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Beitrag vom 05.09.2015
David Foenkinos – Charlotte
Sharon Adler
Acht Jahre lang arbeitete der Schriftsteller an seinem Buch über Charlotte Salomon, die Ausnahmekünstlerin, die 1917 in Berlin geboren und 1943 in Auschwitz ermordet wurde. "Leben? Oder Theater?"...
..., ihr 1300 Gouachen umfassendes Werk, ist persönliches Tagebuch und Spiegel ihres kurzen, intensiven Lebens vor dem Hintergrund persönlicher Tragödien und der Verfolgung durch die Nazis. Gleichzeitig erzählt es von der Liebe zur Kunst und von dem Glauben an die Liebe.
Entstanden ist ihr Lebenswerk im Exil in Südfrankreich, wohin die 23jährige Charlotte Salomon geflüchtet war. Rückblickend verarbeitete sie die traumatischen Erfahrungen ihrer Familiengeschichte, der Ausgrenzung als jüdisches Mädchen und junge Frau vor dem aufkommenden Nationalsozialismus im Berlin der 1920er Jahre. Ihre Einsamkeit nach dem Tod ihrer Mutter wird spürbar greifbar.
Dann beginnt eine Zeit, in denen das kulturelle Leben bei den Salomons wieder Einzug hält. Die Familie ist befreundet mit Persönlichkeiten wie Albert Einstein, Erich Mendelsohn, Albert Schweitzer. Die Stiefmutter, Paula Lindberg-Levi, eine berühmte Sängerin, fördert sie, erkennt ihr Talent und die einzelgängerische, verträumte Charlotte fühlt sich frei, in ihren Bildern ihre Gefühle zu zeigen, ihr Inneres sichtbar zu machen.
Den Hauptteil des ebenso kreativen wie eindringlichen Werkes widmet sie ihrer Liebe zum Gesangspädagogen Alfred Wolfsohn und in einem Nachwort beschreibt sie ihre Zeit im Exil in Südfrankreich zwischen 1939 und 1942. Die anfangs noch detailgenauen Gouachen werden fahriger, nervöser, ungenauer. Die drohende Deportation, die ständige Bedrohung ist für die Betrachter_innen in jedem Pinselstrich sichtbar.
Charakteristisch für Salomons Arbeiten ist zum Einen der farbenprächtige Stil, der inspiriert ist von zeitgenössischer Kunst, aber etwas Eigenes und Einzigartiges darstellt. Ein weiteres Merkmal der Arbeitsweise Charlotte Salomons ist die szenische Anordnung verschiedener Szenen in einer Darstellung, die an ein Storyboard für einen Film erinnert. Dabei bedient sie sich mutig verschiedenster Perspektiven, wechselt von der Totale zum Detail.
Niemand, die/der ihre Arbeiten gesehen hat, kann sie je vergessen.
"Das ist mein ganzes Leben" – mit diesen Worten übergibt Charlotte 1942 einem Vertrauten einen Koffer voller Bilder.
Im Jahr 2006 sah der französische Bestsellerautor die Ausstellung "Charlotte Salomon. Vie ? ou Théâtre ?" im Musée d´Art et d´Histoire du Judaisme in Paris und war tief bewegt von den expressiven Arbeiten. Die Geschichte der Künstlerin aber war es, die ihn mehr als alles andere anrührte: "Liebe auf den ersten Blick".
Behutsam nähert sich David Foenkinos ihrer Geschichte und ihrem Werk an und wird damit selbst immer mehr zu einem Vertrauten, der durch eine besondere lyrische Form ein eigenes Kunstwerk schafft und damit Charlotte Salomon ein Denkmal setzt.
Seine Wahl, jeden Satz in einer neuen Zeile beginnen zu lassen, begründet Foenkinos mit dem Bedürfnis, beim Erzählen "innezuhalten, Atem zu holen". Foenkinos ist nicht mehr nur Autor oder Kommentator, vielmehr wird er eins mit seinem Roman über Charlotte. So erzählt er von Erlebnissen und Begegnungen während seiner jahrelangen Recherchen und nähert sich auch dadurch der künstlerischen Form Charlottes an. Wo Charlotte mit Pinsel und Farbe ihr Leben und Erleben festgehalten hat, ist es bei Foenkinos das Wort, der Text.
Kurz nach Erscheinen führt sein Buch "Charlotte" die Top Ten der französischen Bestsellerliste an, erhält den renommierten Prix Renaudot und den Prix Goncourt des lycéens und verkaufte sich mittlerweile eine halbe Million. Noch dieses Jahr werden in Südfrankreich Plaketten angebracht an Orten, an denen sie lebte – in Gegenwart von Foenkinos. Sein Wunsch ist es, dass noch viele Menschen ihre einzigartige Geschichte kennen lernen. Dass Charlotte Salomon nicht vergessen ist, beweist sowohl der Autor mit seinem aktuellen Werk als auch eine Fülle von Material, das in der Vergangenheit veröffentlicht wurde: Ausstellungen, wie vom 11.7.2015 bis 18.10.2015 im Rupertinum, Museum der Moderne Salzburg, das Gedenken an Charlotte Salomon in Yad Vashem oder Filme wie "Life? Or Theatre?" von Frans Weisz (2012) und zuletzt der Dokumentarfilm "Death and the Maiden" von Yael Loten, Israel (2014).
