Es ist ein Glücksfall, vom Machismus verschont geblieben zu sein - Interview mit Amparo Sánchez - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Interviews



AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 09.05.2013


Es ist ein Glücksfall, vom Machismus verschont geblieben zu sein - Interview mit Amparo Sánchez
Julia Lorenz

Die "Königin des Mestizo" spricht über ihre neue Platte "Alma de Cantaora", die Macht der neunundneunzig Prozent, zapatistische Großväter und sie verrät, warum die Indigenas die Welt retten werden.




Ihre musikalische Reise führte die spanische Sängerin Amparo Sánchez unlängst von Tucson und Havanna, den Stationen ihres letzten Werks aus dem Jahr 2010, nach Mexiko. Von dort importierte sie nicht nur eine neue Ruhe und Entspanntheit, die den Sound ihrer neuen Platte "Alma de Cantaora" ("Die Seele der Flamencosängerin") prägt, sondern auch die Rhythmen der indigenen Völker Lateinamerikas in ihre europäische Heimat: Mit Unterstützung der Stimme von "Abuela Margarita", einer mexikanischen Schamanin, entdeckte Amparo ein musikalisches Konzept für sich, das nach der Ära mit ihrer ehemaligen Band Amparanoia und ihres ersten Soloalbums einen Neuanfang einläutet. Doch obwohl Amparo für ihre Karriere im Alleingang die E-Gitarren im Keller lässt, läge ihr nichts ferner, als die angepasste Chanteuse zu geben: Neben ihrem politischen Engagement in Spanien reiste die Sängerin nach Lateinamerika, um sich auf die Spuren der ZapatistInnen in die autonomen Regionen in Chiapas zu begeben. AVIVA-Berlin sprach mit ihr über neue Einflüsse, unerwartete Begegnungen und persönliches Wachstum.

AVIVA-Berlin: Amparo Sánchez, auf deiner Europa-Tournee stellst du momentan dein im November 2012 erschienenes Album "Alma de Cantaora" vor. Was hat es mit diesem spirituellen Titel auf sich?
Amparo Sánchez: "Alma de Cantaora" ist eine Art Selbstdefinition, ich will damit ausdrücken, wie ich mich fühle: Ich sehe mich in der Tradition der Flamencosängerinnen. Das ist ein Gefühl, das ich mit meinen Liedern vermitteln möchte. Ich glaube, das Ganze unterscheidet sich ein wenig vom Konzept der Sängerin als Interpretin: Ich sehe mich nicht als Interpretin, weil ich denke, dass alles aus der Seele kommt und dass es meine Botschaften und Gefühle sind, die ich teilen möchte und die sowohl mir als auch anderen Menschen helfen.

AVIVA-Berlin: Die musikalische Abkehr vom wilden Stil deiner Tage mit Amparanoia wird immer deutlicher. Wie kam es zum musikalischen Kurswechsel zugunsten des neuen, reduzierten und akustischen Sounds?
Amparo Sánchez: Irgendwann war der Moment da, in dem ich anfing, Lieder anders zu komponieren. Du merkst plötzlich, dass es noch eine andere Art gibt, dich auszudrücken, und dann willst du auch, dass die Leute deine Konzerte auf eine andere Weise besuchen: Wir können nach den Konzerten noch immer tanzen und singen, aber das, was ich biete, ist viel intimer, viel persönlicher. Ich möchte das Herz ansprechen - es gibt sogar Leute, die bei einigen Liedern weinen. Das finde ich schön, schließlich stecke ich all meine Empfindungen in die Songs, und wenn das die Menschen erreicht, berührt mich das. Ich hatte im Gefühl, dass der Moment gekommen war, um anzufangen, die Geschichte anders zu erzählen. . In dieser neuen Ära konnte ich dann plötzlich einfach mit einer Gitarre loslegen, nur mit einem Musiker, der mich begleitet. In gewisser Hinsicht habe ich somit jene Unabhängigkeit gewonnen, die ich brauchte: Bewegungsfreiheit und die Freiheit, mich auszudrücken. Vor allem bei dieser letzten CD merkte ich, dass mir die Lieder sehr unvermittelt in den Sinn kamen, nur mit einer oder zwei Gitarren. Also dachte ich mir: "Gut, dann wird das Album eben nicht so beladen mit Instrumenten und Soundeffekten sein wie die vorherigen. "Ich möchte...Ruhe, ich will, dass die Leute meine Lieder hören und diese Ruhe spüren, dieses intime Ambiente, das ich mit dem Album schaffen wollte.

