Lebenslieder, Vivian Kanner im Interview - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Interviews



AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 28.08.2007


Lebenslieder, Vivian Kanner im Interview
Sharon Adler

"Die Menschen, die sich für meine Lebenslieder interessieren, sollen mit mir lachen, weinen oder sogar beides - manchmal auch gleichzeitig!" Jeder Mensch hat seine Lebenslieder. Melodien, Texte, ...




die für bestimmte Lebenssituationen und Gefühle stehen, euphorische und melancholische, hoffnungsvolle und hoffnungslose. Mit Lebensliedern verbinden sich Erinnerungen an Menschen, an Orte, an Situationen. Und in Lebensliedern begegnen wir häufig uns selbst, entdecken Sehnsüchte, finden Antworten, erkennen das Vertraute, aber auch das fremde Ich. Lebenslieder zwischen Lebenslügen, Leidenschaft und Liebesglück. Lebenslieder ist ein Soundtrack zur Bestandsaufnahme einer Mittdreißigerin im Spannungsfeld zwischen Deutschem und Jiddischem, Chanson und Schlager, zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt.

So unterschiedlich diese Lieder von Georg Kreisler, Udo Jürgens, der Dietrich, Rio Reiser, Friedrich Holländer, Gary James Camp, Michel Legrand und vielen anderen auch sind, in der Interpretation von Vivian Kanner erzählen sie mit dem ihr eigenen dunklen Timbre von der Begegnung mit sich selbst.


AVIVA-Berlin: Dein neues Programm heißt "Lebenslieder". Warum, was verbindest Du mit dem Begriff "Lebenslieder" und welche sind deine ganz persönlichen Lebenslieder?
Vivian Kanner: Jeder Mensch verbindet mit gewissen Lebenssituationen Lieder. So wie man sich an Umstände, Gerüche und andere Details erinnern kann, so wird es immer auch eine Musik geben, die man mit einer gewissen (Lebens-) Situation verbindet. So entsteht eine Art Lebenssoundtrack. Meine "Lebenslieder", das sind Lieder, die mich entweder schon mein bisheriges Leben begleiten und damit ein Teil von mir geworden sind oder Lieder, die ich mit gewissen Ereignissen meines Lebens konkret verbinde. Deshalb sind die Lieder in meinem Programm auch die persönlichsten "Lieder meines bisherigen Lebens... Eigentlich wären "Bestandsaufnahme" oder "Inventur" genauso treffende Worte als Titel für mein Programm. Die klingen aber ähnlich sexy wie "Lohnsteuererklärung". Lebenslieder empfand ich irgendwie als anziehender. Oder würdest Du dir ein Programm anhören, das "Meine Inventur - ein Liederabend" heißt?

AVIVA-Berlin: "Lebenslieder" ist ein Soundtrack im Spannungsfeld zwischen Deutschem und Jiddischem, Chanson und Schlager, zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. Lebenslieder will kein ausschließlich jiddisches Programm sein - wie schaffst Du diese Gratwanderung, was willst Du bewirken, wenn Du Holländers "An allem sind die Juden schuld" singst?
Vivian Kanner: Wie schon gesagt. Lebenslieder sind Lieder, die mich bewegen, begleiten, berühren. Für mich ist das keine Gratwanderung, sondern gelebte Normalität - oder gelebter Wahnsinn - ganz wie man das sehen möchte. In jedem Fall spannend, dieses Spannungsfeld und das ist genau der Punkt: Daran möchte ich Menschen teilhaben lassen. Bezogen auf den jüdisch, jiddischen Teil meines Programms bedeutet das vor allem, dass ich als Mitglied der sog. 2. Generation (Anm. der. Red. Nachkomme von Holocaust-Überlebenden) IMMER in einer Art Spannungsfeld zu leben habe - meint mein Umfeld. Auf jeden Fall in einer - oftmals aufoktroyierten exponierten Situation. Nicht weil ich mich aktiv darum reiße, sondern weil meine Umwelt das quasi von mir erwartet - da sind im Übrigen oft beide Pole sehr umtriebig. Der Jüdische und der Nichtjüdische.

