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Beitrag vom 05.03.2010
Mira Magén - Die Zeit wird es zeigen
Claire Horst
Breiter gefächert als in ihren früheren Romanen ist die Erzählperspektive im neuen Werk der hoch gelobten israelischen Schriftstellerin. Nicht nur Anna, die 13jährige Hauptfigur, lässt Magén ...
... erzählen, sondern auch ihre Eltern Cheli und Mike, deren junger Angestellter Edisso und ihre Tante Sara kommen zur Sprache.
Anna gehört zu den seltenen Romanfiguren, die man von der ersten Seite an ins Herz schließt. Mit unerschütterlicher Energie trainiert sie ihre dünnen Beinchen, die bei jedem Schritt aneinander schlagen. Dass ihr Gehirn während der Geburt nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt wurde, ist der Grund für ihre Behinderung und auch für ihr Hadern mit Gott. Der Zweifel an Gott oder sogar die feste Überzeugung von seiner Nichtexistenz begleitet alle ProtagonistInnen des Romans, und dennoch spielt er in ihrer Gedankenwelt eine große Rolle.
Annas größter Wunsch ist es, Fahrrad fahren zu lernen - weil ihre Koordination eingeschränkt ist, darf sie das nicht. Als sie eines Tages ein verlassenes Fahrrad findet und mit ihrem fünfjährigen Bruder auf dem Gepäckträger losfährt, geschieht eine Katastrophe: Tom fällt herunter und ins Koma. Anna erzählt niemandem von ihrer Rolle bei dem Unfall und verschließt sich immer mehr in sich selbst. "Die Engel schauten zu und schwiegen. Und wenn einer von ihnen vorlaut wurde und fragte, warum, antwortete Er, wieso warum, nur so, und warnte ihn davor, sich nicht auf das Niveau der Menschen herabzulassen, die für alles einen Grund suchten und ihr kurzes Leben mit Fragen vergeudeten, die ihren Verstand überstiegen."
Aus Annas Augen und aus denen ihrer Angehörigen verfolgen die LeserInnen die nächsten Wochen im Leben der Familie. Sie sind bestimmt von Angst, vom Hadern mit Gott, aber auch von der Auseinandersetzung mit politischen Reizthemen des modernen Israel. Sara, die Tante, ist mit einem tief religiösen Siedler verheiratet und mit ihrem achten Kind schwanger. Annas säkulare Eltern dagegen leben eine offene Beziehung, in der beiden auch Verhältnisse mit anderen erlaubt sind. Der in Äthiopien geborene Edisso, einer der sympathischsten Charaktere des Buches, leidet am allgegenwärtigen Rassismus auch unter Juden und Jüdinnen. "Neger, mehr Brot!", befehlen ihm KundInnen, wenn er im Imbissladen von Annas Eltern bedient. Und so gern diese ihn haben: Sein Tageslohn beträgt so viel wie der Preis einer Flasche Cola im gleichen Laden.
Die Zufälligkeit von Lebenswegen ist eins der zentralen Themen des Romans. Wie die Schwestern Cheli und Sara sich für zwei konträre Modelle entschieden haben und immer wieder vor der Frage stehen, ob ihr Weg der richtige ist, gilt für alle ProtagonistInnen: Sicherheit gibt es nicht. Der Zweifel bleibt. Magén behandelt diese komplexen und existentiellen Fragen in einer poetischen und dennoch glasklaren Sprache. Ihre Figuren sind keine perfekten Menschen, jede und jeder ist mit Fehlern behaftet, und gerade deshalb werden sie zu Identifikationsfiguren.
So unterschiedliche Themen wie die Zerbrechlichkeit der Liebe, soziale Gerechtigkeit in einem Land der Gegensätze, die Bedeutung der Religiosität in einem als "jüdisch" definierten Staat und die Identitätssuche Jugendlicher verschmilzt die Autorin zu einem berührenden Familienporträt. Der Vergleich mit Jonathan Franzens Roman "Die Korrekturen", den Cheli liest, drängt sich auf. Anders als Franzen behält Magén jedoch durchgängig ihren liebevollen Blick auf die Familie bei. Ihre Fehler sind nachvollziehbar, geleitet werden sie immer von der Liebe zueinander - und sind damit vielleicht doch etwas zu rosig gezeichnet.
AVIVA-Tipp: Nicht nur an Israel interessierte oder jüdische LeserInnen werden mit "Die Zeit wird es zeigen" etwas anfangen können. Dennoch ist es eine besondere Leistung des Romans, differenzierte Einblicke in die Lebenswelt von Israelis verschiedener gesellschaftlicher Klassen zu bieten. Die Probleme, mit denen die ProtagonistInnen sich herumschlagen, sind dagegen universell – Magén weist in Figurenzeichnung und Sprache ein großes Einfühlungsvermögen auf.
Zur Autorin: Mira Magén, Anfang der fünfziger Jahre in Kfar Saba (Israel) geboren, blieb der orthodoxen, ostjüdisch geprägten Welt ihrer Kindheit bis heute verbunden, die Stationen ihrer Biographie verraten jedoch eine Revolte: Studium der Psychologie und Soziologie, Ehe und Kinder, alle fünf Jahre ein anderer Beruf - Lehrerin, Sekretärin, Krankenschwester und schließlich Schriftstellerin. Magén zählt neben Zeruya Shalev zu den bedeutendsten Autorinnen ihres Landes. Ihr Werk, das Romane und Erzählungen umfasst, wurde u.a. mit dem Preis des Premierministers 2005 ausgezeichnet. Mira Magén lebt in Jerusalem und hält viel beachtete Poetik-Vorlesungen, derzeit an der Hebräischen Universität Jerusalem. (Verlagsinformationen)
Mira Magén
Die Zeit wird es zeigen
dtv premium, 1. Auflage, Januar 2010
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
400 Seiten
ISBN 978-3-423-24747-4
14,90 Euro
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