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Beitrag vom 09.07.2013
Franziska Seyboldt - Müslimädchen. Mein Trauma vom gesunden Leben
Britta Rotsch
Aufgewachsen in einer Ökofamilie der 1990er Jahre, jenseits von Fernsehen, Fast Food und Markenkleidung, wirft die heutige Taz-Redakteurin und ehemalige Kolumnistin einen Blick zurück auf ihre...
... birchermüslihaltige Kindheit. Im Studium angekommen, will sie nun endlich den "Konsumspaß" ausleben, nach dem sie sich in ihrer Jugend immer so sehnte. Doch ihr Timing ist schlecht und schnell wird ihr klar: ein ungesunder Lebensstil ist mittlerweile out.
Bio ist nun schick und schon bewegt sich die Studentin erneut in die Rolle der "Außenseiterin", in der sie sich fragt, ob das gesundheitsbewusste Verhalten ihrer Mitmenschen tatsächlich politisch korrekt ist, oder mehr Schein als Sein und einfach nur spießig.
Franziska Seyboldt geht in ihrem autobiographischen Roman, in dem immer wieder der Wunsch deutlich wird, ein "Schlüsselkind" zu sein, diesen Fragen nach. Erstmals festgehalten hat sie in "Müslimädchen" die prägendsten Erlebnisse aus ihrer "tausche-Pausenbrot-gegen-Schokocroissant-Ökokindheit":
"In meiner Vorstellung machten Schlüsselkinder ihre Hausaufgaben vor dem Fernseher, während der Disney Club lief. Abends fuhren sie mit ihren Eltern zu Aldi, um Stracciatella-Joghurt und Eistee in riesigen Mengen zu kaufen".
Nicht aber sie.
"Ökos trugen selbstgestrickte Pullis, Birkenstock-Sandalen und Jutetaschen, aus denen verschrumpelte Möhren herausragten. Sie machten Urlaub auf dem Campingplatz, lebten nach der Lehre von Rudolf Steiner und schickten ihre Kinder auf die Waldorfschule. Das war zumindest das Klischee."
Erneut wird ihr die Außenseiterinnenrolle bewusst: wenn in der Grundschule alle über das aktuelle Fernsehprogramm sprechen und Franziska nur die Tagesschau und die Sendung mit der Maus kennt, während die anderen bereits von Brenda aus Beverly Hills 90210 schwärmen. Wenn ihr jahrelang eingeschärft wird, dass Fast Food böse ist und McDonald`s der Teufel, mensch jedoch FreundInnen nicht ins Reformhaus einladen kann, um dazuzugehören. Wenn die aktuelle Markenmode verwehrt wird, weil Buffalo-Schuhe und Levis zu teuer sind, ihr die Eltern aber den grandiosen Vorschlag machen, ihr Taschengeld zu sparen und sich die ersehnten Klamotten in einem Jahr zu kaufen, kann sich Franziska nur noch über die ökologische Korrektheit auslassen:
"Vollkornärsche. Ein Jahr! Das sind, in Teenagerzeit gerechnet, mindestens fünf."
Was das in den 1990ern bedeutet?
"Außenseiterin von Geburt an. Ich hatte nichts. Nur Eltern, die anders waren, als der Rest. Wo war ich da nur gelandet?"
Dass Franziska ihre Eltern überzeugen kann, nicht auf die Waldorfschule zu gehen, macht die Sache nicht wirklich besser, denn durch ihr "Anderssein" fällt sie auf der staatlichen Schule noch mehr auf. So wird ihr immer wieder vor Augen geführt, was es bedeutet, wenn Eltern aus der akademischen Mittelschicht Wert darauf legen, jeglichen kommerziellen Spaß von ihren Kindern fernzuhalten: mit Barbiepuppen zu spielen ist genauso tabu wie mit Spielsachen die rosa sind und leuchten können.