Im Rahmen des AVIVA-Recherche- und Dialogprojekts "Lokale Geschichte_n" haben sich die beiden Berliner Schülerinnen Rachel Betteridge und Juana Wenning für ihren Beitrag "Charlotte Salomon – Eine Künstlerin zu Zeiten des Holocausts" auf die Spuren der Künstlerin begeben.
Charlotte Salomon wurde kurz nach ihrer Deportation in Auschwitz ermordet, vermutlich am 12. Oktober 1943. Sie war 26 Jahre alt und im fünften Monat schwanger.
AVIVA-Tipp: Seine sehr persönliche Verbundenheit und Achtung vor der begnadeten Künstlerin offenbart David Foenkinos in jeder Zeile seines Buches "Charlotte".
Allen, die sich näher mit dem reichhaltigen Werk Charlotte Salomons beschäftigen wollen, empfehlen wir neben der Lektüre des Buches auch das Absurfen der AVIVA-Berlin-Linkliste am Ende dieses Beitrags.
Zum Autor: David Foenkinos, 1974 geboren, lebt als Schriftsteller und Drehbuchautor in Paris. Seit 2002 veröffentlicht er Romane, darunter den Millionenbestseller "Nathalie küsst", der von Foenkinos selbst (zusammen mit seinem Bruder Stéphane) mit Audrey Tautou und François Damiens in den Hauptrollen verfilmt wurde. Seine Bücher werden in rund vierzig Sprachen übersetzt. Sein neuer Roman, "Charlotte", wurde 2014 mit dem Prix Renaudot und dem Prix Goncourt des lycéens ausgezeichnet und hat sich allein in Frankreich rund eine halbe Million Mal verkauft.
"David Foenkinos nähert sich Charlotte Salomon, als sei sie seine Schwester, seine Mutter, oder gar seine Geliebte." Le Point
David Foenkinos
Charlotte
Originaltitel: Charlotte
Originalverlag: Editions Gallimard
Aus dem Französischen von Christian Kolb
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 240 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-421-04708-3
€ 17,99 [D] | € 18,50 [A] | CHF 24,50 * (* empf. VK-Preis)
Verlag: DVA Belletristik, erschienen 31. August 2015
www.randomhouse.de
David Foenkinos über "Charlotte":
Eine Liebe auf den ersten Blick
Ungekürzte Lesung
Gelesen von Devid Striesow
4 Audio-CDs, Laufzeit: 297 Minuten
ISBN: 978-3-8445-1920-4
€ 17,99 [D] * | € 20,20 [A] * | CHF 25,50 * (* empf. VK-Preis)
Verlag: der Hörverlag, erschienen 31. August 2015
www.randomhouse.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Charlotte Salomon – Eine Künstlerin zu Zeiten des Holocausts. Ein Beitrag des AVIVA-Recherche- und Dialogprojekts "Lokale Geschichte_n" von Rachel Betteridge und Juana Wenning.
Weitere Informationen über Charlotte Salomon unter:
Jewish Womens´ Archive
Jüdisches Museum Berlin
Gedenken an Charlotte Salomon in Yad Vashem
Der Nachlass von Charlotte Salomon befindet sich im Joods Historisch Museum Amsterdam, Charlotte Salomon Foundation
www.kunstaspekte.de/charlotte-salomon/
FemBio Frauen-Biographieforschung e.V.
Werke von Charlotte Salomon
Ein Tagebuch in Bildern 1917–1943. Vorwort von Paul Tillich. Einleitung von Emil Straus. Rowohlt, Reinbek 1963
Leben oder Theater? Ein autobiographisches Singspiel in 769 Bildern. Mit einer Einleitung von Judith Herzberg. Kiepenheuer und Witsch, Köln 1981
Bücher über Charlotte Salomon
Mary Felstiner: To Paint Her Life: Charlotte Salomon in the Nazi Era. New York: 1994, Berkeley: 1997
Christine Fischer-Defoy (Hrsg.): Charlotte Salomon. Leben oder Theater. Das Lebensbild einer jüdischen Malerin aus Berlin 1917–1943. Arsenal, Berlin 1986
Hildegard Reinhardt: Charlotte Salomon. Malerin. In: Jutta Duck & Marina Sassenberg (Hrsg): Jüdische Frauen im 19. und 20 Jahrhundert. Lexikon zu Leben und Werk. Rowohlt, Reinbek 1993
Astrid Schmetterling: Charlotte Salomon. 1917–1943. Bilder eines Lebens. Jüdischer Verlag im Suhrkamp-Verlag, Frankfurt 2001
Georg Stefan Troller: Charlotte Salomon. S. 243 in Ihr Unvergeßlichen. 22 starke Begegnungen. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2006
Edward van Voolen (Hrsg.): Charlotte Salomon. Leben? Oder Theater? Prestel, München [u.a.] 2004
Filme über Charlotte Salomon
Frans Weisz, Judith Herzberg (1984): Charlotte. Originaltitel: Based on the life and work of Charlotte Salomon, BRD. Spielfilm, 95 min.
Frans Weisz (2012): Life? Or Theatre? www.youtube.com
Yael Loten: Death and the Maiden, Israel 2014 (Dokumentarfilm)
Richard Dindo, Esther Hoffenberg (1992): C´est toute ma vie
Rainer Hagen, Hannelore Schäfer (1987): "Heben Sie es gut auf, es ist mein Leben". Das Album der Charlotte Salomon. TV-Videoaufnahme. Hamburg: NDR (Die eigene Geschichte).
Quellen: Randomhouse, AVIVA-Berlin