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Beitrag vom 04.10.2011
Interview mit Edeltraud Aubele und Gabriele Pieri
Adler, Meyer, Schwarzer
Die Herausgeberinnen des Sammelbandes und Initiatorinnen der Tagung "Femina Migrans – Frauen in Migrationsprozessen (18. – 20. Jahrhundert)" sprachen mit AVIVA-Berlin über den Verein ...
... "Frauen & Geschichte Baden-Württemberg e.V.", die Ergebnisse der Tagung sowie die aktuelle Migrationsdebatte.
Die Publikation fasst die Ergebnisse der historisch-politischen Tagung "zwischenWelten – Frauen in Migrationsprozessen (18.-21. Jh.)" von Juni 2010 zusammen. Eingegliedert in die historischen Zusammenhänge, wird Migration aus der Geschlechterperspektive näher beleuchtet.
Der Frage, warum die erzwungene Migration der Deutschen aus Ostpreußen am Ende des 2. Weltkrieges meist mit weiblicher Erfahrung assoziiert wird, geht Stephan Scholz in seinem Artikel "Nur eine Stunde der Frauen? Geschlechterkonstellation in der Erinnerung an Flucht und Vertreibung" auf den Grund. Anhand von Denkmälern und verschiedenen Filmen und Büchern, beispielsweise des ARD-Fernsehfilms "Die Flucht", erläutert der Autor die Gründe für die "Feminisierung der Flucht". Darüber hinaus spannt "Femina Migrans" den Bogen zur heutigen Migrationsdebatte und liefert durch die von Sylvia Schraut festgehaltene Podiumsdiskussion "Bildung als Barriere und Chance" Lösungsansätze und Ideen zu einem verbesserten Bildungsangebot.
AVIVA-Berlin: Frau Aubele, Sie haben die Intensivstation des Rot-Kreuz-Krankenhauses Stuttgart/Bad Cannstatt geführt und später im Hadassahhospital in Jerusalem als Krankenschwester mit Leitungsfunktion gearbeitet. Wie kam die berufliche Orientierung hin zur Geschichtswissenschaft?
Edeltraud Aubele: Der Umgang mit schwerstkranken Menschen hat mir immer Freude bereitet. Mit den begleitenden Belastungen konnte ich auch ganz gut umgehen bis ich selbst ernsthaft erkrankte. Dabei wurde mir klar, dass ich mich beruflich umorientieren musste. Die Geschichtswissenschaft entdeckte ich buchstäblich im Umgang mit meiner eigenen Geschichte. Wir sind alle durch Erfahrungsprozesse geprägt und unser Handeln wird maßgeblich dadurch bestimmt. Dies lässt sich auch auf die Geschichte, im engeren Sinne auf die Sozialgeschichte übertragen.
AVIVA-Berlin: Frau Pieri, Sie forschen zu Unternehmensgeschichte und Migration. Wie beurteilen Sie aus wirtschaftshistorischer Perspektive die fehlende öffentliche Rezeption zu enteigneten jüdischen Unternehmen?
Gabriele Pieri: Hier muss ich etwas berichtigen. Ich arbeite zwar in einer Einrichtung die sich mit Unternehmensgeschichte befasst, bin dort jedoch nicht selbst forschend tätig. Was die öffentliche Rezeption zu enteigneten jüdischen Unternehmen angeht, so hat hier die historische Forschung zwar relativ spät eingesetzt, doch ist hier seit den 1990er Jahren vieles aufgearbeitet bzw. erforscht worden und auch in der Öffentlichkeit bekannt.
AVIVA-Berlin: Sie sind Mitglieder des 1994 gegründeten Vereins "Frauen & Geschichte" e.V., in Baden Württemberg.
Worin genau liegen die Aufgaben des Vereins?
Edeltraud Aubele: Als sich der Verein vor nun bald 20 Jahren gründete spielte Geschlecht als Analysekategorie in der etablierten Geschichtswissenschaft noch keine Rolle. Den Gründerfrauen war es ein zentrales Anliegen Frauengeschichte sichtbar zu machen, ja zu zeigen, dass bei differenzierterer Betrachtung die weiblichen Lebenswelten nicht den allgemein angenommenen Mustern folgten.
