AVIVA-Interview mit Komponistin Ursula Mamlok - happy birthday zum 90. Geburtstag - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Interviews



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 16.09.2008


AVIVA-Interview mit Komponistin Ursula Mamlok - happy birthday zum 90. Geburtstag
Sharon Adler und Sarah Ross

Nach weit über 60 Jahren kehrte die Komponistin Ursula Mamlok 2006 in ihre Geburtsstadt Berlin zurück. Nicht nur in den USA zählt sie zu den profiliertesten Musikschaffenden der radikalen Moderne.




Die Komponistin Ursula Mamlok wurde am 1. Februar 1923 in Berlin-Charlottenburg als Ursula Meyer geboren. Ihr Vater starb, als sie zwei Jahre alt war. 1929 heiratete die Mutter erneut und Ursula bekam den Namen des Stiefvaters Lewy. Bereits früh erhielt sie ihre musikalische Ausbildung bei Gustav Ernest, Dozent an der Humboldt Universität zu Berlin, und Emily Weissgerber. Aufgrund ihrer jüdischen Abstammung war Ursula Mamlok 1939, im Alter von 16 Jahren, gezwungen, mit ihrer Familie Deutschland zu verlassen. Ihr Weg führte sie zunächst nach Ecuador. Noch im gleichen Jahr erhielt Ursula durch eine Zufallsbekanntschaft ihrer Mutter mit dem New Yorker Klarinettisten Harwood Simmons, der in Manhattan an der renommierten Juillard-Musikschule lehrte, ein Stipendium für die Mannes School of Music in New York. Im Sommer 1940 wanderte sie alleine in die Vereinigten Staaten aus, wo der Dirigent Georg Szell zu einem ihrer ersten Kompositionslehrer zählte. Ihren Bachelor und Master of Music schloss sie schließlich bei Vittorio Gianni an der Manhattan School of Music ab. Auf ihrer Suche nach einem eigenen Stil wurde sie u.a. auch von den Komponisten Roger Sessions, Stefan Wolpe und dessen Schüler Ralph Shapey begleitet. Ursula Mamloks Werk ist vor allem von der Technik der Zwölftonmusik beeinflusst.

AVIVA-Berlin: Ihre Kindheit haben Sie in Berlin verbracht. Wie kamen Sie mit der Musik in Berührung, und wie hat der aufkommende Nationalsozialismus Ihr Leben bestimmt?
Ursula Mamlok: Ich bin schon als Kind in Konzerte gegangen, obwohl es für Juden gar nicht mehr erlaubt war und habe auch heute noch alle Dokumente von damals. Meine schönste Zeit hatte ich mit meinem großartigen Lehrer Gustav Ernest, der damals schon 80 Jahre alt war, aber in dem Alter selbst noch sehr gut Klavier spielte. Von ihm habe ich alles gelernt. Das war eigentlich das einzig Schöne, was ich noch im Leben hatte. Man sprach nur über die Auswanderung, oder was man machen konnte, oder dass es nicht nötig wäre auszuwandern, denn man glaubte, es würde nicht lange dauern. Aber die Musik hat mich in jeder Weise und auch in allen Lebenslangen vor schlimmen Situationen gerettet. Ich habe meine ganzen Noten von New York nach Berlin mitgebracht. Diese Noten sind schon viel gereist.

AVIVA-Berlin: Was war Ihre schönste und beeindruckendste musikalische Begegnung im Berlin der 20er und 30er Jahre?
Ursula Mamlok: Der nicht-jüdische Mann meiner Cousine, Karl August Neumann, war an der Staatsoper. Er war derjenige, der sich für meine Musik interessiert und mich zu den Lehrern gebracht hat. Er hat in der Oper den Tamino in der "Zauberflöte" gesungen und mich dazu eingeladen. Das war natürlich ein sehr schönes Erlebnis, und es gab auch andere Konzerte. Ein Schüler meines Lehrers war Pianist, der auch öffentlich spielte. Diese Konzerte waren etwas Besonderes. Ich erinnere mich sonst an nichts, das so wunderbar gewesen wäre.

