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Beitrag vom 28.03.2013
Interview mit Eva Maria Fischer von Handicap International zum Antiminentag am 4. April 2013
Ilka Fleischer
"Landmine tötet zehn Mädchen" titelten im Dezember 2012 zahlreiche Medien. Die Kinder waren beim Holzsammeln in der Provinz Nanagahar in Afghanistan auf eine Antipersonenmine gestoßen – ein...
... verheerender Unfall von vielen: Schätzungen zufolge wird alle zwei Stunden ein Mensch Opfer von Landminen. Tendenz steigend.
Trotz der vermehrten Unfälle ist in der internationalen Unterstützung der Opferhilfe ein Rückgang um fast 30 Prozent zu verzeichnen, so lautet die bittere Bilanz des Landminen-Monitors 2012.
Das Engagement der Hilfsorganisationen bleibt dennoch ungebrochen: Der Internationale Antiminentag am 4. April 2013 wird zum Anlass genommen, um auf die weiterhin dramatische Minenproblematik und die dringend benötigte Förderung aufmerksam zu machen.
Im Interview mit Dr. Eva Maria Fischer, Leiterin der Kampagnen- und Öffentlichkeitsarbeit bei Handicap International fragte AVIVA-Berlin nach aktuellen Antiminen-Aktionen und nach Möglichkeiten, sich selbst zu engagieren – vor allem aber nach geschlechtsspezifischen Aspekten der Thematik, die bislang fast ungegendert geblieben ist.
AVIVA-Berlin: Bislang kann keine Minenopfer-Statistik als "valide" bezeichnet werden, da – aufgrund unvollständiger Datenerhebung in weiten Teilen der Welt – von einer enormen Dunkelziffer ausgegangen wird. Dennoch: Welche "soliden" (aktuellen) Zahlen und Fakten existieren zum Frauen-/Männeranteil bei Minenopfern?
Handicap International: Die internationale Kampagne für das Verbot von Landminen bringt seit In-Kraft-Treten des Minenverbotsvertrags jährlich den
"Landminen-Monitor" heraus, in dem von Organisationen und Ministerien aller beteiligten Länder Informationen zusammengetragen werden. In vielen betroffenen Ländern, zum Beispiel in Südostasien, werden jedoch Unfälle nur sehr unvollständig erfasst. Die Dunkelziffer ist deshalb sehr hoch. Nach den Fakten des letzten Monitor lag der Anteil weiblicher Unfallopfer 2011 bei zehn Prozent, das heißt bei 379 von 3.656 durch Minen verletzten oder getöteten Menschen. Der Prozentsatz ist auch deshalb eher niedrig, weil in vielen betroffenen Ländern (zum Beispiel in den besonders verminten Ländern Afghanistan, Irak, Libanon oder Libyen) sich Männer und Jungen häufiger außer Haus bewegen, Holz sammeln oder auf dem Feld arbeiten. Doch die Opfer sind ja nicht nur diejenigen, die persönlich bei Unfällen verletzt oder getötet werden, sondern auch deren Familien und Gemeinden. Wird ein Bauer durch eine Mine getötet oder arbeitsunfähig, verlieren oft auch seine Frau und seine Kinder den Ernährer. Und selbst wenn noch niemand auf eine Mine getreten ist, bedeutet die Verminung von Ackerland in den meisten Fällen, dass Familien ihre Lebensgrundlage verlieren.
AVIVA-Berlin: Inwiefern könnten valide Daten zu einem besseren Verständnis der Problematik und somit zu besseren Handlungsstrategien – beispielsweise Gender Budgeting – beitragen?
Handicap International: Die Datenerhebung ist in jedem Fall eine extrem wichtige Grundlage, um die betroffenen Menschen sinnvoll unterstützen zu können. Denn zur sinnvollen Arbeit für die Betroffenen gehört neben der Versorgung der Unfallüberlebenden auch die soziale und wirtschaftliche Förderung und natürlich die Minenräumung. Um hier gezielt vorzugehen, muss vorher durch Evaluierung gesichert sein, wo der dringendste Bedarf liegt und was die Menschen wirklich brauchen. Dazu ist wichtig, dass diejenigen, die unterstützen wollen, eng mit der Bevölkerung zusammenarbeiten.
AVIVA-Berlin: Wie von Ihnen schon angesprochen, verlieren männliche Minenopfer durch die Verstümmelung oft ihren Status als Familienernährer. Weibliche Minenopfer sind wiederum häufiger gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt, die aus gängigen Schönheitsidealen resultieren. Nicht wenige werden beispielsweise von ihren Männern verstoßen oder finden erst gar keine Partner. Welche unterschiedlichen Folgen haben Minen-Unfälle für Frauen und Männer ansonsten?