AVIVA-Berlin: Deine frühere Band Amparanoia spielte eine wichtige Rolle in der Mestizo-Szene, jener musikalischen Bewegung, die lateinamerikanische Einflüsse mit Ska, Punk und Reggae verbindet. Bis heute bist du eine unter wenigen Frauen, die in jener Szene eine Schlüsselrolle einnehmen, weshalb du vielerorts als "Königin des Mestizo" bezeichnet wirst. Wie musiziert es sich als Frau in einer so männerdominierten Szene?
Amparo Sánchez: Ich habe es immer als großen Glücksfall betrachtet, mich in einer Männerwelt zu bewegen, in der ich mich respektiert fühle und in der ich keinen Machismus oder Ähnliches erlebe, sondern das komplette Gegenteil. Wir sind nicht viele Frauen in der Musikbranche, und wir sind umgeben von einer männlichen Mehrheit, aber in meinem Fall haben es die Männer verstanden, in mir eine Schwester, eine Kameradin zu sehen. Ich habe sehr gute Freunde in der Musikszene, die mir von Anfang an geholfen haben und die mir noch immer helfen und mich motivieren.

AVIVA-Berlin: Manu Chao ist dein wahrscheinlich bekanntester Fan, der Song "Muchacho" auf deinem neuen Album ist das Ergebnis einer Session mit Calexico, und an "Free Day" war Howe Gelb von Giant Sand beteiligt. Wie beeinflusst der Kontakt mit solch unterschiedlichen MusikerInnen deine Arbeit - und wie beeinflusst ihr euch gegenseitig?
Amparo Sánchez: Ich glaube, wenn du dich mit Musikern triffst, profitierst du auf die eine oder andere Art immer davon. Als ich Manu Chao kennenlernte, arbeitete er gerade an seinem Album "Clandestino". Das war in Madrid im Jahr 1995, und ich erlebte diese ganze Zeit aus nächster Nähe mit, während auch ich meine erste CD aufnahm - "El Poder de Machín" mit Amparanoia. Vielleicht hat Manu in mir eine spezielle Art gesehen, Stile zu mixen oder raus auf die Bühne zu gehen, die ihm etwas geben konnte. Dass er mein "Pate" für dieses erste Album gewesen ist, war enorm wichtig, denn so sind die Leute an mich herangetreten und wollten wissen, wer ich bin - schließlich tauchte Manu auf meinem Album auf. Wir bereichern uns gegenseitig. So auch im Fall von Calexico: Sie haben ihren mexikanischen Einschlag, ihr Thema ist "die Grenze" (zwischen Mexiko und den USA, Anm. d. Red.), aber vielleicht haben sie mit mir ein bisschen mehr mit ihrem lateinamerikanischen Einfluss experimentiert - Calexico kommen ja eigentlich aus der Indie-Musik. Im Fall von Howe Gelb war es eine sehr schöne Begegnung, weil ich nicht mit ihr gerechnet hatte. Er war gerade in Tucson, und als ich dort gewesen bin, um mit Calexico aufzunehmen, haben wir uns zufällig kennengelernt. Ich habe das als ein Geschenk betrachtet - Howe hat wirklich eine übernatürliche Kreativität und Talent, ich habe viel von ihm gelernt. Ich weiß nicht, ob er auch von mir, aber auf künstlerischer Ebene war das eine großartige Begegnung zwischen uns beiden. Ich träume noch immer davon, irgendwann mehr mit ihm zu machen. Das Schöne ist, dass ich nach allen Kollaborationen Lust habe, mit den Menschen weiterzuarbeiten, sie wiederzusehen. Und abgesehen vom Musikalischen entsteht da eine Freundschaft - im Fall von Manu schon seit fast zwanzig Jahren. Wir sind praktisch eine Familie. Aber auch mit Calexico, mit Howe...Das sind die Überraschungen des Lebens. Geschenke des Lebens.

AVIVA-Berlin: Politisches Engagement prägt deine Musik maßgeblich. Inwieweit würdest du dich als Protestsängerin bezeichnen?
Amparo Sánchez: Naja, ich weiß nicht...es gibt schon Lieder, die klar etwas anprangern, seit dem Beginn meiner Karriere. Das auf jeden Fall. Allerdings singe ich auch viel über die individuelle Revolution, über das innere Wachstum. Wachsen, sich selbst vergeben, die Gegenwart leben, im Jetzt sein, sich dem Wunder bewusst sein, hier zu stehen, im Leben...das sind Themen, die mich sehr interessieren und die sich auch in meinen Songs finden. Aber es gibt durchaus eine Protest-Komponente. Dabei sind es jedoch vor allem Kollektive und Assoziationen, die für die Menschenrechte arbeiten, die mich um CDs und Solidaritäts-Konzerte bitten. Ich bin mir schon darüber bewusst, welche Art von Publikum ich habe, aber das sehe ich nicht als meine Motivation. Das ist ein Teil von mir, aber ich glaube, ich bin eher eine Sängerin, für die Gefühle und das Vom-Leben-Lernen wichtig sind. Glaube ich. Genau weiß ich es nicht.