AVIVA-Berlin: In welchem Alter haben Sie begonnen zu komponieren? Ihre erste Komposition "Wüstenritt" schrieben Sie ja bereits als Kind.
Ursula Mamlok: Ich habe vielleicht mit drei, vier Jahren angefangen, zu spielen. Ich hatte einen Onkel, der zu Hause bei meinen Großeltern in der Neuen Jakobsstraße immer Schlager spielte. Da habe ich mir gedacht: "Nette Beschäftigung. Das kann ich auch."
Leider habe ich, altmodisch wie die Erziehung damals war, viel zu spät Klavierunterricht bekommen. Ein Arzt meinte: "Das Kind ist zu nervös. So unruhig." So ein Blödsinn! Ich war schon neun. Das ist zu alt, um Berufspianistin zu werden, was ich auch leider nicht geworden bin.

AVIVA-Berlin: Aber Sie haben ja trotzdem viel erreicht!
Ursula Mamlok: Ja, mit dem Kompositionsunterricht habe ich angefangen, da war ich schon 13. Mein erster Kompositionslehrer ist, wie viele andere auch, nach Palästina ausgewandert. Daher hatte ich bei ihm nur wenige Monate Unterricht. Ich spielte bis dahin nicht gut Klavier, weil ich nie professionelle Klavierlehrerinnen hatte, aber er sagte gleich: "Mal sehen, ob man da noch was machen kann." Er hat mir wahnsinnig viel beigebracht und hätte mich vielleicht auch weiter bringen können. Aber dann musste ich weg - ich war gerade 16, als ich wegging.

AVIVA-Berlin: Ihr Vater sagte immer zu Ihnen, wenn Ihnen etwas nicht passte: "Warte mal, bis wir erst in der Wüste sind ...". Wollten Sie und Ihre Familie ursprünglich nach Palästina emigrieren?
Ursula Mamlok: Das war der zweite Mann meiner Mutter, denn mein Vater starb, als ich noch ganz klein war. Nein, das war nur spaßig gemeint. Er wollte mir damit sagen, dass ich so ein schönes Leben nicht so leicht wieder haben würde, denn ich habe alles gehabt, was ich brauchte. Er war wirklich sehr gut zu mir. Ich war sechs Jahre alt, als meine Mutter ihn heiratete. Wir zogen in die Schillerstraße, wo das Haus noch heute steht.

© Sharon Adler


AVIVA-Berlin: 1939 mussten Sie mit Ihrer Familie Deutschland verlassen. Ãœber Ecuador gelangten Sie in die USA. Wie haben Sie diese ersten Jahre erfahren? Haben sich diese Erlebnisse auf Ihre Kompositionen niedergeschlagen? Worin unterschied sich das Musikleben in den USA von dem in Berlin?
Ursula Mamlok: Zuerst gab es die Schwierigkeit mit der Sprache. Obwohl ich nicht zur Schule gegangen bin, habe ich es irgendwie gelernt. Anfangs fand ich es ganz abenteuerlich. Ich habe in einem möblierten Zimmer gewohnt und konnte machen, was ich wollte. Nicht wie zu Hause, wo man beobachtet war. Dann kamen meine Eltern, und wir haben wieder zusammen gewohnt. Wir hatten ein sehr gutes Verhältnis, und ich habe mich sehr wohl gefühlt. Ich bin wieder in Konzerte gegangen und habe mit Leuten Musik gemacht. Um 1960 herum habe ich gemerkt, dass das, was ich komponiere, nachkomponiertes Klassisches war. Ich wollte nicht so weitermachen, wollte mehr lernen über zeitgenössische Musik. Anfangs hat mir das gar nicht gefallen, aber ich habe mich bemüht und dadurch anders komponiert. Mein erster Lehrer war Stefan Wolpe, auch ein Berliner Jude, der sehr einflussreich war. Ein moderner Komponist und exzentrischer Mensch. Aber mit ihm bin ich nicht ausgekommen. Er war arrogant und verstand nicht, dass ich solch altmodische Musik schriebe. Er hatte einen Schüler, Ralph Shapey, der auch nicht mit ihm auskam. Er freute sich sehr, dass jemand zu ihm kam. Das war ein sehr laut sprechender, kleiner Mann, mit einem ganz gewöhnlichen Vokabular. Ich merkte sofort, der machte es richtig mit meiner Musik. Ab diesem Zeitpunkt hatte sich meine Komposition vollkommen geändert, und ich bekam Aufführungen. Ich komponierte ausschließlich die Musik, die ich auch heute noch mache. Zeitgenössische Musik, aber durch den Einfluss und die lange Lehrzeit ist meine Musik nicht wie andere moderne Musik. Meiner Meinung nach nicht schwer verständlich. Es hat mir geholfen, dass ich den Schritt gemacht habe. Das ist ähnlich wie die Auswanderung. Solche Schritte habe ich oft im Leben ganz schnell gemacht. Ich überlegte, dass eine Umwälzung kommen musste. So war das. Seit den 60er Jahren bin ich dabei geblieben. Ich habe Zwölftonmusik komponiert, aber auch Kindermusik, und beides wird gespielt. Auch heute noch habe ich in New York, Berlin, Dänemark und anderswo Aufführungen.

