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Beitrag vom 12.10.2007
Alles Web 2.0 oder was - Zwei Webfrauen im Interview
Sandra Lindner
Die webgrrls haben ihren ersten gesamtdeutschen Kongress in Berlin abgehalten. Wie das Berufsfeld Neue Medien in der Praxis aussehen kann, erzählen uns Ramona Welsh und Birgit Rühring
Die webgrrls sind ein Netzwerk von Frauen, die in und mit den Neuen Medien arbeiten. Ihr Kongress "Youtube, Joomla, Youhoo - alles Web 2.0, oder was ?!" fand am 29. und 30. September in Berlin statt und bestand aus Vorträgen und Workshops rum ums Web 2.0: Podcasting, Second Life, Content Management Systeme, Internetradio, Netfilmmaking, Online-Marketing und vielem mehr. Erst eine Woche zuvor hatten sich in Berlin 15.000 Menschen unter dem Motto "Freiheit statt Angst" für mehr Rechte und Transparenz im Bereich Datenschutz zur Großdemo versammelt. Der Vortrag von Rena Tangens, Initiatorin der Big Brother Awards für besondere Fahrlässigkeit in Sachen Datenschutz, hatte daher besondere Aktualität. Unter dem Titel "Tausche Bürgerrechte gegen Linsengericht – die Wir-wollen-alles-über-Sie-Wissensgesellschaft" hat sie über den gegenwärtigen Trend zur Massendatenspeicherung berichtet. Das Rahmenprogramm des Kongresses bildeten Filme, Installationen, eine Stadtführung und reichlich Gelegenheit zum Austausch untereinander. Eine der beteiligten Künstlerinnen ist die Medienkünstlerin Ramona Welsh, eine der Organisatorinnen ist die Designerin und Programmiererin Birgit Rühring. Beide waren auch mit einem Vortrag am Programm beteiligt: Welsh sprach über den Internetradiosender TwenFM, Rühring über das Content Mangement System TYPO3. AVIVA-Berlin traf beide zum Interview.
AVIVA-Berlin: Frau Rühring, wie kamen Sie zu den webgrrls und wie kam es zur Idee zum Kongress?
Birgit Rühring: Der Kongress ist das erste gesamtdeutsche Treffen in dieser Form. Wir wollten unseren Mitgliedern eine Plattform zum Austausch und Networking geben. Gleichzeitig wollten wir öffentliches Forum in Form eines Fachkongresses bieten. Ich bin jetzt seit drei Jahren Mitglied und die Ansprechpartnerin der Regionalgruppe Berlin Brandenburg. Dazu gekommen bin ich, nachdem ich mich als TYPO3-Programmiererin selbständig gemacht hatte (TYPO3 ist ein Open-Source-Content-Management-System, das auf der Skripsprache PHP basiert, Anm. der Red.). Motivation für die Mitgliedschaft war der Wunsch nach professioneller Vernetzung mit anderen IT-Fachfrauen. Der Kongress hat viel ehrenamtliche Arbeit bedeutet. Wir hatten ca. ein Jahr Vorlauf und praktisch kein Budget. Viele der Referentinnen sind selbst webgrrls und haben sich unentgeltlich mit einem Vortrag beteiligt.
AVIVA-Berlin: Ramona, Sie sind Medienkünstlerin, DJ und Filmemacherin. Erzählen Sie mir bitte etwas über Ihre Biografie.
Ramona Welsh: Ich bin in Ost-Berlin groß geworden, in der finalen Phase des antikapitalistischen Schutzwalls. Unter dem DDR-Regime war es mir nicht möglich, eine Kunsthochschule zu besuchen, da ich schon eine Ausbildung als Vorschulpädagogin hatte. Also habe ich autodidaktisch gelernt und gearbeitet, z.B. in der Umweltbibliothek am Zionskirchplatz, wo viele autonome Kunst- und Musik-Performances stattfanden. Ich war auch Teil der freien Theatergruppe Medea. Wir haben die Hamlet-Maschine von Heiner Müller im öffentlichen Raum aufgeführt. Das gab großen Ärger und wir wurden ausgewiesen. Ironie des Schicksals: vier Tage nach meiner Ankunft in Westberlin fiel die Mauer. Ich bin in Berlin geblieben und begann mit Video- und Sound-Installationen. Ich habe mich an internationalen Ausstellungen und Filmfestivals beteiligt, z.B. im La Vilette in Paris und in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst in Berlin. Ich habe einige Stipendien für Kunstprojekte erhalten, organisierte Ausstellungen, Musikperformances und Clubevents. 1995 habe ich mit dem DJing begonnen. Sounds- und Geräusche zu sammeln ist eine meiner Leidenschaften. Da das Auditive schon immer eine meiner Hauptinspirationsquellen war, war es ein logischer Schritt für mich, mit Musik zu arbeiten. Ich habe anderen viel zugehört, dann selbst Sachen ausprobiert, habe in vielen verschiedenen Venues aufgelegt. In den Neunzigern vor allem Drum´n´Bass, später House, Techno und Minimal... und überhaupt alles was mir gefällt.
AVIVA-Berlin: Frau Rühring, ist Programmieren heutzutage noch eine Männerdomäne?