Gabriele Pieri: Als zweites ging und geht es auch darum, die Präsenz von Frauen in Geschichtsforschung und -vermittlung zu verstärken und sich zu vernetzen, um der Vereinzelung entgegenzuwirken und Kräfte zu bündeln, angefangen vom Arbeitsbereich Museum, über Hochschulen bis hin zu den Archiven.
AVIVA-Berlin: Nach früheren Tagungen wie "Wie Frauen ´stiften´ gehen", "Eroberung der Geschichte - Frauen und Tradition", "Wie weiblich ist das Verbrechen?", "Religion und Lebenswirklichkeit von Frauen in Geschichte und Gegenwart" und "Revolutionen und weibliche Emanzipationsstrategien 1789-1848" widmete sich nun die von Ihnen konzipierte Tagung "Migration und Geschlecht" dem Thema "Frauen in Migrationsprozessen (18. – 20. Jahrhundert)". Bitte fassen Sie für unsere LeserInnen kurz die prägnantesten Ergebnisse der Tagung zusammen.
Edeltraud Aubele: Spannend war, dass Frauen aus den unterschiedlichsten Bereichen zusammenkamen und angeregt diskutierten. Ein Teil der Frauen (am Rednerpult und im Publikum) hatte Migrationshintergrund. So haben sich die Diskussionen häufig in der Gegenwart bewegt, was der Veranstaltung eine enorme Aktualität verlieh, was wiederum nicht ungewollt war.
Gabriele Pieri: Neben der lebhaften Diskussionen gegenwärtiger Probleme, die Frau Aubele erwähnt hat, war bzw. ist für mich der Aspekt: "wie wird erinnert" sehr, sehr spannend. Hier zeigen zum einen die Beiträge zur musealen Erinnerung, wie sehr aktuelle gesellschaftliche Debatten in die museale Präsentation einfließen, zum anderen fand ich sehr spannend zu hören, wie über die Feminisierung der Erinnerung an die deutsche Flucht und Vertreibung Geschichtspolitik gemacht wurde und wird. Es sind hauptsächlich Mütter und Kinder, die in diesem Kontext als Opfer beschworen werden, sei es im Film, sei es in Denkmälern. Mütter und Kinder gelten per se als unschuldig, zeugen von Unrecht, ohne dass nach historischen Kontexten oder Kausalitäten gefragt werden muss.
AVIVA-Berlin: Was sind für Sie die Spezifika weiblicher Migration?
Edeltraud Aubele: Gewalt scheint ein Spezifikum weiblicher Migrationserfahrung zu sein. Doch die Arbeit von Scholz in unserem Band zeigt, dass Gewalt feminisiert überliefert wird. Es gilt also genauer hinzusehen und vielleicht zwischen erzwungener und freiwilliger Migration zu unterscheiden. Die Arbeiten von Kallenberg und Dadej zeigen in Bereichen von Arbeits- und Bildungsmigration, dass Frauen Netzwerke bilden, um sich zu unterstützen. Dies wird auch für die Gegenwart bestätigt. Als Beispiel möchte ich auf den Aufsatz von Kaplan/Räkel-Rehner hinweisen. Ob dies wirklich Spezifika weiblicher Migration sind, müssen jedoch weitere Untersuchungen zeigen. Hierbei ist vor allem wichtig den Ansatz auf die Männer auszudehnen.
Gabriele Pieri: Es gibt zum einen frauenspezifische Gründe für Migration, wie etwa Heiratsmigration oder Flucht vor Vergewaltigung, absolut frauentypisch ist auch die Migration zum Zweck der Arbeit im Haushalt, in pflegerischen Berufen oder auch im Bereich emotionaler oder sexueller Arbeit. Daneben gibt es spezifisch weibliche Erfahrungen in Verbindung mit Migration, wie etwa die Erfahrung sexueller Gewalt auf der Flucht, oder die Erfahrung, dass frauenspezifische Fluchtgründe – wie eben Vergewaltigung oder sexuelle Versklavung – immer noch viel zu häufig nicht als Asylgrund anerkannt werden.