AVIVA-Berlin: Sie sind von Ecuador aus als 17-Jährige zunächst nach New York gegangen, um Komposition zu studieren. Wie war dieses erste Jahr alleine in der großen fremden Stadt? Wer ist Ihnen aus dieser Zeit besonders in Erinnerung geblieben, wer hat Ihnen zur Seite gestanden?
Ursula Mamlok: Es war natürlich sehr schwer. Ich bin dadurch sehr sparsam geworden, habe gelernt mit Geld umzugehen, denn ich hatte keines. Die Direktorin in der Schule kam eines Tages zu mir und sagte, ich könne mir jeden Monat 20 Dollar im Büro abholen. Von Gönnern, die ich nicht kennen sollte. Ich glaube, das war sie selber. Später bin ich zum Üben zu einer Lady in der Park Avenue gekommen, die eine wunderbare Wohnung und einen Flügel hatte.
Sie unterstützte mich, schickte mich in den Ferien ins Camp, und als mein Blinddarm rausgenommen werden musste, und ich keine Versicherung hatte, sprang sie gleich ein. Ich hatte also wirkliches Glück.

New York ist eine interessante Stadt. Nicht schön, Berlin gefällt mir viel besser. Die Häuser, das Farbige, das Unregelmäßige. In Manhattan, wo ich gewohnt habe, ist alles schachbrettmäßig eingeteilt, und die hohen Häuser, alle mit rotem Backstein. Das Klima ist nie schön, es ist entweder heiß oder kalt. Aber ulkig ist es, hektisch, und laut. Ich lese gerade ein witziges Buch, "Die Familie Karnovski", von Israel J. Singer. Das müssen Sie lesen. Es beschreibt jüdische Familien, wie sie nach Berlin gekommen sind und sich dann vollkommen angepasst haben, wie wir auch, und deutscher waren, als die Deutschen. Das geht bis in die Nazi-Zeit, und erzählt, was dann alles passiert und was aus den Leuten geworden ist. Die Amerikaner haben sehr profitiert von der jüdischen Auswanderung.

AVIVA-Berlin: Wenn man ein bisschen Verstand und Herz hatte, konnte man in so einem Klima, wo alle um einen herum verschleppt und umgebracht werden, doch nicht bleiben.. Marlene Dietrich hätte ja auch nicht gehen müssen ...
Ursula Mamlok: Und Thomas Mann. Na ja, man wirft heute zu Recht Furtwängler vor, dass er nicht hätte bleiben brauchen. Er hat Hitler und Goebbels die Hand gegeben und alles unterstützt. Auch nicht einwandfrei. Oder Leni Riefenstahl, die hätte ja nun auch nicht mitmachen müssen. Das war ja eine Generation mit Marlene. Man hatte schon die Wahl.

