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Beitrag vom 17.07.2003
Das verordnete Geschlecht
Jana Scheerer
Was ist es denn? - werden alle Eltern nach der Geburt eines Kindes gefragt. Fast alle antworten mit "ein Mädchen" oder "ein Junge". Einige wissen es nicht. "Ein Mensch", könnten sie sagen.
Elisabeth Müller ist eine Frau. Michel Reiter ist ein Mann. So sieht es jedenfalls aus. Tatsächlich sind beide Mann und Frau, oder auch weder Mann noch Frau - sie sind intersexuell. In "Das verordnete Geschlecht" erzählen sie ihre Geschichten, die von der Verneinung der eigenen Identität durch die Außenwelt und dem Aufzwingen einer gesellschaftlich klar definierten Rolle handeln.
Intersexuelle Menschen werden mit Geschlechtsmerkmalen geboren, die keine klare Zuordnung zu einem der beiden Geschlechter möglich machen. Das kommt bei einem von 2000 Kindern vor. In den meisten Fällen wird durch Operation eine Entscheidung erzwungen - für das Geschlecht, dem das Kind am ehesten zuzurechnen ist. Sie fällt meist in Richtung Mädchen aus, denn das Entfernen von "Überflüssigem" ist leichter, als der Aufbau von "Fehlendem".
Auch Michel Reiter sollte ein Mädchen werden, denn der "falsche" Chromosomensatz, ein zu kleiner Penis und die fehlenden Hoden qualifizierten ihn nicht zum Jungen. Mit vier Jahren wird sein Penis entfernt und eine Vagina geschaffen - Michel wird zu "Birgit". Es schließt sich eine nicht enden wollende Leidensgeschichte an, die in mehreren Ordnern mit Arztbriefen dokumentiert ist. Aus diesen Akten liest Michel Reiter im Film vor, mit monotoner Stimme rezitiert er die sachlichen Befunde, die seine grausame "Krankengeschichte" beschreiben.
"Die Scheide ist mit zwei Fingern passierbar", lauten diese Sätze, und "Das anatomische Ergebnis dürfte nicht bei der Kohabitation hinderlich sein, eher eine fehlerhafte psychosexuelle Einstellung." Denn Michel Reiter fügt sich nicht in die Rolle, für die er von den Ärzte zurechtgeschneidert wurde. Er nennt sich nicht Birgit, sondern Michel, benutzt den Namen, den die Eltern ihm direkt nach der Geburt gaben, als man ihn noch für einen Jungen hielt. Dass heißt nicht, dass Michel Reiter ein Junge sein möchte - viel mehr bedeutet "Michel" für ihn eine Zeit, in der er nicht verstümmelt und seine eigentliche Identität intakt war.
Auch Elisabeth Müller hätte ihre Hoden gern behalten. Äußerlich wirkt sie weiblich und ist es hormonell auch, doch ihr Chromosomensatz ist der eines Mannes. Das war ein Problem für sie, als alle Mädchen ihre Tage bekamen und sie befürchtete, es könnte ihr an der Nasenspitze angesehen werden, dass sie nie eine Menstruation bekommen würde. Vor allem aber war es ein Problem ihrer Eltern und Ärzte. Wie Michel Reiter fühlte sie sich pathologisiert und bei Entscheidungen, die ihren eigenen Körper betreffen, außen vor gelassen.
Heute wirkt Elisabeth Müller zufrieden und selbstbewusst - Muskeln, die sie dank ihrer männlichen Gene anderen Frauen voraus hat, nutzt sie, um beim Singen die Spannung besser halten zu können. Wenn sie von diesem "Vorteil" erzählt, wirkt sie fast stolz.
"Das verordnete Geschlecht" erhält seine Spannung durch das Aufeinandertreffen von sehr unterschiedlichen Erzählungen, die doch alle das gleiche beschreiben: Die Ärzte erzählen die Geschichte einer Krankheit, die geheilt werden muss, Michel Reiter und Elisabeth Müller die einer Identität, die ihnen geraubt wurde.
Die komischen Momente des Films entstehen, wenn ein Chirurg anhand eines Modells die Anatomie von intersexuellen Menschen erklärt, dabei in die Kamera schaut und deshalb bei "weiblich" auf den Modellpenis zeigt. "Nee, umgekehrt" korrigiert er schnell, denn hier darf es kein Versehen geben.
So gibt es in "Das verordnete Geschlecht" trotz aller Tragik doch einen positiven Unterton. Er entsteht in der Hoffnung auf die Anerkennung eines Geschlechtsstatus, der nicht "weiblich" oder "männlich" heißt, sondern all die Schattierungen dazwischen erfasst. Denn die bürokratische Anerkennung, so hofft Michel Reiter, könnte ein erster Schritt weg von der Pathologisierung und Verstümmelung intersexueller Menschen sein.
Das verordnete Geschlecht
Ein Film von Oliver Tolmein und Bertram Rotermund
Mit Michael Reiter und Elisabeth Müller
62 Minuten, Kinostart: 24.Juli 2003
Deutschland, 2001