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Beitrag vom 23.09.2011
Interview mit Verena S. Freytag
Leonie Schwarzer
Anlässlich des Kinostarts ihres neuen Films "Abgebrannt" am 22. September sprach AVIVA-Berlin mit der Regisseurin Verena S. Freytag über die Dreharbeiten, die Entstehungsgeschichte und ihre Sicht ...
... auf das deutsche Sozialsystem.
Die Regisseurin und Drehbuchautorin begann nach ihrem Abitur zunächst ein Klavierstudium an der Musikhochschule Stuttgart, bevor sie dann ab 1995 ein Regie- und Drehbuchstudium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie (dffb) in Berlin aufnahm. Neben den Langspielfilmen "Karamuk"(2001), der auf verschiedenen internationalen Festivals prämiert wurde, und "Saniyes Lust"(2003), führte sie auch schon für Serien wie "GZSZ" und "Herzflimmern" Regie. Das Sozialdrama "Abgebrannt" wurde mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem "New Berlin Film Award" des "Achtung Berlin Filmfestival 2011" und dem "SR/ZDF-Drehbuchpreis 2011" des "Max-Ophüls-Preis Saarbrücken".
"Abgebrannt" fängt einen Moment gesellschaftlicher Realität ein und erzählt von einer alleinerziehenden Mutter, die verzweifelt auf der Suche nach Halt in ihrem Leben ist. Drei kleine Kinder, Arbeitssuche und Geldsorgen: Die junge Deutsch-Türkin Pelin ist völlig "abgebrannt" und wird vom Jugendamt zur Mutter-Kind-Kur an die Nordsee geschickt. Doch auch dort verfolgen sie ihre Probleme...
AVIVA-Berlin: Gratulation zu Ihrem neuen Film "Abgebrannt". Sie haben Regie geführt, aber auch das Drehbuch geschrieben. Wie enstand die Idee zu diesem Film?
Verena S. Freytag: Die Idee für diesen Film trage ich schon seit längerem mit mir herum. Es fing damit an, dass ich immer das Bild einer Tätowiererin mit drei Kindern vor meinen Augen hatte. Als ich 2003 meine Tochter bekam, war ich sehr viel alleine auf Spielplätzen im Wedding und eines Tages zog meine damals einjährige Tochter Drogenbestecke aus dem Gebüsch. Das hat mich sehr schockiert und als ich dann auch noch beobachtete, dass Mütter mit Kinderwägen auf dem Spielplatz dealen, habe ich angefangen zu den Jugendämtern Kontakt aufzunehmen und mit Sozialarbeiterinnen zu sprechen. Ich bin auch auf Frauen gestoßen, die immer wieder Kinder bekommen, um die Männer an sich zu binden, aber auch, um Erziehungsgeld zu bekommen. Es gibt sehr viele Frauen, die in diesem Muster gefangen sind, darunter auch Frauen mit Migrationshintergrund. Ich selber habe auch türkische Wurzeln, mein Vater kommt aus der Türkei. Mir fiel auf, dass die türkischen Frauen noch extremer versuchen, Wurzeln ins Leben zu schlagen.
AVIVA-Berlin: Wie würden Sie selbst die (Haupt)thematik des Films beschreiben?
Verena S. Freytag: Insgesamt geht es um Bindungen. Um den Wunsch nach Bindungen, das Fehlen von Bindungen, aber auch den Verlust von Bindungen. Ich denke, das ist so der Hauptbegriff: Sich im Leben eine Heimat zu schaffen.
AVIVA-Berlin: Im Presseheft bin ich auf die Aussage von Ihnen gestoßen, dass "Abgebrannt" eine "Hommage an den ´Vater Staat´" sei, "der nicht nur Schulen und Autobahnen finanziert, sondern auch Mutterkindkuren." Was genau meinen Sie damit?
Verena S. Freytag: Da es im Film keine Väter gibt, ist der Vater der Staat. Er zahlt Hartz 4-Gelder, und übernimmt somit die Kosten. Gleichzeitig schaut er aber auch nach dem Rechten, in Form von staatlichen Mitarbeitern wie SozialarbeiterInnen, PolizistInnen und LehrerInnen. Im Prinzip versuchen alle, diesen Vater, der nicht da ist, zu ersetzen. Natürlich funktioniert das nur begrenzt, denn der Staat kann den Platz des Vaters natürlich nicht wirklich ausfüllen. Eine Hommage ist der Film auch, da dieses System sicherlich nicht mehr ewig so bleiben wird. Die Gelder gehen leider aus und schon jetzt werden die Mutterkindkuren oftmals von den Krankenkassen nicht mehr bewilligt.