AVIVA-Berlin: Es gab welche, die die Wahl hatten, aber die meisten Juden hatten die Wahl nicht. Viele haben auch zu lange gewartet, weil sie keine Vorstellungen hatten.
Ursula Mamlok: Die meisten haben Jobs gehabt, wie mein Vater auch. Er hatte eine Position, wie natürlich auch andere Juden und musste das nachher aufgeben. Wer wäre denn freiwillig weggegangen? Es haben doch alle gedacht, Hitler sei ein Verrückter. Aber so war es leider.

AVIVA-Berlin: Aber dennoch hat Amerika das Land nicht ganz aufgemacht und gesagt: "Jetzt kommt mal alle her". Da hätten ja Tausende, Hunderttausende überleben können. Aber die Amerikaner haben beide Augen zugemacht. Die Engländer waren auch nicht viel besser, ebensowenig die Schweizer.
Ursula Mamlok: Das ist ja das Schlimme. Sie haben sogar Leute zurückgeschickt. Eine meiner Schulkameradinnen, die berühmte Autorin Inge Deutschkron, war hier die ganze Zeit versteckt. Sie hat es nicht so gut gehabt, aber hat was aus sich gemacht. Meine Großeltern sind in Auschwitz umgekommen ... Der Großvater ist noch vorher gestorben, und die Großmutter wurde eben ... Ich hatte drei Großmütter, durch den ersten Vater und den anderen Vater. Die wurden alle vernichtet.

AVIVA-Berlin: Zurück zur Musik. Sie haben bei namhaften Professoren/Komponisten studiert. Wer hat Sie auf der Suche nach Ihrem eigenen Musikstil am meisten geprägt?
Ursula Mamlok: Da war eine sehr interessante Sache. Es war in einem Sommermusik-Institut eine Annonce in der Zeitung. Sie würden Komponisten-Schüler aufnehmen und auch Stipendien vergeben. Man solle etwas einschicken, und das tat ich auch. Da kamen die ganzen bedeutenden neuen Emigranten hin. Der Wichtigste, mit dem ich auch studierte, war Edward Steuermann. Ein Pianist, der weltweit bekannt ist, und der Schönberg interpretiert hat. Auf die Weise bin ich auf diese Musik gekommen. Edward Steuermann war einer meiner wichtigen Lehrer. Dann auch Roger Sessions, ein amerikanischer Komponist und Ernst Krenek, ein Tscheche, der ausgewandert ist, obwohl er gar nicht musste, weil er gar kein Jude war.

AVIVA-Berlin: Nach dem Abschluss der Manhattan School of Music unterrichteten Sie über 40 Jahre Komposition an verschiedenen Universitäten in den USA, unter anderem an der Manhattan School of Music in New York. Haben Ihre StudentInnen Sie auch musikalisch beeinflusst oder inspiriert?
Ursula Mamlok: Ja, ich hatte sehr Gute! Heute noch schreiben sie mir und schicken mir ihre Musik. Ich habe meine Freunde in New York, das sind alles Komponisten. Das sind alles Verrückte.

AVIVA-Berlin: Eine Familie, eine verrückte Familie.
Ursula Mamlok: Ja, ja, die sind natürlich alle jünger. Ich habe sie kennen gelernt, als sie zur Schule gingen. Es hat sie nie gestört, dass ich älter war. Nein, wir schreiben uns, und ich erzähle ihnen von hier. Die finden das natürlich fabelhaft, dass ich hier bin.

