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Beitrag vom 10.10.2011
Interview mit Simone Catharina Gaul
Nina Breher
Wie dreht mensch einen Film über theaterschaffende Obdachlose, der sich nicht in Klischees erschöpft und der seinen ProtagonistInnen auf Augenhöhe begegnet? Simone Catharina Gaul zeigt, wie...
...es geht und sprach mit AVIVA-Berlin über ihre erste Dokumentation in Spielfilmlänge.
Die RATTEN 07 kamen vor neunzehn Jahren zum Theater, als der Regisseur Jeremy Weller einige Berliner Obdachlose für ein Projekt engagierte. Nach dieser Zusammenarbeit formierten sie sich aus eigenem Antrieb zu einer selbständigen Gruppe. Heute sind die ´Ratten´ nicht mehr obdachlos – aber als ´obdachloses Theater´ bringen sie noch immer regelmäßig Klassiker auf die Bühne. Die Produktion "Rattenmonologe" erzählt erstmals die Lebensgeschichten der sieben Gründungsmitglieder.
Nach einigen Kurzfilmen drehte Regisseurin Simone Catharina Gaul 2011 den Dokumentarfilm "Rattengeschichten", der das Ensemble RATTEN 07 bei der Entstehung des Theaterstückes begleitet. Die Premiere des Films findet am 11. Oktober 2011 in der Volksbühne statt.
AVIVA-Berlin: Du studierst an der Filmakademie Baden-Württemberg und hast auch bei vielen Produktionen von und mit KommilitonInnen mitgewirkt. Wie ist das Klima für junge Filmschaffende in Ludwigsburg?
Simone Catharina Gaul: Die Schule ist ganz toll! Die Stadt ist allerdings ein bisschen gewöhnungsbedürftig. Sie ist sehr klein und es gibt wenig Freizeitangebote. Dadurch gibt es aber ein ganz intensives Arbeitsklima an der Filmschule: Da sind 400 Filmstudenten in einer so kleinen Stadt und man ist den ganzen Tag mit den Leuten zusammen – arbeitet zusammen, geht abends zusammen in die Kneipe und wohnt zusammen. Es ist eine unheimlich intensive Erfahrung und schweißt uns ´Ludwigsburger´ auch ziemlich zusammen. Aber es fühlt sich schon ein bisschen an wie auf einem Internat. Ein Filminternat sozusagen. (lacht)
AVIVA-Berlin: Wie ist dort der gefühlte Frauenanteil?
Simone Catharina Gaul: Es gibt weniger Frauen als Männer, viel weniger Frauen. Das liegt aber auch daran, dass viele Berufe, die man im Filmwesen studieren kann, technische Berufe sind. Man kann Sounddesign und Filmton studieren, da ist meistens von sechs Studenten, die in der Klasse sind, nur eine einzige Frau. Beim Studiengang Kamera ist es dasselbe. In Montage, also Schnitt, ist es eigentlich ausgewogen und in Regie auch. Es sind weniger Frauen, aber da sind auf jeden Fall einige dabei.
AVIVA-Berlin: Du bist derzeit als Continuity beim Kinospielfilm "5 Jahre" engagiert. Der Diplomfilm des Filmakademiestudenten Stefan Schaller behandelt das Schicksal des Guantanámo-Häftlings Murat Kurnaz. Wie kam es zu der Zusammenarbeit?
Simone Catharina Gaul: Wir kennen uns von der Schule. "5 Jahre" ist Stefans Abschlussfilm und ich habe bereits einen Kurzfilm mit ihm gemacht. Wir haben gern zusammen gearbeitet und ich habe auch einfach nicht so viel Erfahrung mit Spielfilmen – ich studiere ja eher dokumentarische Formate. Ich finde, dass das ein ganz tolles Projekt ist. Außerdem ist es eine Möglichkeit für mich, mehr Set-Erfahrung sammeln. Das ist immer toll und immer hilfreich und bringt auch für Dokumentarfilme wahnsinnig viel.
AVIVA-Berlin: Dreht ihr den gesamten Film in Bremen?
Simone Catharina Gaul: Also, wir waren jetzt zwei Wochen in Bremen – Murat Kurnaz kommt von dort. Jetzt gerade drehen wir ein paar Stationen in Berlin. Das sind Motive, die in Bremen spielen, aber wir drehen sie hier in Berlin und gehen anschließend in die Filmstudios in Babelsberg. In Babelsberg findet Guantanámo statt.
