei den alten Leuten einquartiert werden. Solche Schwestern eignen sich sicher toll für Alte, die einfach nur ein wenig Hilfe brauchen – aber nicht so für Demente. Viele Leute entscheiden sich ja dafür, damit die Betroffenen ihre geliebten Wohnungen nicht verlassen müssen. Dabei vergessen sie diese meist nach verblüffend kurzer Zeit im Heim. Alzheimer ist gnädig!

AVIVA-Berlin: "Es hat sich vieles in ihrem Leben geändert in dem Jahr: Wir Jüngeren haben die Angelegenheit Mama generalstabsmäßig in die Hand genommen...," schreiben Sie rückblickend. Einerseits wird allseits empfohlen, Demenzkranke zum Erhalt ihrer Eigenständigkeit zu motivieren, andererseits "geht es" aber eben oft nicht anders, wie sie selbst berichten. Wie wägen Sie hier grundsätzlich bzw. situativ ab?
Johanna Urban: Leider kommt es oftmals unterlassener Hilfeleistung gleich, wenn Demenzkranke in bestimmten Bereichen nicht unterstützt werden. Meine Mutter beispielsweise würde nicht mehr ausreichend trinken, nichts essen und die falschen oder gar keine Medikamente einnehmen. Wenn man da nicht geholfen hätte, wäre sie wahrscheinlich gar nicht mehr am Leben, denke ich.
Ansonsten war es so, dass ich meine Mutter schon sehr stark motivieren musste, halbwegs aktiv zu bleiben. Wenn es nach ihr gehen würde, dann würde sie den ganzen Tag auf dem Sofa liegen und sich nicht bewegen. Deswegen habe ich ihr immer kleine Aufgaben gegeben, zum Beispiel staubsaugen oder die paar Meter zum Briefkasten zu gehen.

AVIVA-Berlin: An mehreren Stellen beschreiben Sie, dass Ihre Mutter im Laufe der Krankheit phasenweise weniger von Außen isoliert wurde als sich selbst zurückgezogen hat. Welche Tipps würden Sie Betroffenen geben, damit sie weiterhin am gesellschaftlichen Leben teilhaben und ihren Krankheitsverlauf nicht auch noch durch ihren eigenen "Rückzug" beschleunigen?
Johanna Urban: Mir gelingt es leider nicht mal richtig, meiner eigenen Mutter Tipps zu geben. Sie hört einfach ungern auf mich. Die Tipps nerven die Erkrankten nämlich wahnsinnig, denn sie wissen ja selbst, dass sie aktiv bleiben sollen. Zumindest theoretisch. Aber sie wollen oder können nicht mehr. Das ist eben eine typische psychische Begleiterscheinung, denn häufig sind demente Menschen ja auch depressiv.
Einen Tipp habe ich für die Angehörigen: Weiternerven! Und die Betroffenen mit sanfter Gewalt einfach zum Restaurantbesuch/Spaziergang/Familienausflug zwingen. Meistens sind sie hinterher ganz froh, dass sie dabei waren.

AVIVA-Berlin: "Wir zwei haben uns schon lange nicht mehr so gut verstanden wie heute," fassen Sie in Ihrem Schlusskapitel die gemeinsame Entwicklung seit der Demenz-Diagnose zusammen. Teilt Ihre Mutter Ihre Einschätzung oder wäre aus ihrer Perspektive ein ganz anderes Buch entstanden?
Johanna Urban: Auf Mamas Buch wäre ich wirklich gespannt! Das wäre sicher ganz anders als meines.
Was unser Verhältnis angeht: Es bewegt sich in Wellen und ist derzeit wieder besonders schlecht. Selbst wenn meine Mutter mal allerbester Laune ist, wird sie sofort sauer, sobald sie mich sieht, und dann jammert sie mich voll, darüber, wie schlimm das Altern sei, die Abhängigkeit von Krankenpflegern und so weiter. Außerdem geht es dann ausufernd darum, was ich immer alles falsch mache.
Vor Dritten allerdings schwärmt sie regelrecht von mir, deswegen versuche ich, ihre Meckertiraden einigermaßen stoisch zu überstehen.

AVIVA-Berlin: Ihre Mutter zeigt (im Rahmen des Buches) noch keine Anzeichen "fortgeschrittener" Demenz. Gibt es eine (gemeinsame) Planung für eine Zukunft mit erhöhtem Pflegebedarf?
Johanna Urban: Tatsächlich ist sie seit einigen Wochen in einer Seniorenresidenz und wohnt dort mit 15 anderen Demenzpatienten in einer Wohngruppe zusammen. Es ging zu Hause gar nicht mehr, denn sie konnte keine Alltagsentscheidungen mehr treffen. Die Überlegung, welches Nachthemd sie abends anziehen soll, hat sie zum Beispiel so fertig gemacht, dass sie weinend anrief und immer nur stammelte, sie könne das alles nicht mehr. Es war ziemlich schrecklich. Über den Umweg in ein „normales“ Krankenhaus, in das sie eingewiesen wurde, weil sie so desorientiert war, kam sie dann ins Seniorenheim.
Jetzt empört sie sich ständig darüber, dass sie im Heim leben muss. Tatsächlich scheint es ihr aber richtig gut zu gehen. Sie hat sich mit den anderen dort angefreundet, sie geht turnen, sie verpasst keines der Heimkonzerte. Und sie schäkert mit den Pflegern (besonders mit einem). Plötzlich trägt sie auch wieder Lippenstift und achtet auf ihr Äußeres. Das hatte sie davor monatelang nicht mehr getan.
Aber es gibt auch wieder neue Dramen: Neulich legte sich eine verwirrte Mitbewohnerin in Mamas Bett. Davor hat sie auch noch ihre Pralinenschachtel leer gefuttert. Da war dann die Hölle los!

AVIVA-Berlin: Durch Ihre humorvolle, optimistische und pragmatische Perspektive ist Ihr Buch ein absoluter Mutmacher für Menschen in vergleichbaren Situationen. Was sind Ihre wichtigsten Tipps für Angehörige und Betroffene, die gerade erst mit der Diagnose "Demenz" konfrontiert wurden?
Johanna Urban: Es ist in jedem Fall ein schwerer Moment. Vielleicht hilft es, wenn man sich vergegenwärtigt, wie in früheren Generationen damit umgegangen wurde. Da benützte kaum einer die so schockierend klingenden Begriffe Demenz oder Alzheimer, sondern es hieß einfach: Die Oma wird vergesslich. Jeder kannte Geschichten von alten Leuten, die im Winter mit dem Bademantel zum Bäcker gingen oder im Sommer im Nerz auf der Parkbank saßen und ähnliches. So verschroben wurden eben alte Leute. Na und?
Bei dieser Betrachtungsweise kommt einem die Sache dann vielleicht nicht so sehr wie ein Drama vor, sondern als etwas, das im Alter fast schon normal ist.
Und noch etwas sollte man wissen: Wenn die Krankheit diagnostiziert ist, hat man immer noch sehr sehr viel Zeit, um alles zu tun, was man möchte.

AVIVA-Berlin: Wir danken Ihnen für das Interview!


Lippenstift statt Treppenlift: Vom Chaos mit meiner achtzigjährigen Mutter
Johanna Urban Autorin

Taschenbuch: 224 Seiten
Verlag: Bastei Lübbe (Bastei Verlag)
Erscheinungsdatum: 17. Mai 2013
ISBN-10: 3404607333
ISBN-13: 978-3404607334
EUR 8,99

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Beitrag vom 07.06.2013

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