Was den nichtjüdischen Pol betrifft, so habe ich mich im Laufe der Jahre satt gesehen an diesen "Bundestagsbetroffenheitsgesichtern" und habe festgestellt, dass es für mich wenig Sinn macht, mit der Vergangenheit aufzuwarten, warum auch, viel sinnvoller und befriedigender ist es, die Gegenwart mit dem zu beleben, was in den 40er Jahren genau hier in Berlin unterbrochen wurde. Also habe ich nun den Weg für mich gefunden mit viel Sarkasmus und Witz diesen gegenseitigen Verkrampfungen und Befindlichkeiten entgegenzutreten.
Ich habe mit meinen letzten beiden Musik-Projekten rein jiddische Programme gemacht. Da war wenig Platz für eben diese Lieder von Holländer oder Kreisler. Das wollte ich nun ändern.

Auf der anderen Seite: wenn ich mein Programm "Lebenslieder" nenne, dann kann ich aber eben auch auf keinen Fall auf jiddische Lieder verzichten, da sie mich nun mal einen großen Teil meines Lebens begleitet haben. Viele Menschen sind gegangen, aber diese Lieder sind mir geblieben und sie beleben und begeistern mich immer mehr und immer noch. Es wäre schade, wenn sie niemand mehr singen würde. Also singe ich sie.

"An allem sind die Juden schuld". Ja, meinen doch viele. Immer noch. Oder immer wieder. Nicht? Wenn's nicht die Juden sind, sind's die Ostdeutschen, die Asylanten, die Manager. Ersetze Juden mit X. Ein sehr pointierter Song zum Thema Sündenbock und einfache Antworten auf komplexe Fragen. Leider trauen sich immer nur die Falschen, solche Botschaften zu singen - oder soll ich besser sagen "zu grölen"? Aber die meinen's ja auch ernst... Ich auch - nur anders. Hm.
Das Lied stammt aus den 20er Jahren... und hat an Aktualität nicht verloren wie man mit gespitzten Ohren bei allerlei Zusammenkünften von Menschen hören kann - mit wechselnder "Sündenbockbesetzung" versteht sich - tagesaktuell.

AVIVA-Berlin: Du bist ehemalige Frontfrau der Münchner Band "Gefilte Fish" und hast lange mit Sharon Brauner und eurer Band "Jewels" osteuropäische Melodien jiddischer Lieder mit lateinamerikanischen Rhythmen und Jazz-Klängen gemischt. Eine Zeitlang hast Du keine jiddischen Lieder mehr im Programm gehabt. Warum nicht, und: wie kommt es, dass Du jetzt eine Mischung machst aus jiddischer, Chanson und Schlager, zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt? Jiddisches Liedgut bewegt sich ja häufig zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt...
Vivian Kanner: So ist das ja nun auch wieder nicht. Es war immer mindestens ein jüdisches Lied in meinem Programm, auch wenn es nur eins war. Aber mit jiddischer Musik verbindet mich so viel, dass ich nie so richtig davon lassen konnte. Mein Programm "Leidende Lieder" war eine sehr schöne Erfahrung, aber die größte Erkenntnis daraus war, dass ich sehr gerne wieder jiddische Lieder singen möchte.
Irgendwie komme ich von den jiddischen Liedern nicht weg, warum sollte ich auch. Eine Zeitlang dachte ich, ich müsste nach all den Jahren mal was anderes singen... dann war's aber auch wieder melancholisch. Nun, was soll ich sagen: Nichtjiddische melancholische PopBalladen...das machen viele und ich schätze, manche können das einfach auch besser als ich. Und mein Herz hängt einfach an diesen wunderschönen alten Liedern, die sonst in Vergessenheit geraten würden. Irgendwie vereinen diese Lieder mein lachendes und weinendes Auge. Wie Victor Hugo schon sagte: "Das Vergnügen, traurig zu sein!" Ähnlich verhält es sich doch mit französischen Chansons, portugiesischem Fado, argentinischem Tango oder neapolitanischen Liebesliedern. All diese Variationen zutiefst emotionaler Musik berühren Menschen auf ihre ganz eigene Weise. Wie der liebe Goethe schon sagte:"Es muss von Herzen kommen, was Herzen erreichen soll". Das finde ICH mal zur Abwechslung spannend. Das reizt mich eben - auch nach all diesen Jahren und Ausflügen in andere Gefilde... wo wir wieder beim Thema Spannungsfeld wären. Ich komme aus der spannenden Nummer einfach nicht raus. Mittlerweile lebt sich's ganz entspannt im Spannungsfeld. Hier siehst du den roten Faden...(lacht) OK, noch mal in Quintessenz: In meinem Lebenssoundtrack konnte ich sie einfach super thematisch einflechten... Als Jüdin in Berlin sei kaum jemand besser geeignet als ich, jiddische Lieder zu singen... meint zumindest mein nichtjüdisches wie auch das jüdische Umfeld. (grinst) Es ist mir auch ganz egal, wer sie auch singt oder eben nicht mehr singt... das sind eben meine Lieder und ich werde sie singen solange wir - meine Musiker, mein Publikum und eben auch ich - Freude daran haben.