AVIVA-Berlin: Nun zu deinem Film "Rattengeschichten". Wie bist du auf die ´Ratten´ aufmerksam geworden?
Simone Catharina Gaul: Schon damals, als ich noch in Stuttgart gewohnt habe, habe ich mich schon für Theater interessiert. Der Regisseur Volker Lösch inszeniert viel in Stuttgart, und er holt oft Leute ´von der Straße´ oder macht etwas mit Arbeitern und Gefängnisleuten. Die holt er dann auf die Bühne und das hat mich immer gereizt: Diese Verschmelzung von Theater und Wirklichkeit. Ich sehe das aber teilweise auch kritisch, denn man muss aufpassen, dass die Leute nicht ausgestellt werden. So bin ich dann auf die ´Ratten´ gekommen, die ja auch auf diese Weise zum Theater gekommen sind. Ein britischer Regisseur hat sie damals entdeckt, und ich fand die Geschichte dieser Gruppe total spannend. Ursprünglich wollte ich einen Film über ein Gefängnistheater machen. Das hat aber nicht so richtig funktioniert, und dann habe ich mich mal mit den ´Ratten´ getroffen. Ich war begeistert von diesen Leuten und dachte: Wow, super!
AVIVA-Berlin: Und denen hat dein Projekt auch gefallen?
Simone Catharina Gaul: Naja – am Anfang war es ein bisschen schwierig, weil ich keinen reinen Film über das Projekt ´Die Ratten´ machen wollte, sondern mich vor allem für die Menschen interessiert habe: Was sind das für Leute, und wie ticken die, wie leben die? Da war das Ensemble am Anfang ein wenig, ich sag´ mal, zurückhaltend. Die waren total begeistert von der Idee, einen Film über die ´Ratten´ zu machen, aber dann: "Oh, aber ein Film über mich als Christa?! Öööah!" "Ein Film über mich als Heinz?! Uaahh!" Das hat ein bisschen gedauert, ich war oft bei ihnen und habe sie besucht. Es war nötig, gegenseitiges Vertrauen zu gewinnen – ich zu ihnen, dass sie auch mitmachen, und sie zu mir, dass ich sie nicht bloßstelle, à la ´hier guck mal da, so´n paar HartzIV-Menschen.´ Und wenn das Vertrauen da ist, dann funktioniert das auch!
AVIVA-Berlin: "Rattengeschichten" ist dein erster langer Dokumentarfilm. Der Film zeigt oft ein sehr raues Arbeitsklima bei der Entstehung des Theaterstückes "Rattenmonologe" – Waren auch die Dreharbeiten manchmal frustrierend?
Simone Catharina Gaul: Die waren manchmal total frustrierend, natürlich! Es war ein Auf und Ab, so ist das aber in jedem Film. Andererseits gab es unheimlich tolle Momente – während der Dreharbeiten hatte ich Geburtstag. Eine Protagonistin rief mich an und hat mir gratuliert und war total herzlich. Es gab aber auch Momente, in denen einzelne Protagonisten abspringen wollten, das war inhaltlich ein großes Problem. Und dadurch, dass wir nicht inszenieren, sondern wirklich die Leute begleiten wollten, war es auch manchmal anstrengend, denn nicht immer wollten alle mitmachen: "Was machen die jetzt? Machen wir da mit? Was drehen wir morgen? Naja, mal sehen..." Auch während der Proben war das eine ständige Gratwanderung – Oft haben wir uns gefragt: Schmeißen die uns jetzt raus? Denn, wenn die streiten und wir beobachten das auch noch... ist das grenzwertig. Und dann gab es auch diese Dinge, die es fast immer gibt. Zum Beispiel, als uns der Film gerissen ist. Das gehört aber dazu, ich glaube, ein Film ist eh´ ein Produkt voller Leidenschaft und da steckt ganz viel Freude drin, und da stecken auch ein paar Tränen drin und da steckt Frust drin, und, und, und!
AVIVA-Berlin: Wenn die Proben eskalieren, scheint es, als würde die Stimmung von der Bühne auf die Realität übergreifen. Es ist vielleicht eine Klischeefrage, aber: Sind die ´Ratten´ schwierige Persönlichkeiten?