Handicap International: Die physischen Folgen sind zunächst einmal dieselben, wobei die Schwächsten bei einem Unfall natürlich die geringsten Überlebenschancen haben. Das sind in der Regel Kinder, alte Menschen oder zum Beispiel schwangere Frauen. Diejenigen, die gerettet werden können, müssen fast immer lebenslang mit einer Behinderung leben. In Regionen, wo Bildungschancen gering sind, werden in vielen Fällen Jungen eher eingeschult als Mädchen und gesunde Kinder eher als Kinder mit Behinderung. Mädchen mit einer Behinderung gehören dabei sicherlich zu den am stärksten Benachteiligten. Außerdem sind sie – woher auch immer ihre Behinderung kommt – besonders häufig Opfer von sexuellem Missbrauch.
AVIVA-Berlin: Es gibt zahlreiche Minenräumungsprojekte, bei denen
Leuchtbakterien,
Ratten oder auch
Hunde zum Einsatz kommen. In Sri Lanka werden neuerdings
gezielt Frauen für die Entminung ausgebildet und eingesetzt. In Anbetracht der Tatsache, dass diese Arbeit zahlreiche Opfer fordert, wirkt dieses "Frauenprojekt" fast zynisch. Gibt es andere Projekt-Beispiele, die einen – weniger fragwürdigen – geschlechtsspezifischen Ansatz verfolgen?
Handicap International: Da muss ich widersprechen. Warum soll die Arbeit von Frauen in der Entminung fragwürdig sein? Entminung ist ein wichtiger, anspruchsvoller, hoch angesehener und relativ gut bezahlter Beruf. Wenn mensch gut ausbildet und verantwortlich arbeitet, lassen sich auch die Risiken weitgehend eindämmen. Handicap International arbeitet zum Beispiel in vielen Ländern in der Entminung, immer mit hohen Sicherheitsstandards. Dazu gehört eine gute Ausrüstung und die Voraussetzungen, dass immer ein medizinisches Team vor Ort ist, dass die RäumungsspezialistInnen immer zu zweit arbeiten und halbstündlich Pausen einlegen. Die Entminung ist kein Abenteuer, sondern erfordert Wissen, Genauigkeit, Geduld und Sensibilität. Dafür suchen wir vor Ort die geeigneten Personen aus, und das sind eben häufig Frauen.
Ganz abgesehen davon werden auch Hunde bei der Entminung nicht unnötigen Risiken ausgesetzt. Sie sind aufwändig ausgebildet und deshalb sehr wertvoll, und die Entminerinnen und Entminer arbeiten in einem extremen Vertrauensverhältnis mit diesen Tieren zusammen.
AVIVA-Berlin: Während die internationale Unterstützung für Minenaktionen so hoch ist wie nie zuvor, wurden Ausgaben für die Opferhilfe drastisch gekürzt (
Landminen-Monitor 2012). Wie ist diese Umverteilung der Fördermittel zu beurteilen? Und wie sähe eine sinnvolle internationale Förderpolitik nach Ihrer Meinung aus – auch im Hinblick auf geschlechtergerechte Projekte?
Handicap International: Der Rückgang von Opferhilfe ist fatal. Denn so wichtig Entminung ist, um das Problem langfristig zu beseitigen – die Opfer bleiben. Bis heute haben etwa 500.000 Menschen Unfälle mit Landminen und Blindgängern überlebt und benötigen lebenslang Unterstützung durch medizinische Einrichtungen, orthopädische Werkstätten oder auch inklusive Bildungsprogramme. Die geförderte Minenaktion muss einen ganzheitlichen Anspruch erfüllen und alle betroffenen Menschen, also wie gesagt nicht nur die Unfallopfer selbst, erreichen.
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Dr. Eva Maria Fischer © Erwin Fleischmann / Handicap International J |
AVIVA-Berlin: Als Koordinatorin der Internationalen Kampagne für das Verbot von Landminen (International Campaign to Ban Landmines, ICBL) erhielt die Lehrerin und Menschenrechts-Aktivistin Jody Williams 1997 den Friedensnobelpreis. In Deutschland wurde die Fernsehredakteurin und Minenräumerin Vera Bohle 2002 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Gibt es weitere weibliche Role Models in diesem Bereich? Wenn ja, welche?
