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Beitrag vom 03.05.2013
Interview mit VALIE EXPORT
Sabine Reichelt
Ihre "Aktionshose: Genitalpanik" ist Legende. Mit AVIVA sprach die Kunstschaffende über ausgewählte Werke, das Verhältnis von Kunst und Politik, aktuelle Formen feministischen Protests, ...
... Elfriede Jelinek und ihre eigene Utopie.
VALIE EXPORT erfand ihren Künstlerinnennamen 1967. Er ist eine Abgrenzung von ihrem bürgerlichen Namen, international und – immer in Versalien geschrieben – Logo und künstlerisches Konzept zugleich. Inspiration fand die 1940 in Linz geborene Fotografin, Performance- und Videokünstlerin dafür in der österreichischen Zigarettenmarke "Smart Export". Ende der 1960er Jahre erregte sie mit Performances wie dem inzwischen legendären "TAPP und TASTKINO" Aufsehen. Dabei waren PassantInnen in der Fußgängerzone dazu aufgerufen, durch einen Vorhang in einen Kasten zu greifen, der den Oberkörper der Künstlerin verdeckte. Die ZuschauerInnen wurden hierbei zu TasterInnen, ihr Begehren öffentlich gemacht und die vom Staat in die Ehe verbannte Sexualität vergesellschaftet. EXPORT zeigte sich dabei als Vertreterin des Expanded Cinema, eines Konzeptes, das herkömmliche Filme und Filmvorführungen durch Interaktion mit dem Publikum, Performances und vielfältigen Medieneinsatz erweiterte und überstieg. Eine solche feministische Performance ist auch die berühmte "Aktionshose: Genitalpanik" (1969). VALIE EXPORT ging dafür mit einer im Schritt ausgeschnittenen Hose durch die Reihen eines Kinos, um das Publikum außerhalb des Kontextes eines Pornofilms aggressiv mit dem weiblichen Genital zu konfrontieren. Die dazugehörige Fotoserie zeigt sie zudem mit einem Maschinengewehr in beiden Händen. Damals ein Skandal.
Die international renommierte Künstlerin nahm 1977 und 2007 an der documenta in Kassel teil, die größten Museen der Welt zeigten und zeigen ihre Werke: das Centre Georges Pompidou (Paris), das Museum of Modern Art (New York), die Tate Modern (London), um nur einige zu nennen. Mehrmals wurden ihre Werke bei der Biennale in Venedig präsentiert, 2009 war sie dort Kommissarin des Österreich Pavillons.
Doch auch als Regisseurin ist EXPORT tätig. So wurde ihr Spielfilm "Die Praxis der Liebe" 1985 bei der Berlinale für den Goldenen Bären nominiert. Außerdem lehrte sie als Professorin u.a. an der Hochschule der Künste Berlin und der Kunsthochschule für Medien Köln. Kurzum, VALIE EXPORT ist eine Ikone der Medien- und Performancekunst und AVIVA traf sie zum Gespräch in der Galerie ZAK | BRANICKA, wo aktuell ihre Werke gezeigt werden.
AVIVA-Berlin: Viele Ihrer Kunstwerke, Performances und Aktionen sind politisch oder gesellschaftskritisch motiviert. Einigen haben Sie Erklärungen angefügt, in denen Sie Ihr künstlerisches und politisches Konzept erläutern. Sollte Kunst immer politisch sein?
VALIE EXPORT: Ich denke, dass Kunst von sich selbst heraus schon politisch ist. Natürlich kann man sie auch inhaltlich oder formal so anlegen, wie in meinem Fall. Aber Kunst ist insofern politisch, weil sie ein Teil der Kultur ist und die Kultur sich mit Politik beschäftigt. Ich meine jetzt nicht, Parteipolitik etc., sondern Kunst als eine politische Haltung. Um nur zwei, drei Beispiele herauszunehmen: Die Performance Art der 60 Jahre hat sich stark mit dem Körper beschäftigt. In diese Zeit fällt unter anderem – insbesondere im europäischen Kontext – dessen avantgardistische Wiederentdeckung. Dabei ist auch der Gestus herausgekommen, mit dem der Körper arbeitet oder aktiv ist, wie im Fall des Action Painting. Die Sichtweisen auf Körper und andere Dinge haben mit der kulturellen Politik, oder mit der politischen Kultur zu tun. Und denken Sie an abstrakte Kunst, die abstraktes Denken trotzdem in einer konkreten Form fasst. Kunst hat, wie die Wissenschaft, immer auch einen politischen Impetus.
AVIVA-Berlin: Also glauben Sie nicht an eine autonome Kunst?