AVIVA-Berlin: Provokativ gefragt: Ist es der Staat, der in Ihrem Film versagt oder die junge Mutter, die an dem Hilfsprogramm in der Klinik nicht richtig partizipiert?
Verena S. Freytag: Ich glaube keiner versagt wirklich. Im Prinzip tun alle ihr Bestes und es ist einfach ein Konflikt, der nicht wirklich lösbar ist. Ich gehe aber davon aus, dass Pelin nach ihrer Rückkehr anders auf ihr Leben schauen wird.
AVIVA-Berlin: Christa und Pelin sind zwei sehr unterschiedliche Frauen. Was soll die Freundschaft zwischen ihnen verdeutlichen? Verbindet die beiden etwas?
Verena S. Freytag: Für mich war Christa immer wie eine Mutter für Pelin. Es gibt im Film den Vater Staat, aber auf der anderen Seite diese Mutterfigur, die verschiedene Gesichter hat. Im Grunde fängt es mit Edins Mutter an, dann wechselt die Mutterfigur zu der Sozialarbeiterin und dann zu der Richterin. In der Dramaturgie nennt man das, glaube ich, den "Schattenwandler". Diese Mutterfigur macht auch deutlich, dass es im Leben nie die völlige Sicherheit gibt. Das ist illusorisch.
AVIVA-Berlin: Welches war die Szene, die am schwierigsten zu drehen war?
Verena S. Freytag: Besonders schwierig war die Schlussszene, in der Edin so ausrastet. Das kleine Kind bekam sehr viel Angst und wir wollten es auch vor den Texten schützen. Die Schauspieler mussten gleichzeitig natürlich real spielen und es war schwer, die Anschlüsse herzustellen. Im Grunde mussten wir das Kind immer isoliert reinbringen und dadurch konnten wir die Szene nicht durchgängig drehen. Das unter einen Hut zu bringen, war sehr kompliziert.
AVIVA-Berlin: Pelin lebt in einer grauen, trostlosen Plattenbauwohnung mitten in Berlin-Wedding. Wie kam es zu dem Drehort?
Verena S. Freytag: Wir wollten schon immer in Wedding drehen, aber die Wohnungssuche hat sich überaschenderweise als relativ kompliziert herausgestellt. Ich mag den Wedding, zum einen architektonisch mit den Hochhäusern, aber auch so ist das eine schöne Gegend.
AVIVA-Berlin: In den Formaten "Boulevardpresse" und im "Reality-TV" wird oft ein völlig verzerrtes Bild dieser sozialen Schicht vermittelt. Inwieweit wollten Sie eine Gegenperspektive vermitteln und gewisse Vorurteile widerlegen?
Verena S. Freytag: Ich glaube, fast jede Mutter tut ihr Bestes und liebt ihre Kinder. Es sind die äußeren Situationen, die es Frauen so schwierig machen. Alleinerziehende Frauen bilden heutzutage eine große Gruppe und in den Medien wird häufig diskutiert, dass es später für diese Frauen keine Rente mehr geben wird. Ein ganzer Teil der Gesellschaft wird einfach wegbrechen. Es stellt sich auch die Frage, warum es für Frauen heute so schwierig ist, einen Partner zu finden, der auch Verantwortung übernehmen möchte. Sind sie selbst daran Schuld? Oder spielt auch das Wegfallen von ethischen Grundsätzen wie Religion eine Rolle? Gerade in der türkischen Kultur gibt es die Väter meist noch, da die Familie dort als heilig angesehen wird.
AVIVA-Berlin: Am 18. September waren Wahlen in Berlin. Im Film geht es um das Problem einer völlig überforderten, jungen Mutter, die eigentlich noch gar nicht richtig erwachsen ist. Inwieweit sollte in der Öffentlichkeit mehr über das soziale Milieu, in dem Pelin lebt, debattiert werden?
Verena S. Freytag: Ich denke, dass auf jeden Fall genug debattiert wird. Man muss an das Innere der Menschen herankommen, zum Beispiel durch unterstützende, psychologische Hilfe. Es muss auf einer sehr feinen Ebene gearbeitet werden, da auch in der Wahrnehmung von Realität kulturelle Unterschiede bestehen. Viele Subtexte spielen eine Rolle und deswegen muss man den Menschen auf einer anderen Kommunikationsebene begegnen.
AVIVA-Berlin: Sie haben Maryam Zaree für die Rolle von Pelin ausgewählt. Sie spielte ja auch schon die Hauptrolle in dem Film "Shahada" und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet, unter anderem auf dem "Film Festival Monterrey (Mexico)" als "beste Hauptdarstellerin". Wurden Sie auch durch diesen Film auf die Schauspielerin aufmerksam?