AVIVA-Berlin: In Ihrem Buch wird erklärt, dass in den Medien ein bestimmtes Bild von Migrantinnen konstruiert wird. Marina Liakova merkt an, dass die Migrantinnen, die erfolgreich integriert sind, oftmals nicht den Weg in die Medien finden, da sie nicht als "skandalös" genug gelten oder sich nicht als "Fremde" markieren lassen.
In dem Buch "Migrantinnen in den Medien von Margreth Lünenborg, Katharina Fritsche, Annika Bach" werden diese Stereotypen ebenfalls untersucht und hinterfragt.
Was ist Ihrer Meinung nach für die integrationspolitische Ausrichtung der Gesellschaft notwendig?
Edeltraud Aubele: Ich denke Bildung ist der Schlüsselbegriff. Dabei meine ich nicht nur Bildung, die sich in Schulabschlüssen misst, sondern generationsübergreifende Konzepte beinhaltet. Integration ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sicher fällt dabei den Medien eine wichtige Rolle zu, doch ich denke auch die Medienkonsumenten sollten sich Kompetenzen aneignen, um Aussagen reflektieren oder Stereotypen hinterfragen zu können. Wichtig finde ich den Dialog, um neue Erfahrungen möglich zu machen, damit man sich nicht mehr als fremd wahrnimmt. Sehr gut wird das bereits in den Frauenvereinen wie z. B. im Mädchen- und Frauenladen Sie´ste in Ulm praktiziert. Weiblichsein wird hier zum integrativen Element.
Gabriele Pieri: Sehr allgemein gesagt: mehr Offenheit, Anerkennung des Fakts, dass Einwanderung stattfindet und sich dies auch kulturell in der Gesellschaft niederschlägt – nicht immer unbedingt im Sinne eines harmonischen Prozesses, sondern auch über Konflikte. Und: Integration darf nicht, wie es gegenwärtig der Fall ist, als Einbahnstraße gesehen werden, auch das Verhalten der Aufnahmegesellschaft ist ein wichtiger Faktor.
AVIVA-Berlin: Aus Ihrem Buch geht hervor, dass 16 % der in Deutschland lebenden Türkinnen nur selten Kontakt mit Deutschen haben. Auch 15,7% der Griechinnen und 15,3 % der Italienerinnen haben kaum bis gar nicht Kontakt zu Deutschen. (S.141/142)
Worin liegt das für Sie begründet? Wo sehen Sie Lösungsansätze?
Edeltraud Aubele: Ich denke, dass die/der jeweils andere als "fremd" wahrgenommen wird. Die einzelnen Gruppierungen leben in ihren Gemeinschaften und erhalten dort alles was sie an sozial-emotionalen Kontakten brauchen. Einen Lösungsansatz sehe ich in gemeinsamen Aktivitäten. Dabei spielt die gemeinsame Sprache eine elementare Rolle.
Gabriele Pieri: Ich schließe mich hier der Autorin Frau Liakova an, die diese Untersuchung zitiert: die Zahlen sind nicht allein Ergebnis einer Abschottung von Migrantinnen, sondern auch einer fehlenden Bereitschaft der hiesigen Gesellschaft, sich gerade auch bei Freizeitaktivitäten Migrantinnen gegenüber zu öffnen. Und: da weniger Migrantinnen als einheimische Frauen in Beschäftigungsverhältnissen stehen, fehlt ihnen die sachliche Ebene der Kontaktaufnahme, die hier in Deutschland für die Gestaltung sozialer Kontakte besonders wichtig ist. Das heißt: die Förderung sozialer Integration, von Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten spielt eine entscheidende Rolle.
AVIVA-Berlin: Seit dem 11. September 2001 gibt es eine stärkere Fokussierung auf die sogenannte "Islam-Debatte". In Ihrem Buch heißt es: "Wir sind Zeugen einer Kulturalisierung und Rekurrierung auf die Religion der Migrations- und Integrationsdebatte in Deutschland."(S.134) Seitdem gebe es in der Öffentlichkeit eine stärkere Auseinandersetzung mit "der" muslimischen Frau.