VALIE EXPORT: Die Kunst an sich ist ja autonom, aber sie ist trotzdem ein Bereich innerhalb eines großen Systems, einer großen Struktur.
AVIVA-Berlin: Kann Kunst, naiv gesprochen, die Welt verändern?
VALIE EXPORT: Bis zu einem gewissen Grad kann sie sie verändern. Das ist allerdings ein langsamer und langwieriger Prozess. Denn natürlich drückt Kunst auch gesellschaftliche Zustände aus, aber sie wirkt in kleinen Bewusstseinsschritten. Wenn man jedoch immer wieder auf ein politisches oder gesellschaftliches System hinweist – oder auch auf Gender als Teil des Systems – dann kann man die Augen dafür öffnen und die Wahrnehmung darauf lenken. Andererseits kann Kunst auch ganz konkret die Welt verändern, wenn bekannte SammlerInnen ihre Sammlungen verkaufen und mit dem dadurch erworbenen Geld Friedensbewegungen unterstützen. So konnte durch große Sammlungen bereits einiges bewegt werden.
AVIVA-Berlin: In Ihrem "Konzeptblatt zum TAPP und TASTKINO" von 1968 schreiben Sie sinngemäß, die Frau werde in Ihrer Performance vom Objekt des Mannes zum Subjekt, da alle ihre Eigenschaften, durch die sie zum Sexualobjekt gemacht wird, außer Kraft gesetzt sind. Kann eine Künstlerin durch Selbstinszenierung bestimmen, dass sie als Subjekt wahrgenommen wird? Besteht nicht auch die Gefahr, dass Menschen, insbesondere Männer, in den Kasten greifen, und Sie doch lediglich als sexuelles Objekt wahrnehmen?
VALIE EXPORT: Diese Barriere hat das natürlich viel schwerer gemacht. Die Wahrnehmung Einzelner kann man allerdings sowieso nie beeinflussen. Sie ist einfach da. Und dass diese Wahrnehmung nicht meiner Intention entspricht, kann sein. Aber andererseits ist es insofern schwieriger, weil Sexualobjekte eigentlich immer sichtbar und auch in ihrer sexuellen Konnotation ganz deutlich sind. Aber beim "TAPP und TASTKINO" hat man ja gar nichts gesehen. Deshalb konnte ich nicht mehr Sexualobjekt sein. Man hat nur ahnen können, was sich im Kasten verbirgt. Der Besucher oder die Besucherin wurden ihrerseits aber dabei beobachtet, wie sie sich dieser Erfahrung ausliefern, wie sie mich berühren oder auch nicht berühren. Und das ist der Unterschied.
AVIVA-Berlin: Es ist also weniger die Wirkung auf die einzelne Person, die in den Kasten greift, von Bedeutung, sondern die Wirkung auf die Umstehenden.
VALIE EXPORT: Die allgemeine Wirkung, das ist ganz klar.
AVIVA-Berlin: Weiter schreiben Sie zu Ihrem "TAPP und TASTKINO", das "Tabu der Homosexualität" werde aufgebrochen, da sowohl Männer als auch Frauen in den Kasten greifen können. Was hat Sie besonders an diesem Tabubruch gereizt?
VALIE EXPORT: Allgemein ist natürlich klar, dass ich oft mit Tabus arbeite, wenn ich Kunst kreiere. Ich setze mich mit dem Tabu auseinander, will es sprengen oder erklären: Warum ist es ein Tabu oder wie kann es von seinem Tabucharakter wegkommen? Diese sexuellen Tabus waren für mich und die Zeit alle sehr wichtig, weil sich Sexualität in Europa damals stark geändert hat und aufgebrochen ist. Es galten sowohl in der Familie als auch in der Einzelbestimmung einfach andere Regeln, es herrschten andere gesellschaftliche Formen. In der Frauenbewegung war das Hauptthema: "Mein Körper gehört mir". Das ist eine ganz klare Äußerung, die eigentlich selbstverständlich sein müsste. Aber sie musste dezidiert ausgesprochen werden. Und dieser Satz stand so vielen Widerständen gegenüber, bis den Menschen bewusst wurde, dass er wahr ist, dass der Körper weder dem Staat, noch der Gesellschaft, der Wirtschaft, den Männern oder der Familie gehört.
AVIVA-Berlin: Verfolgen Sie aktuelle Entwicklungen feministischen Protests, wie zum Beispiel die FEMEN, die sich in der Ukraine gegründet haben und Nacktheit als Protestmittel einsetzen? Wie schätzen Sie diese Art des Protests ein?