Verena S. Freytag: Das war unabhängig von einander, denn Maryam wurde zu dem Wettbewerb eingeladen, nachdem wir uns schon für sie entschieden hatten. Ich habe viele Darstellerinnen gecastet, aber ihr Spiel fand ich einfach sofort interessant. Es hat nie klischeehafte Züge, sondern immer eine Tiefe und Komplexität.
AVIVA-Berlin: Sie haben Klavier an der Musikhochschule Stuttgart studiert und dann ab 1995 ein Regie- und Drehbuchstudium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie (dffb) aufgenommen. Wie kam es zu diesem Studiengangwechsel?
Verena S. Freytag: Ich habe nur kurz mit Musik angefangen, allerdings hatte ich lange Zeit Klavierunterricht und wollte Pianistin werden. Nach dem Abitur habe ich aber gemerkt, dass ich durch das Üben – acht bis neun Stundem am Tag – an das Klavier gefesselt bin. Ich wollte ausbrechen und habe mich dann für das Regie- und Drehbuchstudium entschieden. Damals hatte ich gerade eine Kritik über den neuen Film von Rudolf Thome gelesen. Spontan habe ich ihn angerufen und gefragt, ob er mir nicht helfen könne. So habe ich bei ihm dann mein erstes Praktikum gemacht und bin in die Filmwelt gekommen.
AVIVA-Berlin: Für den Soundtrack haben Sie sich den kanadischen Musiker Roland Satterwhite ins Boot geholt, der als Sänger, Geiger und Gitarrist auftritt. Wie kamen Sie auf ihn?
Verena S. Freytag: Das war ein ziemlicher Zufall. Zunächst wollte ich egentlich gar keine Musik, damit der Film streng und realistisch wirkt. Roland habe ich dann zufälligerweise während der Zeit meiner Castings drei Mal auf der Straße getroffen. Beim dritten Treffen haben wir uns unterhalten und er hat mich zu einem Konzert eingeladen, bei dem ich sofort gemerkt habe: Diese Musik passt zu meinem Film. Ich mag einfach seine Stimme, die ist sehr berührend. Ich würde mit ihm sofort auch den nächsten Film machen.
AVIVA-Berlin: Sie haben neben "Abgebrannt" bisher zwei Langspielfilme gedreht ("Karamuk"(2001) und "Saniyes Lust"(2003)), die eher ernste Themen behandeln.Gleichzeitig haben Sie aber auch schon für Serien wie "GZSZ" und "Herzflimmern" Regie geführt. Wie kommt es zu diesen Gegensätzen?
Verena S. Freytag: Das war nur um zu überleben und ich habe damit auch oft gehadert. Durch "Abgebrannt" ist dieses Kapitel "Daily Soap" für mich jetzt einfach abgeschlossen. Mir ist es sehr wichtig, viel Zeit für die SchauspielerInnen zu haben, um mit ihnen zu arbeiten. Diese Zeit hat man bei den "Daily Soaps" einfach nicht. Ich werde mich jetzt nur noch auf Langspielfilme konzentrieren, allerdings ist das als Frau sehr schwierig. Ich hoffe aber, dass ich durch "Abgebrannt" interessante Folgeprojekte oder Drehbücher bekomme.
AVIVA-Berlin: Was würden Sie gern als nächstes realisieren?
Verena S. Freytag: Als nächstes plane ich eine Adaption von Adolf-Muschg, dem schweizerischen Schriftsteller und Büchner-Preisträger. Das Buch heißt "Das Licht und der Schlüssel".
AVIVA-Berlin: Das letzte Bild lässt die Zuschauerin sehr nachdenklich zurück. Erst schwenkt die Kamera noch ein letztes Mal über das Meer und dann fährt Pelin in Berlin eine Rolltreppe hoch, ihr Sohn hat aber noch das Spielzeug-Segelboot in der Hand. Für Sie persönlich, wie interpretieren Sie das? Wird Pelin glücklich?
Verena S. Freytag: Ja, auf jeden Fall! Diese Rolltreppe ist auch als Metapher zu sehen. Pelin kommt sozusagen aus der Tiefe wieder hoch, sie kommt wieder zu Hause an. Sie ist sehr intelligent und hat einen guten Instinkt, ich denke das merkt man auf jeden Fall im Film. Wir hatten überlegt, noch eine Szene dranzuhängen, in der sie zu Hause ankommt und alles besser ist. Aber ich finde das einfach verlogen, denn so eine wirkliche Änderung dauert einfach einige Jahre. Der Zuschauer fühlt am Ende des Films, dass Pelin ihr Leben nicht mehr so weiter machen wird. Sie hat das einfach begriffen.
AVIVA-Berlin: Vielen Dank für das Interview!
Weitere Infos zu Verena S. Freytag finden Sie unter:
missingfilms.de
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