AVIVA-Berlin: Welchen Song willst Du unbedingt mal öffentlich singen? Gibt es Unterschiede zwischen den Liedern, die Du öffentlich performst und denen, die Du unter der Dusche singst?
Vivian Kanner: Ich mute meinen Nachbarn da nicht mehr zu als meinem Publikum. Aber wenn du mich so fragst: Da gibt es ein Lied, das ich unfassbar schön finde, was ich noch nie öffentlich gesungen habe: Das ist die 'Hatikva' (Anm. d. Red. Israelische Nationalhymne). Irgendwie singt man ja nicht einfach so eine Nationalhymne. Auf jeden Fall ist das eine sehr melancholische Melodie mit einem wunderschönen Text über Hoffnung... das würde ich sehr gerne Mal singen.

AVIVA-Berlin: Wie gelingt es dir, als deutsche Jüdin "Normalität" zu leben, wie könnte Deiner Meinung nach das verkrampfte Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden entkrampft werden? Wie gehst Du um mit der Frage nach der israelischen Politik? Zu Deiner Identität - siehst Du Dich als deutsche Jüdin, jüdische Deutsche oder fühlst Du Dich in Israel eher zuhause - Familie und viele Freunde leben dort.
Vivian Kanner: Ich gehöre nicht zu den Menschen, die sich, wenn Sie jemanden kennen lernen, mit folgenden Worten vorstellen: "Guten Tag mein Name ist Vivian Kanner und ich bin Jüdin!" Auch heiße ich nicht Sarah Horowitz. Mein Name verrät mich also nicht sofort... und meinen gelben Stern trage ich auch nur zuhause...(lacht)...Insofern ist mein Verhältnis zu meinen Mitmenschen - egal ob jüdisch oder nichtjüdisch völlig normal - was es im Übrigen auch weiterhin ist, wenn meine Mitmenschen Kenntnis davon erlangen, dass ich Jüdin bin. Das einzige was sich ändert ist, dass das Redebedürfnis steigt. Weitestgehend im positivster Ausprägung interessierter Neugierde. Es gibt so wenig Juden in Deutschland (Anm. d. Red. ca. 120 000 Juden leben in Deutschland), die Wahrscheinlichkeit, dass man einen trifft, mit dem man auch sprechen kann, ist eher gering, sodass viele die Gunst der Stunde nutzen, wenn sie endlich einen vor sich haben. Diese Erfahrung mache ich - insofern erinnere nicht ich meine Umwelt daran dass ich Jüdin bin, sondern umgekehrt. und das ist auch OK so. Miteinander zu reden ist wichtig, um sich kennen zu lernen und Vorurteile abzubauen. "Jude sein in Deutschland". Ein bisschen erzählt mein Programm naturgemäß auch davon... Eine große Freude würde es mir bereiten wenn die "Lebenslieder" einigen Leuten die Verkrampfung in ihrer Zunge und damit ihrer Seele nehmen können, die entstehen sobald sie das Wort 'Jude' aussprechen
Ich habe für mich die Erkenntnis gewonnen, dass es nicht der richtige Weg ist, immer wieder und immer wieder mit dem großen "Schuldzuweisungsfinger" herumzufuchteln. Weil das führt ja letztendlich zu diesen Verkrampfungen und Schuldgefühlen. Und vielleicht schaffe ich es bei dem einen oder anderen diese Verkrampfungen oder Berührungsängste zu lösen, damit ist schon viel gewonnen. Musik und Humor können sehr dabei helfen.
Dass es einige Menschen gibt, die leugnen was passiert ist oder ihre alten "Stürmer-Vorurteile" pflegen, tja, die haben halt diese Ansicht, die wollen das auch glauben.