AVIVA-Berlin: Würdest du also unterschreiben, dass das Private auch politisch ist?
Amparo Sánchez: In meinem Fall schon. Die einzigen Erfahrungen, von denen ich erzählen kann, sind schließlich meine eigenen, meine Weltsicht, und das spiegelt sich auch in meinen Liedern wider. Ungerechtigkeit hat mir nie zugesagt und wird mir nie zusagen. Ich werde immer auf Seiten derer sein, die für die Menschenrechte arbeiten, auf Seiten der Solidarität und der gerechten Welt, und niemals für die eintreten, die ausbeuten und lügen, die korrupt sind.

AVIVA-Berlin: Im Song "La cuenta atrás" vom neuen Album fällt der Satz "Der gleichgültige Blick hält die Türen offen" ("La mirada indeferente deja las puertas abiertas"). Was meinst du damit?
Amparo Sánchez: Wenn wir die Probleme - beispielsweise die ökonomischen, kulturellen und sozialen Probleme in Spanien - mit Gleichgültigkeit betrachten, verharren wir im Dornröschenschlaf. Wir dürfen unseren Blick nicht gleichgültig werden lassen, sondern müssen uns auf die Probleme konzentrieren. Und natürlich halten sich die Mächtigen alle Türen offen, um zu tun, was sie wollen. Ich denke, wir als Bevölkerung müssen einen kritischeren Blick für die Dinge entwickeln, die momentan passieren, und versuchen, dass unsere Stimmen gegen das, was wir als ungerecht empfinden, das Parlament erreichen.

AVIVA-Berlin: Die Jugend in deinem Heimatland Spanien scheint politisierter denn je, und auch du bist mit der Bewegung "Indignados" ("Die Empörten", in Anlehnung an Stéphane Hessels Streitschrift "¡Indignaos!", zu dt. "Empört euch!", Anm. d. Red.) assoziiert. Warum bist du empört?
Amparo Sánchez: Wir sind alle sehr empört in meinem Land, und zwar weil die Regierung uns anlügt, weil es Korruption, skandalöse Fälle von Rechtsbeugung und Machtmissbrauch von Seiten der Banken und der Regierung gibt. Das ist wirklich alarmierend, sehr traurig. Ich denke, dass gerade jetzt 99 Prozent der spanischen Bevölkerung "Indignados", also empört, sind.

AVIVA-Berlin: Glaubst du an den Kampf gegen die Ungerechtigkeit auf der Straße? Hast du den Generalstreik im November letzten Jahres miterlebt?
Amparo Sánchez: Ja, ich war in Barcelona während des Streiks. Das ist der einzige Weg, der uns bleibt: Auf die Straße zu gehen und zu sagen, was wir denken. Momentan erleben wir viel Repression und Menschen, die streiken, werden kriminalisiert. Wir müssen zeigen, dass es unser Recht ist, damit die Leute an der Macht begreifen, dass die Bevölkerung nicht blöd ist und Gleichheit und Gerechtigkeit will.

AVIVA-Berlin: Dein neuer Song "La flor de la palabra" ist ein Widerstandslied und basiert auf einem Text des Subcomandante Marcos, der sich als Sprachrohr der revolutionären zapatistischen Bewegung in Mexiko (EZLN) bezeichnet. Wie hast du das Zusammentreffen mit ihm empfunden?
Amparo Sánchez: Der wahre Zapatismus …das ist ein sechsjähriger Junge, der zu dir kommt und sagt "Ich respektiere die Natur, weil sie meine Mutter ist, und ich achte und schätze sie", und das sind auch die Frauen, die Maistortillas zubereiten. In Wirklichkeit besteht der Zapatismus nicht nur aus einer Person. Es existiert dieses Bild, dass Marcos der Anführer ist, weil der Mensch eben einen Anführer braucht, eine Leitfigur, aber das ist nicht die Idee hinter der Bewegung: Zapatist ist, wer wie ein Zapatist lebt. Sie regieren sich selbst, respektieren die Natur, sind solidarisch mit ihren indigenen Geschwistern, auch wenn die keine Zapatisten sind. Marcos wurde irgendwann die Aufgabe übertragen, das Sprachrohr der Bewegung zu sein, weil viele der Indigenas, die das Kommando hatten, kein Spanisch, sondern ihre eigenen Sprachen gesprochen haben. Deshalb hat er der Bewegung seine Stimme geliehen, und jetzt überhöhen ihn die Leute zum Anführer. Wenn du mal eine Woche dort bist, erlebst du, was Zapatismus bedeutet, und das ist das schönste Geschenk, das du mitbringen und mit anderen teilen kannst. Ich habe in den autonomen Regionen viele Leute kennengelernt, aber die einfachen Menschen zu treffen war für mich viel intensiver als die Begegnungen mit den Medienpersönlichkeiten. Ich traf einen alten Mann, der sagte: "Schau mal, dieser Baum ist zweihundert Jahre alt. Ich werde sterben, aber dieser Baum könnte die Revolution miterleben, an der wir arbeiten." Für mich sind sie der Zapatismus, die Indigenas. Im Grunde haben die Zapatisten keine Gesichter - sie haben sie verhüllt, damit die Welt sie anschaut. Es gibt kein Gesicht der Bewegung: Der Zapatismus, das sind alle.

