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Beitrag vom 04.12.2002
Jeder Tag im stillen Widerstand
Diana Gehring
Venus ist kein Kind der Liebe, wie ihr Name verheißungsvoll verspricht. Sie hat ein trauriges Geheimnis und weigert sich zu reden. Torey, ihre Lehrerin, spürt der Sprachlosigkeit mit viel Liebe nach.
"Jedes Kind, das verlassen wird, zieht sich zurück und wartet" erklärt Alice, die erste Schulfreundin der siebenjährigen Venus, die nicht spricht, sich weigert am Leben teilzunehmen. In ihrem Blick ist beängstigende Leere. Ihre Schwester Wanda, geistig zurückgeblieben, bringt sie erstmals in die Schule. Hier trifft sie auf Torey Hayden, ihre Lehrerin.
Mit ganz kleinen Schritten versucht die Pädagogin sich dem Kind zu nähern, um eine Beziehung aufzubauen. Das ist eine geradezu aussichtslose Angelegenheit. Rückschläge sind vorprogrammiert. Venus fehlt oft in der Schule. Deshalb besucht die Lehrerin ihr Elternhaus. Hier bietet sich ihr ein trauriges Bild.
Die neun Kinder der Familie sind verwahrlost, auf sich gestellt. Sie leben in einem brüchigen Wohnwagen. Die Mutter hat unregelmäßige Arbeitszeiten, trinkt und wechselt häufig die Männer. Ein schmieriger Mann lungert im Eingang. Er scheint der neue Freund der Mutter zu sein. In Torey wächst eine böse Vorahnung.
Torey Hayden ist Pädagogin, Therapeutin und Autorin psychologischer Fachbücher. In ihrem neuen Roman schildert sie fesselnd, einfühlsam und detailliert ihre tägliche Arbeit mit fünf verhaltensauffälligen, lernbehinderten Kindern einer Sonderschulklasse.
In den Tagesskizzen lässt die Autorin die LeserInnen lebendig am Alltagsgeschehen der Kinder und der Lehrerin teilhaben. Dabei verfolgt Hayden unbeirrt ihren unkonventionellen, ideellen und in besonderem Maße intuitiven Arbeitsstil. Sie will so gut wie möglich alle Kinder der Klasse fördern. Durch ihr eigene untrügliches, Gespür in der Beschreibung von Grenzsituationen wird die Leserin magisch in den Bann gezogen.
Torey ist bemüht, die kognitiven Fähigkeiten durch kleine Gesprächsrunden und Traumreisen zu aktivieren. Spielerisch und manchmal auch mit streng verhaltenstherapeutisch angewandten Regeln lernen die Kids sich mit ihrer Umwelt auseinander zu setzen und sich gegenseitig zu akzeptieren.
Toreys größte Herausforderung ist die Arbeit mit der stummen Venus. Hier steht sie vor einem großen Rätsel. Deshalb forscht die Lehrerin in der Familie nach, um mehr über Venus Identität zu erfahren. Venus ist ein Schattenkind. Schon die Tragik ihrer ungewollten Existenz, sie ist aus einer Missbrauchssituation ihrer leiblichen behinderten Mutter entstanden, bietet keinen Nährboden für einen guten Start ins Leben. Das kleine Mädchen ist häufig der Aggressivität ihrer Brüder und der Brutalität der Männerbekanntschaften ihrer Mutter ausgeliefert.
Die Behörden registrieren lediglich die Armut der Sippe und verfolgen das kriminelle Potential der männlichen Familienmitglieder. Torey spürt, die tiefe Tragik, die Grausamkeit dieser Familiensituation und die Last, die dieses schweigende Kind trägt. Allen Widerständen ihrer Assistentin, dem Sozialamt, der Schulbehörde und -leitung sogar der Polizei zum Trotz, gibt sie Venus nie auf.
Haydens klarer, einfacher Sprachduktus führt durch die Welt der kleinen Außenseiter. Die Energie, die Liebe und die Präsenz dieser engagierten Frau zu Ihren Schützlingen ist beeindruckend. Jede Mutter wäre vermutlich begeistert, bei so viel wahrem Engagement einer Lehrerin.
Meine Kritik gilt einzig der Gestaltung des Buchcovers. Die Hauptheldin des Romans ist afroamerikanischer Herkunft und kein helles Trotzköpfchen. Ein wenig platt bei so viel sensiblem Inhalt.
Hörst Du mich, Venus? Ein schweigendes Kind verstehenTorey HaydenISBN/EAN 3-442-15194-5
Erschienen Dezember 2002
Goldmann Verlag, München
9,90 EURO
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