VALIE EXPORT: Als sehr positiv. Es ist hier und jetzt der richtige Einsatz von Mitteln, der richtige Hinweis. Und die FEMEN beinhalten ja ebenfalls das anfängliche Motto der Frauenbewegung: Der Körper gehört mir. Und ich kann ihn nutzen, um mich selbst(bestimmt) auszudrücken. Bei ihnen ist der Körper einerseits in seiner Nacktheit vorhanden, was bereits provoziert, aber andererseits natürlich auch mit Sprache und einer Schrift besetzt, die man dann noch zusätzlich lesen kann. Und das dritte und interessanteste Element, das seinen Ursprung in der Kunstbewegung der letzten Jahrzehnte hat, ist die Bewegung. Die Bewegung im Raum. Dieser Körper ist hier, dieser Körper ist da. Der Körper ist ja nicht statisch wie auf einer Leinwand. Hier wird der Körper zu einer politisch-menschlichen Skulptur. Und das bedeutet, er ist nicht einordenbar. Man kann nicht sagen: Stell dich dorthin, geh dahin, oder tu das. Sondern der Körper agiert immer an verschiedenen Orten, Plätzen und zu verschiedenen Menschen.
AVIVA-Berlin: Wie wichtig ist das Publikum für Ihre Kunst? Welche Rolle nimmt es ein?
VALIE EXPORT: Das Publikum ist ganz, ganz wichtig. Es ist ein Teil der Aktion. Aber ich glaube, Publikum ist für jeden wichtig. Auch religiöse Malerei in Kirchen war für ein Publikum, die Gläubigen gedacht. Wobei das Publikum in diesem Fall in einer relativ passiven Haltung geblieben ist. Es wurde dann aber eine Kunst entwickelt, in die auch das Publikum involviert ist und bei der es nicht nur rezipiert. Es wird aufgefordert, in einen Austausch mit dem Kunstwerk oder der Idee des Werkes zu treten. Das Publikum spielt dann die aktive Rolle und stellt eigentlich das Kunstwerk erst ganz zusammen. Aber das war eine Errungenschaft, die zur Jahrhundertwende ihren Anfang nahm und später wieder ganz stark aufgegriffen wurde. Denn das Publikum, das Volk ist während der Kriegszeiten geschändet worden und seine aktive Rolle wurde erst danach wieder aufgegriffen und wertgeschätzt. Selbstverständlich ist das nur eine stark verkürzte Darstellung, denn philosophisch ist das Thema noch wesentlich komplexer.
AVIVA-Berlin: Blättert mensch durch Kataloge und Bildbände feministischer Kunst, fällt auf, dass die meisten feministischen Künstlerinnen sich mit (ihren) Körpern beschäftigen. Das ist auch bei vielen Ihrer Werke der Fall. Ein wenig sind Sie schon auf die Bedeutung des Körpers für Kunst und Frauenbewegung eingegangen. Aber noch einmal vertieft: Warum ist die Auseinandersetzung mit dem (eigenen) Körper für Sie und andere KünstlerInnen so wichtig? Und ist Körperlichkeit für die Kunst von Frauen möglicherweise wichtiger als für die Kunst von Männern?
VALIE EXPORT: Die Auseinandersetzung mit dem Körper ist so wichtig, weil durch ihn sehr viel ausgedrückt werden kann. Vieles kann durch den eigenen Körper sogar am besten vermittelt werden. Er ist immer der Gegenstand, der repressiv eingeschätzt und behandelt wird. Außerdem ist in der Nachkriegszeit der weibliche Körper sehr früh entdeckt worden, weil der Stellenwert der Frau in der Gesellschaft sich eben auch in ihrem Körper widerspiegelt. Das geht bis hin zur Arbeitswelt. Frauen dürfen einfach so und auch wenig bezahlt die ärgsten Arbeitsprozesse ausführen. Und Männer kriegen auch heute noch die besseren Arbeiten zugeordnet und natürlich dann auch den besseren Lohn. Aber andererseits gibt es viele Künstler aus den 60er Jahren, die sich genauso intensiv mit ihrem eigenen Körper beschäftigt haben. Das ist also nicht nur eine rein weibliche Form. Ich will trotzdem eine Performance von Joan Jonas als Beispiel erwähnen, die sehr treffend ist. Sie hat sich mit einer Videokamera selbst aufgenommen. Ihre Körperteile wurden dabei auf Monitore übertragen. Die Künstlerin hat bestimmt, was aufgenommen wird und was das Publikum sieht, obwohl sie nackt vor dem Publikum stand. Und sie hat das nicht regulieren können und sagen können: Wenn ich jetzt hier den Schenkel aufnehme, hat niemand auf die Zehe zu schauen. Das war eine sehr raffinierte, eigenständige Arbeit. Zudem war es natürlich auch eine Kritik an der Medienpräsenz und Medienwelt. Übertragen wird genau das, was der Autor will.