Wie positionieren Sie sich in der Debatte?
Gabriele Pieri: Ich stimme der Feststellung, dass es eine Kulturalisierung der Integrationsdebatte gegeben hat, zu. Ich lehne es ab, von "der muslimischen Frau" zu sprechen, denn diese gibt es so nicht, abgesehen davon, dass Frauen, die etwa aus der Türkei kommen, ungeachtet ihrer eigenen Positionierung bzw. ihrer eigenen Haltung zur Herkunftsreligion, inzwischen pauschal als "muslimisch" bezeichnet werden. Die Debatten um die "muslimische Frau" dienen oft nur der Rechtfertigung des "Kampfs der Kulturen", um diese Frauen selbst und deren Probleme geht es hierbei nicht – oder nur vordergründig.
Edeltraud Aubele: Ich kann Frau Pieri nur zustimmen. Stellen Sie sich vor: wir sprächen von der protestantischen Nachbarin, der jüdischen Bäckersfrau oder der katholischen Lehrerin. Die "muslimische Frau" ist ein Konstrukt, das es so nicht gibt. Ich kann nur warnen, Frauen islamischen Glaubens a priori zu stigmatisieren.
AVIVA-Berlin: Im letzten Kapitel Ihres Buches "Integration als gesellschaftliche Herausforderung" werden die wichtigsten Punkte der Podiumsdiskussion zum Thema "Frauen in Migrationsprozessen" und Bildung wiedergegeben. Vorgeschlagen werden beispielsweise geförderter Deutschunterricht und eine verbesserte PädagogInnenausbildung in Fragen interkultureller Kompetenz.
Was muss Ihrer Meinung nach besonders gefördert werden?
Edeltraud Aubele: Ich erwähnte bereits vorher die Wichtigkeit von Bildung und den Dialog der Kulturen. Sprachförderung ist eine absolute Notwendigkeit damit ein Dialog überhaupt möglich ist. Gefördert werden sollten alle gemischtnationalen Vereine, hier findet eine wichtige Integrationsarbeit statt. Ferner brauchen Bildungsträger finanzielle Förderung, damit multinationale Bildungsangebote entwickelt und realisiert werden können. Diese Angebote müssen auch die erwachsene deutsche Bevölkerung erreichen. Besonders förderungswürdig sind hier wieder die Frauen, da sie im häuslichen Bereich hauptsächlich die Bildungsarbeit (Erziehung) leisten.
Gabriele Pieri: Das würde ich unterstützen.
AVIVA-Berlin: Vielen Dank für das Interview!
Zu den Herausgeberinnen: Edeltraud Aubele, geb. 1954, schloss zunächst eine Ausbildung zur Krankenschwester ab. Unter anderem führte sie die Intensivstation des Rot-Kreuz-Krankenhauses Stuttgart/Bad Cannstatt und arbeitete später im Hadassahhospital in Jerusalem als leitende Krankenschwester. Seit dem Abschluss ihres Studiums der Geschichts- und Politikwissenschaft, arbeitet sie als freiberufliche Historikerin mit dem Schwerpunkt Sozialgeschichte (Erfahrungsgeschichte) des 19. und 20. Jahrhunderts. Arbeitsschwerpunkte sind Geschlechter-, Pflege- und Militärgeschichte.
Gabriele Pieri, geb. 1954, studierte Wirtschafts- und Sozialgeschichte/Neuere Geschichte und Anglistik. Sie arbeitet in der Geschäftsstelle der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte e.V.
Beide Herausgeberinnen sind Mitgliedsfrauen des Vereins "Frauen & Geschichte" e.V., Baden-Württemberg.
Weitere Informationen finden Sie unter:
www.frauen-und-geschichte.de
Edeltraud Aubele, Gabriele Pieri
Femina Migrans
Frauen in Migrationsprozessen (18. – 20. Jahrhundert)
Ulrike Helmer Verlag, erschienen Juni 2011
Paperback, 224 Seiten
ISBN: 978-3-89741-314-6
19,95,- Euro
www.ulrike-helmer-verlag.de
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