Traditionelle Geschlechtsrollen verhindern gesellschaftliche Modernisierungsprozesse - Interview mit Dilek Kolat - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Interviews



AVIVA-BERLIN.de im Oktober 2024 - Beitrag vom 26.10.2012


Traditionelle Geschlechtsrollen verhindern gesellschaftliche Modernisierungsprozesse - Interview mit Dilek Kolat
Meyer, Adler

Wie ermutigt mensch Mädchen für MINT-Berufe, was hat das geplante Betreuungsgeld mit Integration zu tun und warum muss es endlich eine gesetzlichen Quote für Frauen in Führungspositionen geben?




Die Berliner Senatorin für Arbeit, Frauen und Integration, Dilek Kolat, sprach mit AVIVA-Berlin über ihren Werdegang in Naturwissenschaft und Politik, den leidigen Gender Pay Gap und die Quote als probates Mittel gegen die gläserne Decke, denn "von allein wird sich nichts ändern".


AVIVA-Berlin: Sie haben eine erstaunliche politische Karriere hingelegt: Im Juni 2004 wurden Sie Kreisvorsitzende der SPD Tempelhof-Schöneberg, und sind im Landesvorstand der SPD Berlin.
Bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus von Berlin im September 2006 erzielten Sie mit 41,2 Prozent der Stimmen in Ihrem Wahlkreis Tempelhof-Schöneberg 3 nicht nur das Direktmandat, sondern auch das beste Erststimmenergebnis für die SPD.
Von 2006–2011 waren Sie die stellvertretende Fraktionsvorsitzenden der SPD-Fraktion des Abgeordnetenhauses und schließlich hat der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, Sie am 28. November 2011 als Senatorin für Arbeit, Frauen und Integration des Landes Berlin nominiert. Am 30. November 2011 wurden Sie zur Senatorin ernannt und am 1. Dezember 2011 vereidigt.
Wann und warum haben Sie sich entschieden, in die Politik zu gehen?
Dilek Kolat: Die Grundlage dafür ist ziemlich früh gelegt worden. Ich bin dem sozialdemokratischen Bildungssystem noch heute sehr dankbar. Ich konnte nur mit einer Hauptschulempfehlung eine Gesamtschule besuchen. Auf der Hauptschule wäre mein Werdegang sicherlich nicht so erfolgreich gewesen. Damals habe ich festgestellt, dass Bildung der Schlüssel zum sozialen Aufstieg ist. Ich habe mich während meines Studiums schon für Bildungschancen eingesetzt mit konkreten Hilfsangeboten. Ich habe aber festgestellt, dass Lösungen in den Parlamenten und Parteien entwickelt werden. Die SPD hat mich später mit offenen Armen empfangen. Als Sozialdemokratin habe übrigens nie daran gedacht, in eine andere Partei zu gehen.

AVIVA-Berlin: Was möchten Sie in Ihrem Amt bewirken?
Dilek Kolat: Ich möchte mit meiner Arbeit Teilhabe und Chancengleichheit für alle Berlinerinnen und Berliner möglich machen. Dazu gehört vor allem auch der Zugang zu einer existenzsichernden Erwerbstätigkeit. Darüber hinaus will ich dazu beitragen, dass Berlin eine soziale, solidarische und weltoffene Stadt ohne irgendwelche Diskriminierungen wird.

AVIVA-Berlin: Als Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen ermutigen Sie junge Frauen, sich eine Ausbildung in naturwissenschaftlichen Fächern zuzutrauen. Warum ist Ihnen dies ein persönliches Anliegen? Welche Instrumente können Politik und Wirtschaft ergreifen, um MINT-Fächer auch in den Schulen für Mädchen attraktiver zu machen?
Dilek Kolat: Ich wurde als Migrantin ohne Deutschkenntnisse eingeschult. Aber ich vertraute auf meine Stärken, wählte als einziges Mädchen Physik im Leistungskurs und studierte später Mathematik. Nehmen Sie das Beispiel des Girls´ Days: Unternehmen, Forschungseinrichtungen, Behörden öffnen einmal im Jahr ihre Türen und junge Frauen nutzen die Chance, vielfältige Eindrücke und Erfahrungen in Berufen zu sammeln, in denen sie bislang noch unterrepräsentiert sind. Die Politik kann auf Frauen, die es in MINT-Berufen weit gebracht haben, als sichtbare Vorbilder hinweisen. Nur so können wir den noch immer engen Zusammenhang zwischen Berufswahl und Geschlecht stärker entkoppeln. Traditionelle Geschlechtsrollen verhindern auch heute noch individuelle Entwicklungs- und damit auch gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse.

AVIVA-Berlin: Sie setzen sich in Ihrem Amt und persönlich dafür ein, dass Frauen in naturwissenschaftlichen Berufen als erstrebenswerter Normalzustand wahrgenommen werden.
Was raten Sie jungen Frauen, die heute eine Laufbahn in den MINT-Fächern anstreben?
Dilek Kolat: Ganz egal, wie viele Hindernisse man Ihnen auch in den Weg legt: Behalten Sie ihr Ziel im Auge und lassen sie sich von niemandem einreden, Sie seien für eine solche Laufbahn nicht gut genug!