AVIVA-Berlin: Ihre Ausstellung in der Galerie ZAK | BRANICKA trägt den Titel "Bilder der Berührung", der sich an Ihrer Installation "Fragmente der Bilder einer Berührung" von 1994 orientiert. Dabei werden leuchtende Glühlampen, die von der Decke hängen, in Glaszylinder getaucht, die mit unterschiedlichen Flüssigkeiten, Wasser, Milch und Altöl, gefüllt sind. Beim Betrachten musste ich an manche technische Beschreibung des Geschlechtsverkehrs in Elfriede Jelineks Roman "Lust" denken.
War das auch eine Ihrer Assoziationen, als Sie das Objekt konzipiert haben?
VALIE EXPORT: Nein, überhaupt nicht. Es hat mich verwundert, als man dann diese Installation das erste Mal aufgestellt hat, dass es mit einem sexuellen Akt – Penetration – verglichen wurde. Auf diese Idee bin ich überhaupt nicht gekommen. Denn in etwas eindringen bedeutet ja nicht unbedingt jedes Mal Penetration. Da macht man es sich manchmal auch ein bisschen leicht. So wie man früher alles, was senkrecht in die Höhe ragte, als Phallus bezeichnet hat.
AVIVA-Berlin: Was waren Ihre Gedanken zum Objekt?
VALIE EXPORT: Es hat 24 Teile, also 24 Lampen. Die Zahl 24 hat sich ergeben, weil eine Sekunde 24 Kader hat. Und das Ganze ist für mich ein Schwarz-Weiß-Film, umgesetzt in eine Installation. Schwarz durch das Öl, weiß durch die Milch, und die Perforation bei einem Schwarz-Weiß-Film, beim Celluloid, ist durchsichtig, glasklar. Diese natürlichen Elemente sind in den Gefäßen gebändigt und kommen mit Strom in Verbindung. Erdöl ist ein Naturmaterial, dass von uns nutzbar gemacht wird. Milch wiederum hat sehr stark mit Erotik und Sexualität zu tun. Babys trinken im allgemeinen Muttermilch und erhalten dadurch Nahrung, Wärme und Geborgenheit. Dann wird das Kind von der Mutter getrennt und kann den weiblichen Körper nicht mehr besitzen. Es sucht ein anderes Besitzfeld. Und die Brüste der Frau kriegen dann eine andere Konnotation: der Weiblichkeit, der Erotik, der Sexualität. Und Wasser ist das Element, das wir alle brauchen.
AVIVA-Berlin: Immer wieder haben Sie auch mit Elfriede Jelinek gearbeitet, zum Beispiel im Film "Elfriede Jelinek. News from Home. 18.8.88", den Sie für das Literatursymposium des "steirischen herbstes" 1988 gedreht haben. Jelinek hat außerdem wiederholt Texte zu Ihren Kunstwerken geschrieben, so zu Ihrem Film "I turn over the pictures of my voice in my head" (2008), der eine laryngoskopische Aufnahme Ihres Kehlkopfes zeigt. Was bedeutet Ihnen die Literatur Elfriede Jelineks und die Zusammenarbeit mit der Autorin für Ihr Werk?
VALIE EXPORT: Ich habe auch versucht, Geld zu beschaffen für "Die Klavierspielerin". Das Drehbuch war von ihr, ich habe es dann umgearbeitet. Das Geld habe ich aber nicht bekommen, weil das Fernsehen das Projekt ablehnte. Sie meinten, es könne nie ausgestrahlt werden. Das ist dann später trotzdem alles gelungen. Es ändern sich eben die Zeiten. Und die Zugänge auch. Aber Jelinek ist eine Sprachkünstlerin, formal und inhaltlich, die mir mit ihren literarischen Werken sehr nahe steht. Das gilt auch dafür, wie sie ihre Gedanken und Ideen in Sprache umsetzt: das Redundante, das Sich-Immer-Wiederholende. Auf einmal ist aber ein kleiner Bruch im Text und die Bedeutung wird eine ganz andere. Oder sie arbeitet mit Fragmenten, die sie zusammensetzt. Auch zu Jelineks Umgang mit politischen oder gesellschaftlichen Themen spüre ich eine Nähe.