Handicap International: Nun ja, die Kampagne lebt bis heute nicht zuletzt von vielen engagierten Frauen. Von Sylvie Brigot, der heutigen Leiterin von ICBLCMC (der vereinigten Kampagnen gegen Landminen und Streumunition) über die Leiterinnen der ICBL und der CMC selbst bis hin zu vielen, vielen Campaignerinnen aus den beteiligten Ländern. Besonders beeindruckend ist für mich Song Kosal, eine junge Kambodschanerin, die durch Landminen ein Bein verloren hat. Als Kind kam sie zur neu gegründeten Kampagne – heute spricht sie mit einer unheimlichen Klarheit und Ausstrahlung auf internationalen Konferenzen oder vor Fernsehkameras… überhaupt haben Unfallüberlebende, Männer und Frauen, eine entscheidende Rolle für die Glaubwürdigkeit und Durchsetzungskraft der Kampagne gespielt.
AVIVA-Berlin: Nach Intervention der kambodschanischen Regierung wurde weiblichen Minenopfern 2009 die Durchführung des Schönheitswettbewerbs "Miss Landmine" untersagt, weil sie nicht in die gängigen Schönheitsklischees passten. Bei aufsehenerregenden Antiminen-Kampagnen hierzulande wird nicht selten mit Menschen geworben, die dem hiesigen Schönheitsideal entsprechen. Werden solche Aktionen der Problematik gerecht?
Handicap International: Wir führen in Deutschland gemeinsam mit SODI die
"Zeig dein Bein"-Kampagne durch und haben eine ganze Reihe prominenter Unterstützerinnen und Unterstützer aus verschiedenen Bereichen und in unterschiedlichem Alter. Dazu gehört eine bekannte schöne und starke Frau wie Ulrike Folkerts oder auch Mario Galla, ein männliches Modell, der erfolgreich im Modemarkt mitmischt, obwohl er eine Beinprothese trägt.
Die Arbeit in der Landminenkampagne ist heutzutage viel schwieriger als in den 1990er-Jahren, als das Verbot noch erkämpft werden musste. Heute muss der Verbotsvertrag umgesetzt werden – so lange, bis alle Länder beteiligt, alle Minen beseitigt und alle Opfer lebenslang versorgt sind. Aber natürlich schwindet das öffentliche Interesse mit der Zeit, auch wenn das Problem bleibt. Wir arbeiten deshalb auf verschiedensten Ebenen – wir sind immer noch auf den internationalen diplomatischen Konferenzen dabei, sprechen mit PolitikerInnen, gehen in Schulen, machen Filme, Ausstellungen… "Zeig dein Bein" ergänzt diese Arbeit als eine internationale Aktion, die unter anderem über die Beteiligung ganz verschiedener Prominenter sehr erfolgreich versucht, auch Menschen auf das Landminenproblem anzusprechen, die sonst schwer mit politischen Themen erreicht werden können.
AVIVA-Berlin: Gemeinsam mit der Cluster Munition Coalition (CMC) setzt sich die International Campaign to Ban Landmines (ICBL) für das Verbot von Landminen ein. Herausragende Erfolge der Kampagnen sind die
Konvention von Ottawa und der
Vertrag von Oslo. Eine internationale Petition soll
"dazu beitragen, dass alle Staaten diesen Abkommen beitreten und die Regierungen, für die sie national und international bereits gültig sind, zum Beispiel die deutsche, sie konsequent umsetzen." Unter
"Sagt Nein zu Streubomben" kann sich jedeR BürgerIn an der Petition beteiligen. Wie kann mensch ansonsten selbst aktiv werden und sinnvolle Projekte unterstützen? Welche Aktionen sind rund um den Internationalen Antiminentag am 4. April 2013 geplant?
Handicap International: Wie erwähnt gibt es momentan die Aktion
"Zeig dein Bein für eine Welt ohne Minen". Alle können sich mit einem Foto auf der Kampagnenseite beteiligen oder bei unseren Events am 4. April 2013 in Berlin, München und an anderen Orten. Es gibt auf der Seite auch eine aktuelle Petition zu unterschreiben, die die US-Regierung dazu auffordert, endlich dem Minenverbot beizutreten. Aber auch nach dem 4. April 2013 können sich Interessierte auf unseren Seiten informieren, unsere Flyer bestellen und verteilen, unsere Ausstellungen und Filme zeigen, bei Arbeitsgruppen mitmischen. Im Wahlkampf können wir alle KandidatInnen befragen, wie sie zur Unterstützung von Minenaktionen stehen – oder zu einem Gesetz, das deutschen Banken verbieten soll, in die Produzenten von Minen und Streumunition zu investieren.
AVIVA-Berlin: Das klingt nach einem guten Vorhaben. Wir danken Ihnen für das Interview!
Weitere Informationen finden Sie unter:Handicap InternationalLandminen-Monitor 2012Petition: "Sagt Nein zu Streubomben"Konvention von Ottawa (1997)
Vertrag von Oslo (2008)
Zeig dein Bein für eine Welt ohne Minen