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Beitrag vom 01.08.2013
Sigrun Casper (Hrsg.) - Außenseiter
Evelyn Gaida
Bist du "anders"? "Komisch"? "Unzulänglich"? Unhaltbar und hochgefährlich, so wird in diesem Buch offenkundig, sind nicht sogenannte "AußenseiterInnen", sondern die Mechanismen der ..
... Ausgrenzung und Abwertung.
Ein Abenteuer ist bereits das Konzept des Buchs, das auch auf formaler Ebene Freiheit und Vielfalt feiert: Anstelle der erwarteten Sammlung wissenschaftlicher Aufsätze, finden sich Geschichten, Essays, Gedichte, Raps und Bilder, die facettenreiche Ausdrucksstärke genreübergreifend ermöglichen und zulassen.
"Wie definiert sich, was als das Gängige angesehen wird, wie und worin zeigt sich die so genannte Normalität?" Diese und viele andere Fragen stellt das "konkursbuch " 2013 des gleichnamigen, unabhängigen Verlags unter dem Titel "Außenseiter". Der Verlag versteht seinen Namen im Wortsinn von "zusammenlaufen" und versucht in der "konkursbuch"-Reihe, ausgewählte Themen lebensnah und grenzüberschreitend zu beleuchten. Im Vorwort bezeichnet Herausgeberin Sigrun Casper die Verlegerin Claudia Gehrke selbst als "Außenseiterin" im Verlagswesen, vor der sie den imaginären Hut zieht.
Der Begriff "Außenseiter" ist im Grunde undefinierbar, stellt Mitch Cohen in seinem Aufsatz fest: Von variierenden Blickwinkeln aus gesehen, sind entweder alle AußenseiterInnen oder niemand. Dennoch haben auch die konträrsten Gesellschaften eines gemeinsam: Sie definieren bestimmte, vom Gleichmaß oder der Mehrheit abweichende Menschen, als AußenseiterInnen: "Die Klaviatur des Umgehens mit Menschen, die als Außenseiter betrachtet oder offiziell als nicht gesellschaftsfähig erklärt werden, reicht von Naserümpfen, Lächeln, Ignorieren über Mobbing, Diskriminierung und Mord bis zum Völkermord", konstatiert Sigrun Casper.
Die Texte des Bands verbleiben nicht in der sicheren Deckung intellektueller Distanz. Bei aller offensichtlichen Relativität der Norm evozieren sie den vernichtenden Druck, der ungemindert von dieser Norm ausgehen kann, gespeist von der Angst, den fragwürdigen "Maßstäben nicht zu genügen, die Angst, nicht angeschaut zu werden, fallengelassen zu werden, sozial zu verdursten, endgültig zu stranden. In der Kälte, am Rande", so Brigitte Jaschke. Um sich "drinnen" und in Sicherheit zu fühlen, sollen andere oftmals das Draußen darstellen, wie schwarz und weiß, hell und dunkel. Je undifferenzierter desto einfacher und besser.
Über ein Experiment, das vor einiger Zeit mit Vierjährigen ausprobiert wurde und die Kraft des Mainstreams nicht trauriger zum Vorschein bringen könnte, berichtet Harald Martenstein: "In 18 von 24 Versuchen passten sich die Kinder, die es besser hätten wissen müssen, der Mehrheit an. Sie sahen (in einem Buch, Anm. d. Red.) ein Bild ihrer Mutter und sagten, wie alle anderen: `Ich sehe einen Goldhamster.´" Welche Hölle Vereinzelung, Diskriminierung, Schutzlosigkeit und Mobbing bedeuten, machen viele weitere Beiträge des Buchs spürbar. Es sind krisengeschüttelte Texte, inspirierend in der stilistischen Freiheit und Eindringlichkeit, häufig mit offenem oder andeutendem Ausgang. Sie atmen jene Verlassenheit, die ohne Echo im leeren Raum verhallt. Dieses Buch lässt die Herzfrequenz ansteigen oder gefrieren, denn hier ist tatsächlich nichts sicher. Paradiesvögel, Phobiker, Kranke, Einsame, gemobbte SchülerInnen, eine Amokläuferin, ein türkischer Junge, der seine Schwester umbringen soll, eine ausgegrenzte Migrantin, Homosexuelle und Lesben, ein flüchtiger Bankräuber und viele mehr sind verbunden durch Krise, Verunsicherung, Preisgabe oder Schmähung.
AVIVA-Tipp: Nichts für schwache Gemüter. Dennoch und gerade deshalb ist "Außenseiter" kein Ängste schürendes Buch, sondern mutig und ermutigend. Es begleitet diejenigen, die draußen bleiben, nicht gesehen und gehört werden sollen. Unübersehbar machen sie das um jeden Preis Verhüllte, Verborgene schlechthin: Die Ungerechtigkeit und Unwahrheit, die hinter Diskriminierung und Ausgrenzung stehen, wo immer sie passieren. Der Mainstream kann gewaltig, diffamierend, aggressiv sein – das gibt ihm nicht Recht.
Zur Herausgeberin: Sigrun Casper, geboren 1939 in Kleinmachnow, Industrienäherin, Stoffmusterentwerferin, Lehrerin, Fotografiererin, Autorin verschiedener Bücher, u.a. "Handschrift eines Mordes", "SUMSILAIZOS", "Ost-West-Geschichten", "Männergeschichten" und kleiner Gedichtbücher. Sie lebt in Berlin. (Quelle: konkursbuch Verlag Claudia Gehrke)
Sigrun Casper (Hrsg.)
Außenseiter
konkursbuch 51
konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, erschienen im März 2013
Taschenbuch, 288 Seiten, viele Bilder
ISBN 978-3-88769-251-3
15,50 Euro, im Abo 12,00 Euro
Weitere Informationen unter:
www.konkursbuch.com
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