AVIVA-Berlin: Im Jahr 2012 beschäftigte sich ein Symposium des Elfriede-Jelinek-Forschungszentrums und der Uni Wien unter dem Titel "(ach, Stimme!)" mit Ihrem Werk, dem Jelineks und jenem der Komponistin Olga Neuwirth. Es ging dabei um die Macht der Stimme und Sprache. Was genau verstehen Sie unter der "Macht der Sprache"? Was reizt Sie daran, sich mit diesem Thema immer wieder zu beschäftigen, z.B. in Werken wie "Der Schrei" oder "glottis"?
VALIE EXPORT: Die "Macht der Sprache" ist eine Metapher, ein Code. Wenn ich einen Satz ausspreche wie "Ich will Krieg", ist er insofern mächtig, weil der Krieg dann später stattfinden kann oder man sich etwas überlegen muss, wie er nicht stattfinden kann. Für mich ist die Macht der Sprache eigentlich die mächtigste Macht.
AVIVA-Berlin: In einem Interview zum Wiener Frauenpreis, den Sie 2011 erhalten haben, sagen Sie, dass Menschen erst Utopien entwickelt müssen, bevor sie ausbrechen und sich selbst verwirklichen können. Was ist Ihre Utopie?
VALIE EXPORT: Das ist eine schwierige Frage. Denn Utopien sind ja auch veränderlich. Das Wort "Utopie" war in den 60er Jahren ein Begriff, der beliebt und vollkommen selbstverständlich war. Aber in den letzten Jahrzehnten ist das Wort "Utopie" immer mehr deformiert und ausgebeutet worden. Meine Utopie ist – und mit dieser Utopie bin ich wohl nicht allein – dass die Menschheit, bevor der Prozess der Zerstörung schon nicht mehr reversibel ist, einen Weg findet, sich eben nicht zu zerstören. Denn die hohe Zahl der Opfer ist tragisch. Ich müsste in Wirklichkeit sagen – obwohl es naiv und sentimental klingt – Friede ist meine Utopie. Oder: ein gleichberechtigtes Zusammenleben.
AVIVA-Berlin: Ist das die Utopie, die Sie seit den 60er Jahren verfolgen, oder hat diese sich grundlegend oder in Einzelheiten verändert?
VALIE EXPORT: Grundlegend nicht, aber natürlich in Einzelheiten. Ich kann mich erinnern, dass ich in den 70er Jahren sehr oft in den USA bei Kongressen dabei war. Dabei haben sich die Afro-Amerikanerinnen kritisch zu Wort gemeldet: "Kein Mensch kümmert sich um uns, obwohl wir auch Amerikanerinnen sind. Ihr seid die weißen Feministinnen und interessiert euch gar nicht für unsere Probleme." Und ein weiteres interessantes Symposium habe ich in Köln erlebt. Das ist noch nicht so lange her, vielleicht 20 Jahre. Da ging es um die klitorale Beschneidung und es waren auch nordafrikanische Feministinnen anwesend. Hier wiederum haben sich die deutschen Feministinnen empört: "Das ist ein Eingriff in den Körper. Das muss man abschaffen. Und alle Frauen müssen für dieses Ziel zusammenarbeiten." Daraufhin haben die afrikanischen Feministinnen erwidert: "Wir machen das allein. Wir brauchen keine anderen Feministinnen dazu. Es ist unsere Kultur und wir müssen das innerhalb dieser Kultur selbst lösen." Und das war eigentlich die richtige Antwort darauf.
AVIVA-Berlin: Vielen Dank für das Interview!
Weitere Informationen:
Informationen zum Werdegang, zu Werken und Ausstellungen der Künstlerin auf www.valieexport.at
Dieses Interview wurde anlässlich der Ausstellung in der Galerie ZAK | BRANICKA: "Bilder der Berührung" geführt. (Ausstellung - Bilder der Berührung - bis 15. Juni 2013 in der Galerie ZAK | BRANICKA)
Im Interview erwähnte Werke der Künstlerin: TAPP und TASTKINO (1968), Aktionshose: Genitalpanik (1969), Elfriede Jelinek. News from Home. 18.8.88 (1988), Fragmente der Bilder einer Berührung (1994), Der Schrei (1994), glottis (2007)
Interdisziplinäres Wissenschaftsportal: "(ach, Stimme!)". VALIE EXPORT. ELFRIEDE JELINEK. OLGA NEUWIRTH.
VALIE EXPORT im Interview zum Wiener Frauenpreis: www.youtube.com (2011)
Elfriede Jelinek zu Werken VALIE EXPORTs: "Sich vom Raum eine Spalte abschneiden" (1997), "Ungeduldetes, ungeduldiges Sichverschließen. (ach, Stimme!)" (2008)
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VALIE EXPORT - SMART EXPORT, 1970
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