AVIVA-Berlin: In Ihren frühen Werken waren Sie noch an der Musik des 18. und 19. Jahrhunderts orientiert und schwenkten dann um zur Musik der radikalen Moderne. Was war der Auslöser dafür?
Ursula Mamlok: Während meiner Studienjahre als Kind in Berlin bei Gustav Ernest und später in New York bei Georg Szell wurde ich mit der Musik der großen Meister bekannt gemacht und lernte den Stil des 19. Jahrhunderts "nachzukomponieren". Als ich dann in Konzerten hörte, wohin sich die Musik der Komponisten des 20. Jahrhunderts - Bartok, Hindemith, Stravinsky, Schönberg - entwickelt hatte, wurde mir bewusst, dass ein Komponist des 20./21. Jahrhunderts nicht dem Einfluss seiner Zeit entgehen kann. Meine Musik wurde daher bald dissonanter. Man kann die Tonsprache als "erweiterte Tonalität" bezeichnen. Zum Beispiel mein Bläserquintett von 1956, als ich die Musik von Schönberg und Weber zu verstehen begann. Es war mir wichtig zu lernen, in welcher Weise ich die strikten Regeln des Dur- und Moll-Systems umsetzen muss, um Musik, in einer schon im Anfang des 20. Jahrhunderts existierenden Tonsprache, zu schreiben. Durch Analysieren der Musik - im Gegensatz zum Lernen der Theorie der tonalen Musik wurde Zwölftonmusik nicht in Schulen unterrichtet - habe ich, durch die Beschäftigung der Arbeiten von Schönberg und seiner erfundenen Methode, die Kontrolle verstanden und war fasziniert über die Resultate der vor 1960 entstandenen Musik. Mein erstes Stück "Var. für Solo Fl." sowie kurze Stücke für Streichquartette waren die Ergebnisse.

AVIVA-Berlin: Für die meisten Menschen ist Zwölftonmusik diese Musik ein kaum zu fassendes und irgendwie seltsam anmutendes Klangsystem. Wie würden Sie einem unwissenden Menschen die Schönheit der Zwölftonmusik bzw. atonaler Musik beschreiben?
Ursula Mamlok: Vielleicht ist durch das lange Komponieren tonaler Musik meine Musik weniger unzugänglich, auch dadurch, dass ich seit 1960 kurze Formen vorziehe. Der nicht vertraute Hörer, der nicht mit vorverurteilt, wird durch wiederholtes Hören die vielfältige Musik unserer Zeit genießen können.
© Sharon Adler


AVIVA-Berlin: Sie sind in der Schillerstraße aufgewachsen und in der Pestalozzistraße zur Schule gegangen – haben Sie diese Orte nach Ihrer Rückkehr nach Berlin aufgesucht?
Ursula Mamlok: Die Schule in der Pestalozzistraße steht nicht mehr, glaube ich. Aus der Schule wurden wir herausgeworfen und gezwungen, in einer Berufsschule zu lernen, wie man Betten macht. Furchtbare Sachen. Eines Tages hieß es aber auch dort: "Juden raus!" Und da war ich sehr froh, denn nun konnte ich wieder üben. Ich fand, das war ein Glücksfall.

AVIVA-Berlin: Wie ist das, wenn man nach so langer Zeit plötzlich wieder an diesen Orten steht und sich erinnert?
Ursula Mamlok: Ich fand das ganz eigenartig. Ich war schon vorher in Berlin zu Besuch, Ende der 90er Jahre. Als ich damals in die Schillerstraße gegangen bin, hat mich am meisten gewundert, dass die eiserne, hübsche Gartentür noch da war. Ich bin aber nicht reingegangen. Aber ich habe hier irgendwo, wenn er noch lebt, einen Cousin. Der Bruder meiner Mutter war mit einer Christin verheiratet, die einen Sohn hatten. Aber das waren damals schon Nazis. Und die hat den Mann weggejagt - er ging allein nach Shanghai. Ich hing sehr an dem Kind, und er durfte nicht mehr zu meinen Großeltern gehen. Ich weiß von meinem Onkel, der ebenfalls nach Amerika kam, dass er nach dem Krieg auch nicht versucht hat, seinen Vater ausfindig zu machen.