Birgit Rühring: Ich bin nicht von Haus aus Programmiererin. Ursprünglich studiert habe ich Modedesign. Mit TYPO3 arbeite ich jetzt seit fünf Jahren. Vorher habe ich in einem Büro für Architektur und Kommunikationsdesign gearbeitet. Mir hat die Arbeit mit Computern Spaß gemacht und ich konnte vieles ausprobieren. Aber ich wollte wieder in Eigenregie arbeiten und habe mich selbständig gemacht. Die Auftragslage ist gut, viele Projekte erhalte über Weiterempfehlungen von Kunden, über XING oder das webgrrls-Netzwerk. Männerdomäne? Davon lasse ich mich nicht beeindrucken. In der TYPO3-User-Group in Berlin, der ich seit Gründung angehöre, bin ich allerdings eine von sehr wenigen Frauen. In der internationalen TYPO3 Association sieht es ganz ähnlich aus: Frauen sind deutlich unterrepräsentiert.
AVIVA-Berlin: Warum haben Sie sich auf TYPO3 spezialisiert?
Birgit Rühring: TYPO3 ist im Open Source Bereich das Content Management System mit dem weitaus besten Konzept. Nicht ohne Grund erlebt es gegenwärtig einen regelrechten Hype. Neben den technischen Vorzügen gibt es eine starke Community. Da TYPO3 sehr komplex ist und ständig weiter entwickelt wird, erfordert es laufend hohen Zeitaufwand. Daneben bleibt mir nicht viel Zeit für anderes. Davon abgesehen, bin ich TYPO3 regelrecht verfallen und Überzeugungstäterin – manchmal auch in Hassliebe.
AVIVA-Berlin: Ramona, wie kam es zur Zusammenarbeit mit dem Internetradiosender TwenFM?
Ramona Welsh: TwenFM war seit 1999 ein DJ-Piratensender und ab 2000 online. Es kam zur mehrmaligen Konfiszierung der Sendeanlage durch die Polizei. Später hat TwenFM im Nachtprogramm des Offenen Kanals Berlin gesendet. Dazu kam ich folgendermaßen: eines Tages bin ich die Torstraße in Mitte entlanggelaufen. Plötzlich hörte ich Musik und wollte wissen, wo sie herkam. So habe ich die Leute von TwenFM entdeckt. Die haben mich gefragt: Bist du DJ? Ich habe Ja gesagt und sofort eine Show gekriegt. Ich habe sie "Airwave" genannt. Eine Stunde jede Woche. Von Jetzt auf Gleich. Es ging einfach los. Aber eine Radiosendung ist ja nicht nur die Aneinanderreihung von Musik, die Moderation ist ein ebenso wichtiger Teil. Da wir autonom gearbeitet haben, war wir sehr frei: alle konnten mitmachen, wir haben einfach ausprobiert und improvisiert. So lange es eben ging. Heute eröffnet Podcasting ja noch ganz andere Möglichkeiten im Hörfunkbereich.
AVIVA-Berlin: "Paradise" ist Ihr bisher größtes Filmprojekt - worum geht es?
Ramona Welsh: Es ist ein Fantasy-Märchen für Erwachsene. Es geht um die Suche nach dem Paradies. Ein Paradies ohne Sündenfall. Ich wollte eine Darstellung, in der die Schuld von der Frau genommen wird. Das war mir sehr wichtig. Ich wollte eine neue Perspektive eröffnen, einen neuen Blickwinkel auf unsere Geschichte und Ursprünge. Der Film kommuniziert über Musik, Geräusche und Bilder, nicht über Sprache. Ich habe ein Stipendium für die Produktion erhalten. Ich werde ihn zur Berlinale einreichen, so wird er hoffentlich nächstes Jahr zu sehen sein.
AVIVA-Berlin: Frau Rühring, was braucht eine Frau, die sich im IT-Bereich selbständig machen will?
Birgit Rühring: Grundsätzlich braucht jede, die sich selbständig macht, Mut zum Risiko und möglichst gutes Fachwissen in ihrem Bereich. Es gibt keine regelmäßigen Einnahmen und Selbständige sind ständig dem Vergleich ausgesetzt und müssen sich neben anderen behaupten. Kenntnisse in Buchführung und Steuerrecht gehören ebenso zu jeder Selbständigkeit wie verkaufen, akquirieren, präsentieren. Und Disziplin, jeden Tag sein Pensum zu schaffen. Im IT Bereich ändert sich alles rasend schnell und ich bin immer am Lernen und Ausprobieren. Ich mache nie zweimal dasselbe. Für das Programmieren braucht es auch Frustrationstoleranz. Schon bei einem fehlenden Komma läuft nichts mehr. Also gehört häufige Fehlersuche dazu. Ansonsten kommt es darauf an, ich brauchte kein Kapital, nur einen Rechner und DSL. Das ist ein echter Vorteil in dem Bereich. Und einen Vorteil gibt es in der Freiberuflichkeit allgemein: es zählt, was du kannst und nicht, wie alt du bist. Der Nachteil: darfst nur nicht ernsthaft krank werden. Für das Knüpfen von Kontakten und als Informationsquelle sind Netzwerke wichtig, wie eben der webgrrls.de e.V. für Frauen im IT-Bereich. Wir treffen uns übrigens jeden 1. Dienstag im Monat um 18.30 im GLS Sprachenzentrum, Kastanienallee 82. Unser Stammtisch ist offen für alle Interessentinnen.
AVIVA-Berlin: Vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg für kommende Projekte!
Weitere Infos im Netz unter:
Website der webgrrls: www.webgrrls.de
Website von Birgit Rühring: www.ruehring.de
Website des CMS Typo3: http://typo3.de
Website Ramona Welsh: www.monoram.de
Ramona Welsh bei MySpace: www.myspace.com/monoram