AVIVA-Berlin: In früheren Interviews erwähntest du bereits, dass du dich mit der zapatistischen Bewegung stark identifizierst. Wie kommt es, dass du dich Lateinamerika so verbunden fühlst?
Amparo Sánchez: Ich habe eine sehr starke, unsichtbare, mittlerweile aber doch sichtbare Verbindung zu Lateinamerika. Vor allem Mexiko zieht mich an - wegen der Kultur, der Malerei, des Kinos, der Musik. Ich fühle mich, als hätte ich dort früher einmal gelebt. Der Indigena ist jemand, der dir Dinge nie direkt ins Gesicht sagt, sondern um das, was er dir mitteilen will, herumredet, aber das ist ja das Spannende daran. Die Art, wie dir jemand etwas mitteilt, ist sogar noch wichtiger als das, was er dir mitteilt. Und das fasziniert mich. Im Rest von Lateinamerika finde ich auch viele Gemeinsamkeiten, in Argentinien, Uruguay, Chile, Paraguay oder Kolumbien. Wir Spanier sind nach Amerika gekommen, und auf irgendeine Weise sind wir und die lateinamerikanischen Völker eine Familie. Es wäre wohl komischer, wenn es mir mit Neuseeland so ginge. Ich denke, manche Kulturen haben etwas an sich, das dich anzieht, und je mehr du lernst und entdeckst, desto mehr verliebst du dich. Auf dieser letzten CD beispielsweise ist es die Stimme der Abuela Margarita ("Großmutter Margarita") aus einer indigenen Region in Guadalajara, die das Album eröffnet. Sie ist ein wunderbarer Mensch, für den ich pure Bewunderung empfinde - dafür, was sie vermittelt, und für ihre Aufrichtigkeit, die so nötig in einer dermaßen chaotischen Zeit ist. Sie schätzt alles Einfache, Kleine, Alltägliche - in unserer Kultur vergessen wir das. Ich bewundere die indigene Kultur sehr, im Grunde glaube ich, dass die Indigenas die Retter unseres Planeten sind.

AVIVA-Berlin: Amparo, was werden wir in näherer Zukunft von dir hören? Sind bereits neue Projekte in Planung?
Amparo Sánchez: Na klar. Ich habe "Alma de Cantaora" im Mai 2012 fertiggestellt. Seitdem ist schon ein Jahr vergangen, und natürlich habe ich in dieser Zeit neue Lieder geschrieben. Momentan suche ich alles zusammen, denn ich habe Songs auf meinem Telefon, in Notizbüchern, auf Servietten, in einem Buch...Jetzt will ich an die Arbeit und vor Ende des Jahres zehn, zwölf neue Lieder aufnehmen. Ich mag es, im Studio zu sein und mein neues Material zu präsentieren. Es ist schön, wenn das Publikum die Lieder mitsingt, aber ich mag auch diese Überraschungs-Komponente, wenn plötzlich etwas kommt, das es nicht erwartet hat. Es geht auch darum, den aktuellen Moment zu teilen: Auf kreativer Basis, auf persönlichem Level...und: Älter zu werden, was eine wunderbare Erfahrung ist. Ich verspüre den starken Wunsch, mit Frauen meines Alters oder auch jüngeren Frauen zu kommunizieren. Wir müssen unsere Kräfte sammeln und daran glauben, dass alles, wir wollen, auch möglich ist. Ich spüre, dass das meine Mission, meine Aufgabe ist. Und die möchte ich gern teilen.

AVIVA-Berlin: Amparo Sánchez, vielen Dank für das Interview.

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Mehr Infos zu Amparo Sánchez unter: www.amparosanchez.info

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Beitrag vom 09.05.2013

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