Auch von "Bösem", wie Scheidungen, Pornos und Killerspielen wird Abstand genommen, genau wie von dem zur "Droge" erklärten Aspirin. Bei Franziskas Ökos werden nämlich nur alternative Heilmethoden angewandt. Als sie krank ist und unbedingt in die Tanzschule gehen will, hilft ihr Tanzpartner mit einer Packung Grippostad aus. "Was ist da drin?", fragt Franziska. "Schmerzmittel, Koffein und Vitamin C" erhält sie zur Antwort. Das hört sich gut an. Sie schluckt drei Tabletten und eine halbe Stunde später ist sie wieder gesund. "Nur gute Menschen können solche Wunderdinge erfinden, so viel war klar."
Schon deshalb will Franziska auf gar keinen Fall so werden wie ihre Eltern. "Wenn die alles richtig gemacht hatten, dann machte ich jetzt eben alles falsch", denkt sie sich in ihrer Studienzeit. Doch dann bemerkt sie, dass Öko kein Schimpfwort mehr ist sondern ein neuer, angesagter Lifestyle. Die in Baden-Württemberg aufgewachsene Autorin erinnert sich auch an die Geschichte des Fernsehkochs Tim Mälzer, der mal gesagt hat, "wenn ich im Supermarkt mit einer Pizza an der Kasse stehe, ist das so, als wenn andere mit einem Schmuddelheft am Bahnhofskiosk erwischt werden". Weil im Kühlschrank von Franziska nur Sekt und Ketchup zu finden ist, fühlt sie sich unter dem Kochzwang, ständig gesund und selbst zu kochen, von ihren FreundInnen in die Enge getrieben. "Ich war nicht mal Fernsehkoch, aber trotzdem in der sozialen Schmuddelecke meines Freundeskreises".
Wie schon Jonathan Safran Foer mit "Tiere essen" und Andrea Heistinger und Daniela Ingruber in "Esskulturen. Gutes Essen in Zeiten mobiler Zutaten" veröffentlicht nun auch Seyboldt ihre Erfahrungen zum Thema "Lebenswandel und Essverhalten" und nimmt Bezug zur "Ökodiktatur" in Berlin. Doch was steckt hinter der neuen "Bionade-Boheme" und der Wende vom uncoolen Öko zum hippen Biomenschen? Die Autorin versucht die Umkehrung der Generationen nachzuvollziehen und Antworten auf das ihrer Meinung nach spießige Ökoleben ihrer Mitmenschen zu finden.
Am Ende bekommt die traumatisierte Studentin dann auch eine Antwort - vom Müslimann.
AVIVA-Tipp: "Müslimädchen. Mein Trauma vom gesunden Leben" führt die LeserInnen zurück in das Lebensgefühl der 1990er Jahre, als Bio noch nicht Mainstream war und seine VerfechterInnen als exotische SpinnerInnen galten.
Die ehemalige TAZ-Kolumnistin lässt uns teilhaben an ihrer traumatisierenden Ökokindheit, denn sie weiß schließlich, was es heißt, 100 % ökologisch korrekt aufzuwachsen. Warum und wann sich political correctness nachhaltig auch bei ihren gleichaltrigen FreundInnen verinnerlicht hat und ob Franziska Fast Food und Tiefkühlpizza im Bioladen an der Ecke kauft, können die LeserInnen im auf "Papier aus verantwortungsvollen Quellen" gedruckten Buch oder im E-Book nachlesen.
Zur Autorin: Franziska Seyboldt wurde 1984 in Baden-Württemberg geboren. Sie studierte in Hamburg Modejournalismus/Medienkommunikation, lebt und arbeitet seit 2008 als Redakteurin bei taz.de in Berlin, wo sie für Gesellschafts- und Kulturthemen zuständig ist. Ihre Kolumne LUSTOBJEKTE erschien knapp drei Jahre lang in der Wochenendausgabe der taz. Zudem twittert Seyboldt unter @mareiwilltanzen.
Mehr Infos unter: www.franziskaseyboldt.de
Franziska Seyboldt
Müslimädchen. Mein Trauma vom gesunden Leben
Lübbe Verlag, erschienen 19. April 2013
Taschenbuch, 192 Seiten
12,99 Euro
www.luebbe.de
Diesen Titel können Sie online bestellen bei FEMBooks
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