AVIVA-Berlin: Im Bündnis "Frauen in Führungspositionen" bzw. "Frauen an die Spitze" arbeiten Sie mit der IHK zusammen, um die Karrierechancen von Frauen im Berufsleben zu verbessern.
Wie sehen Ihre gemeinsamen Schritte dorthin konkret aus?
Dilek Kolat: Zunächst einmal: ich finde es sehr schade, dass Qualifikation und Leistung allein bei Frauen oft nicht ausreichen, um in Führungspositionen zu gelangen. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass wir eine gesetzliche Quote brauchen. Denn von allein wird sich nichts ändern. Nun zum dem mit der IHK abgeschlossenen lokalen Bündnis zur Erhöhung des Anteils von Frauen in Führungspositionen. Berliner Unternehmen sollen davon überzeugt werden, dass Frauen in den Betrieben ein wichtiges Potenzial darstellen, das es aktiv zu nutzen gilt. Künftig soll mehr Frauen gezielt eine Karrierechance eröffnet werden. Im Rahmen des Bündnisses werden die Betriebe beraten. Gute Beispiele von bereits erfolgreich implementierten Umsetzungsideen sollen ihnen dabei hilfreiche Anregungen geben und sie zur gewünschten Nachahmung animieren. Um darüber hinaus gezielt auch direkt auf der betrieblichen Ebene anzusetzen soll das Bündnis bereits bestehende Beratungs- und Coaching Angebote bündeln und kommunizieren.

AVIVA-Berlin: Das geschlechtsspezifische Lohngefälle liegt in Berlin bei 16 Prozent.
Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass Frauen nach wie vor in schlechter bezahlten Berufsgruppen überrepräsentiert sind?

Dilek Kolat: Eine Begründung ist, dass Frauen immer noch den Hauptanteil bei Betreuungs- und Erziehungsaufgaben übernehmen. Erwerbsunterbrechungen, dann anschließende Teilzeitbeschäftigung führen zum Gehalts– und Karriereknick. Die Unternehmen müssen familienbewusste Personalpolitik oder überhaupt eine Personalpolitik, die sich auch an den Bedürfnissen und familiären Verpflichtungen der Beschäftigten orientiert, als wichtig erkennen.
Frauen verdienen auch deshalb weniger, weil sie häufig in Branchen arbeiten, wo die Gehälter gering sind und sie als Teilzeitbeschäftigte weniger Aufstiegsmöglichkeiten haben.

AVIVA-Berlin: Wie bewerten Sie, speziell für Berliner Eltern, den Nutzen oder Schaden des geplanten Betreuungsgeldes, welches an Eltern ausgezahlt werden soll, die ihre Kinder nicht in eine staatliche Einrichtung geben?
Dilek Kolat: Ich rechne mit negativen Auswirkungen. Vor allem Frauen mit niedrigem Bildungsstand oder mit Migrationshintergrund werden noch eher darauf verzichten, ihr Kind in eine öffentliche Einrichtung zu geben. Deshalb ist durch die geplante Einführung eines Betreuungsgeldes die wichtige Integration von Frauen mit Kindern in den Arbeitsmarkt gefährdet. Darüber hinaus werden bereits erzielte Fortschritte in der Förderung der Integration von Kindern mit Migrationshintergrund bedroht. Gerade für Kinder aus Migrantenfamilien stellt ein Kita-Besuch eine große Chance dar, eventuell vorhandene Sprachdefizite rechtzeitig vor der Einschulung auszugleichen.

AVIVA-Berlin: Nach dem Überfall auf Rabbiner Alter und seine Tochter haben Sie auf der Solidaritätskundgebung in Friedenau am 02.09.2012 betont, dass diese Stadt ihn braucht, "weil Berlin das jüdische Leben hat, und immer haben will – und dafür werden wir uns immer einsetzen". Sie sagten auch, dass die islamischen Verbände jetzt gefordert sind, das Thema aufzugreifen und in den interreligiösen Dialog zu gehen. Wie kann dieser Dialog initiiert werden? Inwieweit können Ihrer Meinung nach die muslimischen Verbände Antisemitismus entgegenwirken?
Dilek Kolat: Muslimische Verbände können Antisemitismus entgegen wirken, indem sie menschenverachtende Haltungen wie Rassismus und Antisemitismus öffentlich ächten und intern kommunizieren. Als positiv bewerte ich jede Zusammenarbeit mit jüdischen Gemeinschaften, zum Beispiel in der Bildungs- und Antidiskriminierungsarbeit. Solche Formen des Dialogs haben wir bereits vielfach ins Leben gerufen – auch mit muslimischen Organisationen. Projekte im Landesprogramm gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus Berlins greifen unter Beteiligung muslimischer Partner das Thema des Antisemitismus auf.

AVIVA-Berlin: Vielen Dank und weiterhin viel Erfolg! Wir freuen uns auf eine konstruktive und erfolgreiche Zusammenarbeit.


Weitere Infos finden Sie unter:

www.dilek-kolat.com

und auf Dilek Kolats Facebook-Seite.

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