Simone Catharina Gaul: Es ist schwierig darauf zu antworten, denn natürlich sind sie spezielle Persönlichkeiten und natürlich sind sie in vielen Punkten empfindlicher als andere. Gerade diese Szene, in der es wirklich geknallt hat: Das passiert bei den ´Ratten´ hin und wieder, aber das tut dem Ensemble als solchem auch ganz gut. Ich habe sie gefragt, was da denn los war, und dann sagten sie alle: "Wieso, was war denn? Ach! Der kleine Streit! Ach!" In dem Moment ist es aber auch für die sehr unangenehm. Natürlich steht alles immer auf der Kippe. Ich kannte die ´Ratten´ ja nicht wie sie früher waren, aber ich habe mit Leuten gesprochen, die schon mit ihnen gearbeitet hatten. Die waren auf jeden Fall früher rauer und schwieriger und sind mit den Jahren auch zahmer geworden. Habe ich zumindest gehört. Sie sind nicht so zuverlässig wie professionelle Schauspieler, manchmal kamen welche einfach nicht, aber dafür haben sie andere Qualitäten.
AVIVA-Berlin: Was für Reaktionen zeigten die ´Ratten´ auf den Film, als sie ihn das erste mal sahen?
Simone Catharina Gaul: Natürlich ist es immer komisch wenn man sich selber sieht. Ich hatte Angst davor, ihnen den Film zu zeigen, denn wenn man den Film das erste Mal seinen Protagonisten zeigt, ist es eines der schwierigsten Screenings. Guck dir einen Film über dich selber an... (lacht) Aber die Reaktionen waren total positiv, sie haben viel gelacht und konnten auch über sich selber lachen. Schön war, dass einer von ihnen – Manne –, der bei dem Projekt nicht so richtig mitmachen wollte, nach dem Screening zu mir kam und meinte: "Ach, weißt du, ich hatte so Angst dass du uns bloßstellst. Aber das ist überhaupt nicht passiert und immer wenn die Gefahr da war habt ihr die Kamera ausgemacht, und das finde ich toll und bin total happy. Danke dafür!" Das fand ich superschön, denn das war genau das, was mir wichtig war. Ich wollte die Leute nicht bloßstellen, sondern ich wollte versuchen, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen.
AVIVA-Berlin: Gibt es etwas, das alle Menschen von den ´Ratten´ lernen können?
Simone Catharina Gaul: Mir ist aufgefallen, dass die ´Ratten´ unglaublich lebensfroh sind und sehr nach vorne blicken. Das finde ich toll, denn das sind alles Leute, die schlimme Sachen erlebt haben. Viel davon habe ich in dem Film gar nicht erzählt, weil es mir darum nicht ging, aber es sind Geschichten von Gewalt, Alkohol, Drogen und mehr. Und in dieser Gruppe sind alle füreinander da. Ich finde es toll, dass sie diese Lebensfreude nicht verlieren, was ja ganz schnell passieren kann, wenn man Schicksalsschläge erleidet. Aber sie denken trotzdem so positiv und das finde ich toll.
AVIVA-Berlin: Was ist dein nächstes eigenes Projekt, hast du schon was geplant?
Simone Catharina Gaul: Ich habe noch nichts Konkretes geplant. Ich kann nur so viel sagen: Ich habe eine Freundin, die momentan für ein Jahr im Kongo ist und dort Entwicklungshilfe macht. Ich hatte mal angedacht ob ich einen Film dort drehe. Es würde diesmal auch ein Frauenfilm werden – wenn er denn so zustande kommt, wie er geplant ist. Das ist aber alles noch überhaupt nicht sicher, mehr kann ich dazu noch nicht sagen.
AVIVA-Berlin: Vielen Dank für das Interview!
Rattengeschichten
Deutschland 2011
Regie: Simone Catharina Gaul
Kamera: Jan Bormann
Mitwirkende: Ahmad, Christa, Christian, Dragan, Heinz, Hermann, Jan, Manne, Peter, Tula
Kontakt und Verleih: simone.gaul@filmakademie.de
Lauflänge: 60 Minuten
Kinostart: 11. Oktober 2011
www.rattengeschichten.de
Filmpremiere am 11. Oktober 2011 um 21.30 Uhr im großen Haus der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (Linienstraße 227, 10178 Berlin) www.volksbuehne-berlin.de