AVIVA-Berlin: Sie haben Erinnerungsstücke wie Konzert-Billets und Noten mit in die Emigration genommen. War das wichtiger für Sie als ein Fotoalbum?
Ursula Mamlok: Viel wichtiger! Aber ich habe auch das. Ich habe seit 1937 ein Tagebuch geführt, und das habe ich auch hier. Man musste sehr vorsichtig sein, denn die Wohnungen wurden ja oft durchsucht. Wenn ich da geschrieben hätte: "Die Nazis sind furchtbar!", wäre das sehr gefährlich gewesen, das wusste ich. Ich habe also über Konzerte geschrieben, über die Schule, Ferien und über meine Freundinnen. Dadurch habe ich ein vollständiges Dokument von meinen frühen Jahren. Ich hatte das Glück, dass die Mutter einer Freundin ein bisschen Klavier gespielt hat, und den ganzen Bücherschrank voller Noten hatte. Die Wohnung war schon überwacht. Ich weiß nicht mehr warum, aber die mussten raus und waren gefährdet. Also sagte ich zu meiner Freundin: "Die Wohnung ist doch offen. Lass uns hingehen und alle Noten holen." Die stehen jetzt hier.

AVIVA-Berlin: Was ist aus der Familie geworden?
Ursula Mamlok: Die sind nach Argentinien. Ein furchtbares Leben, bis heute. Ich korrespondiere noch immer mit vielen Freundinnen aus der Kindheit. Ja, so war das. Ich habe alles getan, um Musik herauszuschleppen und habe auch mein Klavier mit nach Ecuador genommen. Ich ging ja erst nach Ecuador.

AVIVA-Berlin: Kam das Klavier wieder zurück? Ist das dieses hier?
Ursula Mamlok: Nein, nein. Das Klavier war aus der Kindheit meiner Mutter. Ein deutsches. Das haben wir tropenfest gemacht. Ich wusste ja, dass Ecuador ein ganz heißes, feuchtes Klima war. Das Klavier hätte es gar nicht ausgehalten. Mit Präzision hat ein deutscher Stimmer die Filze und alles vorbereitet. Angeblich dafür, dass es besser halten sollte. Das Klavier hat es auch überlebt. Später wurde es verkauft, als ich allein nach New York ging. Das Geld war für die Schiffsreise. Das ist Wahnsinn!

AVIVA-Berlin: War es Sehnsucht, weswegen Sie nach Berlin zurückgekommen sind?
Ursula Mamlok: "Meine Heimatstadt" - das kann ich nicht fühlen. Nein, ich habe keine Gefühle für Berlin. Ich bin hier nur wegen einer sehr guten Freundin hergekommen, deren Mann auch Komponist war, jüdischer Komponist. Sie selbst ist nicht jüdisch. Sie kam, als mein Mann sehr krank wurde und half mir. Sie meinte: "Hier kannst du nicht alleine bleiben." Sie hat Recht gehabt.

AVIVA-Berlin: Ich habe bei meiner Recherche zwei unterschiedliche Jahreszahlen Ihres Geburtsdatums gefunden. Einmal 1923, einmal 1928. Welches ist richtig?
Ursula Mamlok: 1938 bin ich hier aus der Schule rausgeschmissen worden. Als ich in Amerika war, hatte ich keinen Schulabschluss. Ich musste aber an der Musikhochschule unterrichten, und das kann man nur mit "degree". Ich war 33 Jahre alt und wusste nicht, dass man in Amerika in jedem Alter zur Schule gehen kann. Ich habe geglaubt, ich sei zu alt und habe mich fünf Jahre jünger gemacht. Das habe ich niemandem erzählt. Auch meine guten Freunde wussten bis zu meinem 80. Geburtstag nicht Bescheid. Das wäre auch heute noch nicht rausgekommen, wenn nicht einem Journalisten, der einen Zeitungsartikel über die "Juillard School" schrieb, die Lücke aufgefallen wäre. Wir haben sehr darüber gelacht und das Alter richtig gestellt. Jetzt weiß das jeder und trotzdem steht auf meinen Platten überall das falsche Alter drauf.


Weitere Informationen zur Biographie, zur Diskographie und zum Werkverzeichnis von Ursula Mamlock finden Sie unter: www.ursulamamlok.com


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Beitrag vom 16.09.2008

AVIVA-Redaktion