Auf der anderen Seite bin ich auch nicht die Botschafterin in Sachen "Judentum in Deutschland". Das ist eine Rolle auf die ich so gar keine Lust habe. In der Begegnung zwischen Menschen muss man oft gar nicht so wahnsinnig viel erklären und meistens ist das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden auch gänzlich entspannt und unverkrampft... Zumindest in meinem Privatleben ist das glücklicherweise so. Schließlich sind wir in erster Linie alle nur Menschen.

Und was die Frage nach der israelischen Politik betrifft, so bin ich immer wieder überrascht, warum ausgerechnet mir diese Frage gestellt wird. Ich bin Jüdin. Soweit so gut, so egal. Bin ich deshalb verantwortlich für alles, was andere Juden und heute der Staat Israel oder einzelne politische Strömungen besagten Staates verbocken? Ein bisschen viel Verantwortung für so einen kleinen Menschen wie mich, oder? Diesen Stiefel zieh ich mir nicht an... Natürlich habe ich eine besondere Bindung... Aber die habe ich an viele andere Orte auch, an denen Menschen leben, die ich liebe oder wo ich so viele schöne Erfahrungen erleben durfte.

Meine Identität? Welche der vielen meinst Du denn? Die Münchnerin, Ex-Münchnerin, Berlinerin, in München geborene jüdische Neuberlinerin mit Hang zum Weisswurschtfrühstück mit Brezn? Die Lebenskünstlerin, Schauspielerin, Sängerin? Die nichtreligiöse Jüdin mit Berliner Wohnsitz und Schweizer Pass? Die säkulare, aber traditionsbewusste U-Boot-Jüdin, die nur dann in der Synagoge auftaucht, wenn es wirklich notwendig ist? Die Tochter eines Auschwitz-Überlebenden, aus einem polnischen Stetl mit amerikanischem Pass und einer Schweizerin mit britischem Pass?
Identität ist für mich nicht statisch. Es kommt ganz auf den Blickwinkel an... "Home is where my heart is" - und ich bin ich und bleib in erster Linie ich... in ganz, ganz vielen Facetten... hier heute in Berlin, in Deutschland, in jeder Hinsicht offen und vergnügt - immer im Spannungsfeld immer für einen Minderheitenwitz gut - um es an dieser Stelle noch mal zu betonen... (lacht)

AVIVA-Berlin: "Wünsche sind nur schön, solange sie unerfüllbar sind". Trifft das auch auf dich zu?
Vivian Kanner: (breites Grinsen)
Wünsche sind natürlich auch schön, wenn sie in Erfüllung gegangen sind, aber dann sind es ja auch keine Wünsche mehr, oder? Außerdem gibt es dann auch noch andere scheinbar unerfüllbare Wünsche. Das ist doch das Salz in der Suppe, oder? Dann kann man sich weiter an die Arbeit machen, diese Wünsche zu erfüllen und so weiter und so fort..

AVIVA-Berlin: Was sind Deine nächsten Projekte?
Vivian Kanner: Dafür sorgen, dass noch ganz viele Wünsche in Erfüllung gehen...


Vivian Kanner im Netz: www.viviankanner.com



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